Turan Ugur
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>>Kapitel 1: Erinnerungen
Vor 20 Jahren...
Es war der vierzehnte Juni 1989 als ich mit meiner Familie nach Portez zog.
Es war ein heißer Sommer.
Die Sommer in Portez waren immer heiß.
Tagelang regnete es nicht.
Hitzewellen waren keine Seltenheit.
Die Blumen blühten wie noch nie zuvor und die Natur zeigte seine Vielfalt.
Portez war eine Kleinstadt im Süden Kaliforniens.
Ich war gerade erst siebzehn Jahre alt geworden.
Ich hatte einen jüngeren Bruder.
Joe, so hieß er.
Er war mit seinen zwölf Jahren der ganze Stolz seines Vaters.
Nach der Schule half Joe seinem Vater meistens bei der Arbeit.
Brad war Landwirt und kaufte ein Stück Land in Portez, weswegen wir herzogen.
Ich mochte das Land nicht.
Wir lebten in einem Dorf, wo scheinbar jeder jeden kannte.
Wie primitiv dieser Ort doch war.
Meine Eltern schienen nichts dagegen zu haben, dass sie von nun an hier lebten.
Ganz im Gegenteil.
Sie sind selbst in einem Dorf aufgewachsen.
Als sie sich kennenlernten, zogen sie in die Großstadt.
Ich wusste nie wirklich, warum meine Mutter sich für Brad entschied.
Brad war mein Vater.
Wir hatten jedoch kein gutes Verhältnis zueinander.
Meine Mutter erzählte mir mal von Ken.
Bevor meine Mutter mit Brad geheiratet hat,
musste sie eine Entscheidung treffen.
Sie musste sich zwischen Ken und Brad entscheiden.
Denn beide waren in Ingrid verliebt.
Und meine Mutter Ingrid war in Ken verliebt!
Und Brad! Leider…
Ingrid war achtzehn als ihre Eltern endlich wollten,
dass sie sich verheiratet.
Für sie war das kein Problem.
Immerhin hatte sie sogar eine Wahl.
Sie hatte sozusagen das große Glück von zwei Männern
gleichzeitig geliebt zu werden.
Ken soll ein junger hübscher und sehr intelligenter Mann gewesen sein.
Und Brad …
Na ja, der war nur dick.
Und von einer möglichen Intelligenz kann man auch nicht sprechen, deshalb ist er wohl Landwirt geworden.
Das war das einzige, was er konnte.
Hätte sich meine Mutter für Ken entschieden, dann hätte
ich jetzt einen tollen Vater.
Er würde mir zu meinen siebzehnten Geburtstag sicherlich ein echtes Ölgemälde von Picasso schenken.
Brad würde das nicht tun.
Er fand, dass Kunst nur was für Mädchen ist.
…
Wir lebten inzwischen eine Woche in Portez.
Meine Mutter verlangte an diesem Abend, dass ich dieses Mal mit Dog ausgehe.
Ich fand das natürlich nicht toll.
Ich hasste Dog.
Nur leider hatte ich keine andere Wahl, als das zu tun, was meine Mutter mir sagte.
Wenn ich es nicht täte, würde ich von meinem Vater verprügelt werden.
Das war ja zu meiner Zeit nichts Besonderes.
Eigentlich konnte es mir ja egal sein, ob ich mich nun
um Dog kümmere oder nicht.
Brad fand immer einen Grund mich zu verprügeln.
Ich hatte oft blaue Flecken an meinem gesamten Körper.
„Dog, sei still. Es ist schon spät. Du willst die Nachbarn doch nicht wecken!“
Ich fand Dörfer schon immer zum kotzen.
Ich begriff einfach nicht, was an Dörfern so toll sein sollte.
Ich werde diesen Tag niemals vergessen.
Nicht, weil ich mich mal wieder darüber aufgeregt hatte,
dass ich nun in einem Dorf lebte.
Nein!
Sondern, weil dieser Tag etwas in meinem Leben veränderte,
denn am 21. Juni 1989 hatte ich vor mein Leben zu beenden.
Ich war mit meinem Rundgang schon fast fertig und stand
nun vor einer Klippe.
Man konnte das Meer von hier aus erkennen.
Ich fand das Meer wunderschön.
Das Meer trägt viele Geheimnisse mit sich.
Ich glaubte, das Meer habe viel mehr Geheimnisse
als ein ganz gewöhnlicher Mensch.
Aber haben Menschen nicht viel mehr Geheimnisse
als das große weite Meer?
Jeder Mensch verbirgt sein wahres Gesicht unauffällig
hinter seinem Gesicht.
Stille Wasser sind tief, sagt man.
Aber ich wollte mich gar nicht mehr damit auseinander
setzen, was für Geheimnisse das Meer nun trägt oder
was ein ganz gewöhnlicher Bauer in Wirklichkeit ist.
Ich dachte, dass es ein schöner Ort zum Sterben wäre.
Das war alles.
Was für einen Sinn hätte mein Leben denn, wenn ich es nicht täte?
Was für einen Sinn hätte mein Leben, wenn ich mein Leben nicht nahm?
Es war ein schöner Ort zum Gehen.
Diese Menschen, die in diesen Dorf lebten, waren alle eigenartig.
Sie verhielten sich anders als die Menschen in der Stadt.
Ich glaubte, dass sie alle Geheimnisse mit sich trugen.
Wahrscheinlich wirke ich von außen hin genau so geheimnisvoll auf sie, wie sie auf mich.
Ich wollte einfach nur sterben.
Ich wollte an nichts mehr denken.
An gar nichts. Nicht an die Menschen. Nicht an mich.
Das war der einzige Ausweg, den ich damals kannte.
Ich lief immer vor allem weg.
Ich wusste einfach nicht anders mit meinen Problemen umzugehen.
Heute glaube ich, dass es kein Ausweg für mich gewesen wäre zu sterben.
Ich glaube es war eine Art Fluchtweg für mich.
Ich wollte flüchten.
Weit weg von meiner Familie.
Ich wollte einfach nur weg.
Von allem.
Ich fühlte mich verlassen.
Niemand verstand mich.
Und niemand konnte mich verstehen.
Ich war anders.
Ich war genau so anders, wie die Menschen, die in diesem Dorf lebten.
Also wollte ich endlich gehen.
Ich ließ die Leine von Dog los und ging näher an die Klippe.
Jetzt konnte ich das Meer von oben betrachten.
Wenn ich mich jetzt fallen lassen würde, dann würde ich befreit sein.
Ich würde von all meinem Leid befreit sein.
Ich wäre einfach frei.
Jeder Mensch wünscht sich frei zu sein.
Ich dachte mir, wieso darf ich mir diesen Wunsch nicht einfach erfüllen?
Ich wusste, dass ich gleich sterben würde.
Ich sah meinen Tod vor Augen.
Aber dann fiel mir etwas auf.
Etwas, was mir das Leben gerettet hat.
Dieser eine Gedanke.
Er hielt mich am Leben.
Wenn ich doch keinen Sinn in meinem Leben hatte?
Wenn ich nichts hatte, das mich am Leben erhalten konnte?
Wieso habe ich nicht danach gesucht?
Wieso habe ich nicht versucht, den Sinn meines Lebens zu finden?
Ich war verzweifelt.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich hatte Angst.
Ich sah das Meer.
Wie schön es doch war.
Also beschloss ich nach meinem Sinn zu suchen.
Ich ging vorsichtig zurück.
Zurück auf die Landstraße.
Dog hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt.
Ich war auf dem Weg nach Hause, als ich bemerkte, wie schön das Land sein konnte.
Wie schön man von hier aus die Sterne beobachten konnte.
Und dann erkannte ich zum Ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutet, auf sich allein gestellt zu sein.
Eigentlich war ich schon mein Leben lang einsam.
Ich musste immer selbst mit meinen Problemen fertig werden.
Die Ironie daran ist, ich habe mich meinen Problemen nie gestellt.
Ich dachte einfach, dass es besser wäre nichts zu tun.
Mit niemandem über mich zu reden.
Ich war unwichtig.
Für mich selbst und für die Menschen, die mich kannten.
Ich hatte nie einen Freund, den ich mich anvertrauen konnte.
Und meine Familie.
Sie kannten mich gar nicht.
Sie hörten mir nie zu.
Sie wollte mir gar nicht zuhören.
Brad wollte nur, dass ich ihm gehorche.
Aber jetzt war etwas anders.
Ich verstand endlich, dass wenn man niemanden hatte,
dass man sich selbst darum kümmern musste.
Ich wollte dazugehören.
Ich musste mich anpassen.
Ich akzeptierte meine Lebenslage.
Ich war so, wie ich war.
Ich war gerade zu Hause angekommen und zog meine Sandalen aus.
Brad meckerte mal wieder, warum es denn so lange gedauert hat.
Als würde er mich vermissen, wenn ich früher Heim gekommen wäre.
Als würde mich irgendjemand in diesen vier Wänden vermissen.
Als würde sich auch nur jemand fragen, wie es mir ging und wie ich mit dieser neuen Situation umgehe.
Niemand tat es.
Niemand sorgte sich um mich.
Und dann.
Dann wurde mir eins klar.
Ich hasste die Menschen.
Ich hasste Brad.
Aber wieso eigentlich?
War ich einfach nur eifersüchtig auf Joe?
Fühlte ich mich ungeliebt?
Ich weiß es nicht mehr.
Ich verstand mich selbst nicht mehr.
Nur wie konnte ich von denen erwarten, dass sie mich verstanden, wenn ich mich selbst nicht verstand?
Ich wusste nicht, wer ich war.
Keiner hätte mir sagen können, wer ich war.
Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
Ich wollte also nach dem Sinn meines Lebens suchen.
Ich wusste aber nicht wie.
Wie sollte ich vorgehen?
Was muss ein Mensch tun, um sich selbst zu finden?
Ich wusste es nicht.
Ich konnte nichts auf der Welt einen Sinn zuordnen.
Ist Religion etwa der Sinn des Lebens?
Sind wir dazu geboren, für Gott zu beten?
Ich gab jedem die Schuld für etwas.
Jeder war verantwortlich für meine Fehler.
Ich tat mir selbst leid.
Ich wusste nie, warum mir keiner zuhörte.
Aber dann, wusste ich es plötzlich
Wie sollte mir denn jemand zuhören, wenn ich nicht über meine Probleme sprach?
Ich hatte also noch Hoffnung.
Vielleicht würden sie mich verstehen.
Vielleicht liebten die Leute mich doch.
Am nächsten Morgen versuchte ich mit Brad zu sprechen.
Ich versuchte mich ihm zu öffnen.
Auch wenn es mir schwer fiel.
Ich konnte ihm aber nicht alles erzählen.
Nicht von diesem Problem.
Wenn er davon erfahren würde, dann würde er mich verprügeln.
So, wie er es immer tat.
Nur dieses Mal wäre etwas anders als sonst.
Er hätte Recht gehabt.
Ich hätte es verdient, verprügelt zu werden.
Dafür hätte er kein Verständnis.
Noch nicht einmal ich selbst, hatte Verständnis dafür.
Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
Ich erzählte Brad, dass ich mich hier nicht wohl fühlte.
Ich sagte ihm, dass ich hier im Dorf niemanden kannte mit dem ich über meine Gefühle sprechen konnte.
„Dad, können wir uns kurz unterhalten?“
Allein schon dieser Satz fiel mir schwer.
„Was ist denn?“, fragte er mich.
Er war selbst erstaunt.
Er machte einen rätselhaften Ausruck.
Ich glaube, er war einfach neugierig.
Wir hatten noch nie ein Vater-Sohn Gespräch geführt.
Er war neugierig darauf, was ich ihm erzählen wollte.
„Na ja, ich wollte dir sagen, dass ich mich hier nicht wohl fühl.
Es ist alles so monoton.
Das ganze Dorfleben hier meine ich. Die Menschen.“
Ich wusste selbst nicht, warum ich das tat.
Warum ich ihm das anvertraute.
Was sollte er denn jetzt auch großartig tun?
Ich fühlte mich auch in der Stadt nicht wohl.
Ich hatte kein zu Hause.
Meine Klassenkameraden in meiner Schule mobbten mich.
Ich war ein Außenseiter.
Sowohl in der Schule als auch zu Hause.
Ich stand jeden Morgen auf und hatte Angst.
Ich hatte Angst davor, in die Schule zu gehen.
Keiner wollte mich.
Noch nicht einmal die Lehrer gingen auf mich ein.
Und wenn die Schule vorbei war, hatte ich Angst nach Hause zu gehen.
Ich hatte Angst, dass mein Vater mich wieder verprügelt.
Joe hatte es gut.
Mein Vater liebte ihn.
Wenn Ken mein Vater gewesen wäre, dann wäre alles anders gewesen.
Er würde sich um mich kümmern.
Er würde mich verwöhnen.
Und Joe würde dann in meiner Lage sein.
Mein Vater reagierte nicht darauf.
Ich erzählte meinem Vater also von meinem Anliegen, aber er interessierte sich nicht dafür.
Er interessierte sich nur für Joe.
Er war sein Stolz.
Dabei war er erst zwölf.
Wieso Joe?
Was hatte er, was ich nicht hatte?
Ich wollte gerade gehen, als mein Vater anfing zu lachen.
Er lachte mich aus, weil ich mich wie ein Mädchen benahm.
Er sagte nur, dass ein Mann keine Gefühle haben darf.
Ich wollte einfach nur weg.
Ich drehte mich um und wollte raus.
Weit weg.
Weit weg von Brad.
Weit weg von allem.
Ich dachte, dass es mein Fehler war.
Ich dachte, dass es richtig wäre über meine Probleme zu sprechen, aber das war es nicht.
Keine Sekunde verging als Brad mich schlug.
Ich fiel zu Boden.
Ich weinte.
Das gab ihm einen weiteren Anlass mich zu verprügeln.
Er trat weiter auf mich ein.
Er war wütend, warum ich ihm den Rücken kehre.
Er hätte nur das Recht, das Gespräch zu beenden.
Ich war verzweifelt.
Also war es doch falsch.
Also bin ich doch nicht schuldig.
Ich hätte richtig gehandelt, wenn ich nicht mit ihm sprechen würde.
Ich fühlte mich klein.
Wertlos.
Ja, denn das war ich auch.
Ich war wertlos.
Wertlos in Brads Augen.
Einfach nur wertlos.
Ich sollte auf mein Zimmer.
Ich tat es.
Ich tat genau das, was er wollte.
Ich wollte nicht mehr verprügelt werden.
Ich habe eben Gefühle.
Ich kann nichts dafür.
Ich bin eben anders.
Die Männer auf dem Land – Hatten sie etwa keine Gefühle?
Sind es nur Frauen, die fühlen können?
Sind es wirklich nur Frauen, die lieben können und Mitleid haben können?
Ich wusste es nicht.
Aber ich kannte keinen Mann, der Gefühle hatte.
Am wenigsten Brad.
Es war bereits Mittag als ich mich endlich beruhigt hatte.
Ich ging ins Bad, um meine Wunder zu versorgen.
Ich zog mich aus.
Ich wollte baden.
Alleine.
Ganz allein.
Wie schön wäre es, wenn noch jemand hier wäre.
Wenn ich nicht allein wäre.
Das war ein Traum von mir.
Nicht alleine zu baden.
Ich ließ das warme Wasser ins Bad einlaufen.
Nach zehn Minuten legte ich mich hinein.
Ich fühlte mich frei.
Keiner war zu Hause.
Mein Vater war mit Joe arbeiten und meine Mutter war in der nächstliegenden Stadt einkaufen.
Von nun wird es öfter so sein, dass ich alleine bin.
Das Gefühl war schön.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn mich jemand kraulen würde.
Wenn jemand meinen Hoden kraulen würde.
Diese Vorstellung war so real.
Mein Penis wurde steif.
Ich onanierte.
Es dauerte eine Weile bis ich zum Höhepunkt kam.
Aber dann.
Als es endlich so weit war.
Ich fühlte mich frei.
Das war ein unbeschreibliches Gefühl.
Als ich fertig war, stieg ich aus dem Bad.
Ich zog meinen Bademantel über und ging in mein Zimmer.
Ich war in meinem Zimmer als ich in das zerschlagene Spiegel schaute.
Mein Vater schlug mich mit meinem Kopf dagegen.
Ich schaute in den Spiegel.
Ich sah mich an.
Wie erniedrigend ich ausschaute.
Wie erbärmlich ich wirkte.
Ich fühlte mich hässlich und mitgenommen.
Mein Leben hatte keinen Sinn.
Ich wollte ihn finden.
Den Sinn des Lebens.
Aber wo?
Bestimmt nicht zu Hause.
Also zog ich mich rasch an und ging aus dem Haus.
Das tat gut.
Das erste Mal hatte ich nichts gegen die Hitze, die hier auf dem Land herrschte.
Sie war gewöhnungsbedürftig.
Ich ging die Landstraße entlang und sah ein paar Jugendliche.
Sie waren ungefähr in meinem Alter.
Sie spielten Fußball.
Ich wollte schon immer mal mit Freunden Fußball spielen.
Manchmal spielte ich alleine in meinem Zimmer.
Ich borgte mir den Ball von Joe aus.
Mein Vater wollte nicht, dass ich spiele.
Nur Joe durfte.
Er hätte wohl ein Talent dafür.
Ich durfte Joe nicht stören, wenn er Fußball spielte.
Die Jungs waren zu viert.
Einer von denen hatte blaue Schuhe an.
Die Schuhe waren völlig zerfetzt.
Er tat mir leid.
Ich wollte wissen, wie er heißt.
Damals wusste ich noch nicht, dass mich dieses Ereignis verändern wird.
Ich wusste nicht, dass es jemanden geben würde, der sich für mich einsetzt.
Er war es.
Er hatte blaue Augen.
Genau wie das Meer.
Ich liebte das Meer.
Vor 20 Jahren...
Es war der vierzehnte Juni 1989 als ich mit meiner Familie nach Portez zog.
Es war ein heißer Sommer.
Die Sommer in Portez waren immer heiß.
Tagelang regnete es nicht.
Hitzewellen waren keine Seltenheit.
Die Blumen blühten wie noch nie zuvor und die Natur zeigte seine Vielfalt.
Portez war eine Kleinstadt im Süden Kaliforniens.
Ich war gerade erst siebzehn Jahre alt geworden.
Ich hatte einen jüngeren Bruder.
Joe, so hieß er.
Er war mit seinen zwölf Jahren der ganze Stolz seines Vaters.
Nach der Schule half Joe seinem Vater meistens bei der Arbeit.
Brad war Landwirt und kaufte ein Stück Land in Portez, weswegen wir herzogen.
Ich mochte das Land nicht.
Wir lebten in einem Dorf, wo scheinbar jeder jeden kannte.
Wie primitiv dieser Ort doch war.
Meine Eltern schienen nichts dagegen zu haben, dass sie von nun an hier lebten.
Ganz im Gegenteil.
Sie sind selbst in einem Dorf aufgewachsen.
Als sie sich kennenlernten, zogen sie in die Großstadt.
Ich wusste nie wirklich, warum meine Mutter sich für Brad entschied.
Brad war mein Vater.
Wir hatten jedoch kein gutes Verhältnis zueinander.
Meine Mutter erzählte mir mal von Ken.
Bevor meine Mutter mit Brad geheiratet hat,
musste sie eine Entscheidung treffen.
Sie musste sich zwischen Ken und Brad entscheiden.
Denn beide waren in Ingrid verliebt.
Und meine Mutter Ingrid war in Ken verliebt!
Und Brad! Leider…
Ingrid war achtzehn als ihre Eltern endlich wollten,
dass sie sich verheiratet.
Für sie war das kein Problem.
Immerhin hatte sie sogar eine Wahl.
Sie hatte sozusagen das große Glück von zwei Männern
gleichzeitig geliebt zu werden.
Ken soll ein junger hübscher und sehr intelligenter Mann gewesen sein.
Und Brad …
Na ja, der war nur dick.
Und von einer möglichen Intelligenz kann man auch nicht sprechen, deshalb ist er wohl Landwirt geworden.
Das war das einzige, was er konnte.
Hätte sich meine Mutter für Ken entschieden, dann hätte
ich jetzt einen tollen Vater.
Er würde mir zu meinen siebzehnten Geburtstag sicherlich ein echtes Ölgemälde von Picasso schenken.
Brad würde das nicht tun.
Er fand, dass Kunst nur was für Mädchen ist.
…
Wir lebten inzwischen eine Woche in Portez.
Meine Mutter verlangte an diesem Abend, dass ich dieses Mal mit Dog ausgehe.
Ich fand das natürlich nicht toll.
Ich hasste Dog.
Nur leider hatte ich keine andere Wahl, als das zu tun, was meine Mutter mir sagte.
Wenn ich es nicht täte, würde ich von meinem Vater verprügelt werden.
Das war ja zu meiner Zeit nichts Besonderes.
Eigentlich konnte es mir ja egal sein, ob ich mich nun
um Dog kümmere oder nicht.
Brad fand immer einen Grund mich zu verprügeln.
Ich hatte oft blaue Flecken an meinem gesamten Körper.
„Dog, sei still. Es ist schon spät. Du willst die Nachbarn doch nicht wecken!“
Ich fand Dörfer schon immer zum kotzen.
Ich begriff einfach nicht, was an Dörfern so toll sein sollte.
Ich werde diesen Tag niemals vergessen.
Nicht, weil ich mich mal wieder darüber aufgeregt hatte,
dass ich nun in einem Dorf lebte.
Nein!
Sondern, weil dieser Tag etwas in meinem Leben veränderte,
denn am 21. Juni 1989 hatte ich vor mein Leben zu beenden.
Ich war mit meinem Rundgang schon fast fertig und stand
nun vor einer Klippe.
Man konnte das Meer von hier aus erkennen.
Ich fand das Meer wunderschön.
Das Meer trägt viele Geheimnisse mit sich.
Ich glaubte, das Meer habe viel mehr Geheimnisse
als ein ganz gewöhnlicher Mensch.
Aber haben Menschen nicht viel mehr Geheimnisse
als das große weite Meer?
Jeder Mensch verbirgt sein wahres Gesicht unauffällig
hinter seinem Gesicht.
Stille Wasser sind tief, sagt man.
Aber ich wollte mich gar nicht mehr damit auseinander
setzen, was für Geheimnisse das Meer nun trägt oder
was ein ganz gewöhnlicher Bauer in Wirklichkeit ist.
Ich dachte, dass es ein schöner Ort zum Sterben wäre.
Das war alles.
Was für einen Sinn hätte mein Leben denn, wenn ich es nicht täte?
Was für einen Sinn hätte mein Leben, wenn ich mein Leben nicht nahm?
Es war ein schöner Ort zum Gehen.
Diese Menschen, die in diesen Dorf lebten, waren alle eigenartig.
Sie verhielten sich anders als die Menschen in der Stadt.
Ich glaubte, dass sie alle Geheimnisse mit sich trugen.
Wahrscheinlich wirke ich von außen hin genau so geheimnisvoll auf sie, wie sie auf mich.
Ich wollte einfach nur sterben.
Ich wollte an nichts mehr denken.
An gar nichts. Nicht an die Menschen. Nicht an mich.
Das war der einzige Ausweg, den ich damals kannte.
Ich lief immer vor allem weg.
Ich wusste einfach nicht anders mit meinen Problemen umzugehen.
Heute glaube ich, dass es kein Ausweg für mich gewesen wäre zu sterben.
Ich glaube es war eine Art Fluchtweg für mich.
Ich wollte flüchten.
Weit weg von meiner Familie.
Ich wollte einfach nur weg.
Von allem.
Ich fühlte mich verlassen.
Niemand verstand mich.
Und niemand konnte mich verstehen.
Ich war anders.
Ich war genau so anders, wie die Menschen, die in diesem Dorf lebten.
Also wollte ich endlich gehen.
Ich ließ die Leine von Dog los und ging näher an die Klippe.
Jetzt konnte ich das Meer von oben betrachten.
Wenn ich mich jetzt fallen lassen würde, dann würde ich befreit sein.
Ich würde von all meinem Leid befreit sein.
Ich wäre einfach frei.
Jeder Mensch wünscht sich frei zu sein.
Ich dachte mir, wieso darf ich mir diesen Wunsch nicht einfach erfüllen?
Ich wusste, dass ich gleich sterben würde.
Ich sah meinen Tod vor Augen.
Aber dann fiel mir etwas auf.
Etwas, was mir das Leben gerettet hat.
Dieser eine Gedanke.
Er hielt mich am Leben.
Wenn ich doch keinen Sinn in meinem Leben hatte?
Wenn ich nichts hatte, das mich am Leben erhalten konnte?
Wieso habe ich nicht danach gesucht?
Wieso habe ich nicht versucht, den Sinn meines Lebens zu finden?
Ich war verzweifelt.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich hatte Angst.
Ich sah das Meer.
Wie schön es doch war.
Also beschloss ich nach meinem Sinn zu suchen.
Ich ging vorsichtig zurück.
Zurück auf die Landstraße.
Dog hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt.
Ich war auf dem Weg nach Hause, als ich bemerkte, wie schön das Land sein konnte.
Wie schön man von hier aus die Sterne beobachten konnte.
Und dann erkannte ich zum Ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutet, auf sich allein gestellt zu sein.
Eigentlich war ich schon mein Leben lang einsam.
Ich musste immer selbst mit meinen Problemen fertig werden.
Die Ironie daran ist, ich habe mich meinen Problemen nie gestellt.
Ich dachte einfach, dass es besser wäre nichts zu tun.
Mit niemandem über mich zu reden.
Ich war unwichtig.
Für mich selbst und für die Menschen, die mich kannten.
Ich hatte nie einen Freund, den ich mich anvertrauen konnte.
Und meine Familie.
Sie kannten mich gar nicht.
Sie hörten mir nie zu.
Sie wollte mir gar nicht zuhören.
Brad wollte nur, dass ich ihm gehorche.
Aber jetzt war etwas anders.
Ich verstand endlich, dass wenn man niemanden hatte,
dass man sich selbst darum kümmern musste.
Ich wollte dazugehören.
Ich musste mich anpassen.
Ich akzeptierte meine Lebenslage.
Ich war so, wie ich war.
Ich war gerade zu Hause angekommen und zog meine Sandalen aus.
Brad meckerte mal wieder, warum es denn so lange gedauert hat.
Als würde er mich vermissen, wenn ich früher Heim gekommen wäre.
Als würde mich irgendjemand in diesen vier Wänden vermissen.
Als würde sich auch nur jemand fragen, wie es mir ging und wie ich mit dieser neuen Situation umgehe.
Niemand tat es.
Niemand sorgte sich um mich.
Und dann.
Dann wurde mir eins klar.
Ich hasste die Menschen.
Ich hasste Brad.
Aber wieso eigentlich?
War ich einfach nur eifersüchtig auf Joe?
Fühlte ich mich ungeliebt?
Ich weiß es nicht mehr.
Ich verstand mich selbst nicht mehr.
Nur wie konnte ich von denen erwarten, dass sie mich verstanden, wenn ich mich selbst nicht verstand?
Ich wusste nicht, wer ich war.
Keiner hätte mir sagen können, wer ich war.
Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
Ich wollte also nach dem Sinn meines Lebens suchen.
Ich wusste aber nicht wie.
Wie sollte ich vorgehen?
Was muss ein Mensch tun, um sich selbst zu finden?
Ich wusste es nicht.
Ich konnte nichts auf der Welt einen Sinn zuordnen.
Ist Religion etwa der Sinn des Lebens?
Sind wir dazu geboren, für Gott zu beten?
Ich gab jedem die Schuld für etwas.
Jeder war verantwortlich für meine Fehler.
Ich tat mir selbst leid.
Ich wusste nie, warum mir keiner zuhörte.
Aber dann, wusste ich es plötzlich
Wie sollte mir denn jemand zuhören, wenn ich nicht über meine Probleme sprach?
Ich hatte also noch Hoffnung.
Vielleicht würden sie mich verstehen.
Vielleicht liebten die Leute mich doch.
Am nächsten Morgen versuchte ich mit Brad zu sprechen.
Ich versuchte mich ihm zu öffnen.
Auch wenn es mir schwer fiel.
Ich konnte ihm aber nicht alles erzählen.
Nicht von diesem Problem.
Wenn er davon erfahren würde, dann würde er mich verprügeln.
So, wie er es immer tat.
Nur dieses Mal wäre etwas anders als sonst.
Er hätte Recht gehabt.
Ich hätte es verdient, verprügelt zu werden.
Dafür hätte er kein Verständnis.
Noch nicht einmal ich selbst, hatte Verständnis dafür.
Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
Ich erzählte Brad, dass ich mich hier nicht wohl fühlte.
Ich sagte ihm, dass ich hier im Dorf niemanden kannte mit dem ich über meine Gefühle sprechen konnte.
„Dad, können wir uns kurz unterhalten?“
Allein schon dieser Satz fiel mir schwer.
„Was ist denn?“, fragte er mich.
Er war selbst erstaunt.
Er machte einen rätselhaften Ausruck.
Ich glaube, er war einfach neugierig.
Wir hatten noch nie ein Vater-Sohn Gespräch geführt.
Er war neugierig darauf, was ich ihm erzählen wollte.
„Na ja, ich wollte dir sagen, dass ich mich hier nicht wohl fühl.
Es ist alles so monoton.
Das ganze Dorfleben hier meine ich. Die Menschen.“
Ich wusste selbst nicht, warum ich das tat.
Warum ich ihm das anvertraute.
Was sollte er denn jetzt auch großartig tun?
Ich fühlte mich auch in der Stadt nicht wohl.
Ich hatte kein zu Hause.
Meine Klassenkameraden in meiner Schule mobbten mich.
Ich war ein Außenseiter.
Sowohl in der Schule als auch zu Hause.
Ich stand jeden Morgen auf und hatte Angst.
Ich hatte Angst davor, in die Schule zu gehen.
Keiner wollte mich.
Noch nicht einmal die Lehrer gingen auf mich ein.
Und wenn die Schule vorbei war, hatte ich Angst nach Hause zu gehen.
Ich hatte Angst, dass mein Vater mich wieder verprügelt.
Joe hatte es gut.
Mein Vater liebte ihn.
Wenn Ken mein Vater gewesen wäre, dann wäre alles anders gewesen.
Er würde sich um mich kümmern.
Er würde mich verwöhnen.
Und Joe würde dann in meiner Lage sein.
Mein Vater reagierte nicht darauf.
Ich erzählte meinem Vater also von meinem Anliegen, aber er interessierte sich nicht dafür.
Er interessierte sich nur für Joe.
Er war sein Stolz.
Dabei war er erst zwölf.
Wieso Joe?
Was hatte er, was ich nicht hatte?
Ich wollte gerade gehen, als mein Vater anfing zu lachen.
Er lachte mich aus, weil ich mich wie ein Mädchen benahm.
Er sagte nur, dass ein Mann keine Gefühle haben darf.
Ich wollte einfach nur weg.
Ich drehte mich um und wollte raus.
Weit weg.
Weit weg von Brad.
Weit weg von allem.
Ich dachte, dass es mein Fehler war.
Ich dachte, dass es richtig wäre über meine Probleme zu sprechen, aber das war es nicht.
Keine Sekunde verging als Brad mich schlug.
Ich fiel zu Boden.
Ich weinte.
Das gab ihm einen weiteren Anlass mich zu verprügeln.
Er trat weiter auf mich ein.
Er war wütend, warum ich ihm den Rücken kehre.
Er hätte nur das Recht, das Gespräch zu beenden.
Ich war verzweifelt.
Also war es doch falsch.
Also bin ich doch nicht schuldig.
Ich hätte richtig gehandelt, wenn ich nicht mit ihm sprechen würde.
Ich fühlte mich klein.
Wertlos.
Ja, denn das war ich auch.
Ich war wertlos.
Wertlos in Brads Augen.
Einfach nur wertlos.
Ich sollte auf mein Zimmer.
Ich tat es.
Ich tat genau das, was er wollte.
Ich wollte nicht mehr verprügelt werden.
Ich habe eben Gefühle.
Ich kann nichts dafür.
Ich bin eben anders.
Die Männer auf dem Land – Hatten sie etwa keine Gefühle?
Sind es nur Frauen, die fühlen können?
Sind es wirklich nur Frauen, die lieben können und Mitleid haben können?
Ich wusste es nicht.
Aber ich kannte keinen Mann, der Gefühle hatte.
Am wenigsten Brad.
Es war bereits Mittag als ich mich endlich beruhigt hatte.
Ich ging ins Bad, um meine Wunder zu versorgen.
Ich zog mich aus.
Ich wollte baden.
Alleine.
Ganz allein.
Wie schön wäre es, wenn noch jemand hier wäre.
Wenn ich nicht allein wäre.
Das war ein Traum von mir.
Nicht alleine zu baden.
Ich ließ das warme Wasser ins Bad einlaufen.
Nach zehn Minuten legte ich mich hinein.
Ich fühlte mich frei.
Keiner war zu Hause.
Mein Vater war mit Joe arbeiten und meine Mutter war in der nächstliegenden Stadt einkaufen.
Von nun wird es öfter so sein, dass ich alleine bin.
Das Gefühl war schön.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn mich jemand kraulen würde.
Wenn jemand meinen Hoden kraulen würde.
Diese Vorstellung war so real.
Mein Penis wurde steif.
Ich onanierte.
Es dauerte eine Weile bis ich zum Höhepunkt kam.
Aber dann.
Als es endlich so weit war.
Ich fühlte mich frei.
Das war ein unbeschreibliches Gefühl.
Als ich fertig war, stieg ich aus dem Bad.
Ich zog meinen Bademantel über und ging in mein Zimmer.
Ich war in meinem Zimmer als ich in das zerschlagene Spiegel schaute.
Mein Vater schlug mich mit meinem Kopf dagegen.
Ich schaute in den Spiegel.
Ich sah mich an.
Wie erniedrigend ich ausschaute.
Wie erbärmlich ich wirkte.
Ich fühlte mich hässlich und mitgenommen.
Mein Leben hatte keinen Sinn.
Ich wollte ihn finden.
Den Sinn des Lebens.
Aber wo?
Bestimmt nicht zu Hause.
Also zog ich mich rasch an und ging aus dem Haus.
Das tat gut.
Das erste Mal hatte ich nichts gegen die Hitze, die hier auf dem Land herrschte.
Sie war gewöhnungsbedürftig.
Ich ging die Landstraße entlang und sah ein paar Jugendliche.
Sie waren ungefähr in meinem Alter.
Sie spielten Fußball.
Ich wollte schon immer mal mit Freunden Fußball spielen.
Manchmal spielte ich alleine in meinem Zimmer.
Ich borgte mir den Ball von Joe aus.
Mein Vater wollte nicht, dass ich spiele.
Nur Joe durfte.
Er hätte wohl ein Talent dafür.
Ich durfte Joe nicht stören, wenn er Fußball spielte.
Die Jungs waren zu viert.
Einer von denen hatte blaue Schuhe an.
Die Schuhe waren völlig zerfetzt.
Er tat mir leid.
Ich wollte wissen, wie er heißt.
Damals wusste ich noch nicht, dass mich dieses Ereignis verändern wird.
Ich wusste nicht, dass es jemanden geben würde, der sich für mich einsetzt.
Er war es.
Er hatte blaue Augen.
Genau wie das Meer.
Ich liebte das Meer.