Kapitel 2: Stefan langweilt sich

Der Himmel war blau, blau, stahlblau. Der Asphalt schmolz unter der glühenden Sonne. Eine brodelnde Menschenmenge belagerte dicht die absperrte Rennstrecke. Die Fans schwenkten Fahnen, Pullover, Plakate: „Stefan, du bist der Größte!“
Die letzten Fahrer machten an den Benzinzapfsäulen halt. Reifen wurden herangerollt. Techniker liefen aufgeregt zwischen den röhrenden, blitzenden Metallungetümen herum. Schrauben angezogen. Ölstand überprüft.
Da zeigte sich der Sieger der Testfahrten: ein Raunen ging durch die Menge. Beifall. Einige Mädchen kreischten hysterisch: „Stefan, Stefan!“
Nach außen unbewegt bestieg der Champion seinen roten Ferrari, der in erster Position starten sollte. Doch er war nervös, sehr nervös. Heute musste er gewinnen; zeigen, wer er war; zeigen, dass er seinen eigenen Rekord verbessern konnte.
Die Stadionanzeige prangte wie ein Damoklesschwert über den Fahrern.
Stefan: 257 Punkte.
2. : 235 Punkte.
3. : 212 Punkte.
15 Sekunden bis zum Start. Die Motoren der anderen Fahrer heulten hinter Stefan auf.
10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1.
Start!
Mit einem Satz nach vorn schepperte Stefans Ferrari los. Ein Freudenschrei auf der Bühne. Der Champ auf dem Weg zu einem weiteren Sieg.
Sie lauerten hinter ihm, aber er kannte die Strecke wie im Schlaf. Er schnitt scharf in den Kurven, beschleunigte maximal in den Geraden... und begann, den Abstand zum Zweiten auszubauen! Nach der ersten Runde lag er klar vorn. Das Publikum johlte, seine weiblichen Fans sprangen vor Freude hoch, als er die lange Gerade vor der Haupttribüne vorbeischoss.
„Stefan, Stefan!“
Zweite Runde. Der Champ überließ nichts dem Zufall.
Die Kurve nach der langen Geraden, die Beschleunigung aus der Kurve heraus. Die anderen Fahrer konnten ihm nicht folgen.
Doch da ein Wartungsnotruf! Sollte er drangehen? Nein, er musste durchhalten. Noch ein Warnklingeln. Boxenstop.

„Stefan Bielaschewski“, meldete er sich.
Einen Moment hoffte er, dass es Susanne sein würde... Gestern ...
„Sitzt du an Mathe?“, fragte seine Mutter am anderen Ende der Leitung.
„Klar“, sagte Stefan.
„Mach nicht zu spät, morgen ist auch noch ein Tag“, erklärte sie.
„Mmh“, machte er.
„Gute Nacht, mein Großer“, verabschiedete sich seine Mutter.
„Nacht.“ Er hängte ein.

Er nahm wieder den Joystick und schaute auf den Bildschirm.
Game over.
Keine Punkte.
Kein Rennsieg.
Mist, dachte er.
Er ließ den Joystick sinken.

Dann starrte er in dem aufgeschlagenen Buch auf die Zahlenkolonnen, die Aufgaben-Päckchen, angekreuzt die, die er schon gemacht hatte, die Grösser-, Kleiner-, Plus-, Minus-Zeichen, dann die Regeln und Erklärungen, alles so schrecklich langweilig... Er würde das niemals schnallen.
Er schob den Taschenrechner wie eine lästige Fliege energisch von sich weg. Der Taschenrechner rutschte unverhofft weit über zwei rollende Kulis hinweg, Rechner verlässt Fahrbahn! ...fuhr in das Matheheft hinein, Kollision mit einem Konkurrenten! ...bevor er weiterschlidderte und über die Tischkante nach unten fiel, wo er dumpf auf dem Teppich landete. Hatte die Rennbahnabsperrung den Zusammenprall ausgehalten? Stefan schaute unter den Tisch und hoffte insgeheim auf einen Totalschaden, nämlich dass die Rechner-Elektronik durch den Sturz unbrauchbar geworden wäre… Er hätte einen Tag frei von Mathe... Solange er keine neuen Rechner haben würde, könnte er nichts machen. Einen ganzen Tag? Leider wäre der Boxenstopp viel kürzer. Wenigstens einen halben Tag keine Mathe! Denn leider konnte man den Rechner im Kaufhaus ganz leicht neu kaufen, wenigstens einen halben Tag ohne Mathe...

Stefan wandte den Blick von dem verunglückten und auf dem Boden gelandeten Taschenrechner ab. Seine Gedanken schweiften ab.
Er stand auf. Wie automatisch machte er die Kiste an.
„Hier ist die Tagesschau mit den Spätnachrichten.“
Im Kühlschrank fand er noch etwas Fanta.
Er warf sich aufs Sofa.
„Auch heute herrschte große Hitze im Sendegebiet. Die Wettervorhersage spricht auch in den nächsten Tagen von Temperaturen, die über 35° im Schatten liegen werden. Das Wetteramt sieht für die kommenden Tage keine Hoffnung auf Regen. Der Bauernverband hat in einer Pressekonferenz auf die katastrophale Erntesituation hingewiesen. Die Feuerwehr musste an mehrfach zu neuen Waldbränden ausfahren. In mehreren Städten wurde der Wassernotstand bekannt gegeben. Die Meldungen im Einzelnen...“

Er hörte dem Nachrichtensprecher nicht mehr zu.
Stefan war wütend auf Susanne: warum rief sie nicht an? Er starrte mit leerem Blick aus dem Fenster in den Vorgarten. Die massiven Bäume, die grünen Hecken und der artig geschnittene Rasen: Die Lindenstrasse lag still im Mondschein.

Stefan nahm die Fernsteuerung und zappte weiter, ein alter Krimi mit Marlon Brando, ein alter Ossi-Film, die Wiederholung einer Show aus den 80er Jahren... nichts, nichts...
Die Brille beschlug, als er sein Fantaglas leerte. Mist, wann bekam er endlich seine Kontaktlinsen?

Er nahm den Hörer ab und wählte.
„Hallo Susanne Blénot“, meldete sich ein Mädchen am anderen Ende der Leitung.
Seine Hände wurden schweißnass. Er biss sich auf die Lippen.
Er konnte sich doch nicht lächerlich machen. Wozu sich entschuldigen? Er hatte nichts falsch gemacht.
In Susannes Gegenwart wurde er immer so unsicher.
„Wer ist da?“, fragte Susanne.
Das ist einfach zu blöd! dachte er sich.
Und knallte den Hörer in die Gabel.
„Blöde Tussi!“, sagte er sich.
Stefan war sauer. So richtig sauer.

Da saß er wieder vor der Kiste neben dem Joystick, und eigentlich sollte er weiterlernen, weil er tagsüber nichts gebacken gekriegt hatte.

Aber plötzlich war ihm so leer zumute. Fast übel.

Er hörte draußen ein Auto vorbeifahren, das scheppernde Stimme des Sprechers in einer Fernseh-Reklame und das stete Ticken der Standuhr des Wohnzimmers.

Die Scheiß-Nachprüfung! Seine Eltern waren allein in den Urlaub gefahren; er musste pauken und zu allem Überfluss noch auf seinen kleinen blöden Bruder aufpassen!
Die Wände schienen ihm eng zu werden und die Luft zum Ersticken.
Er sollte für seinen Bruder jeden Tag kochen. Soll er doch selbst machen! Ist ja auch schon 9 Jahre alt! Heute Abend war er wieder zu spät nach Hause gekommen...
Musste sich Stefan jetzt auch noch darum kümmern? Er war doch kein Kindermädchen!

Er nahm das Fanta-Glas und knallte es auf den Tisch. Etwas erstaunt blickte er auf den Riss, der sich senkrecht im Glas dabei ausgebildet hatte.

Er nahm die Kippen, das Feuerzeug und verließ das Haus; die Haustür schlug hinter ihm krachend zu.
Auf der Strasse bemerkte er, dass die nächtliche Lindenstrasse, in der er wohnte, wieder so schmuck und aufgeräumt aussah, wie er befürchtet hatte. Kein Papierchen verschmutzte auf dem Bürgersteig. Alles war so schrecklich schön und aufgeräumt. Wie hasste er das alles.
Und der Mond schien zu allem Überfluss gnädig auf die schöne Wohngegend hinab.
Stefan konnte sich vorstellen, wie die Nachbarn ihn ansprechen würden, wenn er tagsüber durch die Strasse gehen würde.
„Hallo Stefan! Was macht denn die Nachprüfung?“, würde die aufdringliche Nachbarin von rechts pseudo-besorgt wissen wollen.
„Lieber Stefan! Schön dich zu sehen. Wie geht es dir? Und dein kleiner Bruder ist auch schon so groß jetzt.“, würde die Oma am Ende der Strasse ihn voll labern.
Stefan erschrak. Hasso, der Hund von Herrn Müller, schlug an. Sein Gebell hallte laut in der leeren Straßenschlucht.
„Schnauze!“ brüllte er den Hund an, der umso lauter anschlug.
Der Junge ging weiter, das wilde Gebell hinter sich lassend. Er kannte doch jede Strasse. Er fing an zu laufen, durch andere Strassen, an diesem Haus vorbei, wo sie wohnte...
Er hatte wieder diesen Weg gewählt, warum war er nicht woanders lang gegangen.
Im ersten Stock in ihrem Zimmer war noch Licht. Er würde alles geben, wenn er jetzt da wäre und nicht hier auf der Strasse... Aber dann würde sie wieder diese blöden Fragen stellen... wie seine Eltern... Und er würde wie immer so hilflos blöde Antworten geben... wie immer...
Das Licht zog ihn wie ein Magnet an; er blieb stehen, dann riss er sich los. Dann steckte sich eine Zigarette an und lief heraus aus der Stadt, die ihm viel zu klein war!

Hinaus auf die Felder, erst da kam er zu stehen.
Der Mond verfolgte ihn mit seinem fahlen, hellen Licht.
„Lasst mich doch alle in Ruhe!“, schrie Stefan auf einmal wütend und trat den Zigarettenstummel aus. Warum schrie er? Er war ganz allein auf dem Feldweg. Vielleicht hatte er erst hier den Mut, herauszubrüllen, was er dachte.
Er war wütend, aber er wusste nicht genau auf wen und auf was. Vielleicht auf alle.
Auf sich selbst vielleicht auch ein bisschen?
Er wies den Gedanken von sich.
Der Junge hielt inne und ließ sich auf die trockene, aufgebrochene Erde nieder.
Vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

Keine tickende Standuhr mehr.
Keine Nachprüfung.
Kein Taschenrechner.
Keine blöde Kuh.
Keine Fragen mehr.
Kein bescheuerter Bruder.
Er blickte leer auf die heiße, weiße Erde. Und wartete.
Auf was? Weiß man immer, auf was man wartet?
 



 
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