Kapitel 22 - 25

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flammarion

Foren-Redakteur
Kriegserlebnisse

Wenn man wie ich 1944 geboren wurde, ist der Krieg während der gesamten Kindheit und Jugend allgegenwärtig. Man stolpert ständig über ihn. Als erstes waren da die Ruinen. Es war verboten, darin herumzuklettern. Aber wo gibt es Kinder, die sich ernstlich um Verbote kümmern? In der Regel finden sie "Gründe", sich über die Verbote hinwegzusetzen. So sind wir also in den Ruinen herumgeklettert und genossen den Kitzel des Verbotenen. Besonders, wenn eine Ruine durch Vernageln der Haustür unzugänglich gemacht worden war, war sie für uns sehr interessant.
Ein schmalbrüstiges Haus mit ausgebrannten Fenstern galt bei uns als "das gefährlichste Haus des Stadtbezirks". Es befand sich in der Charlottenburgerstraße. Da gingen wir nur einzeln hinein, weil der Hausflur so voll Schutt lag, dass nur einer sich dort fortbewegen konnte. Jeder behauptete, die Treppe bis zum 4. Stock erklommen zu haben. Ich war erst fünf Jahre alt, also zu klein, mich ließen sie nicht in die gefährlichen Häuser hinein. Aber als Ida mich zum Einkaufen schickte, kam ich an dem "gefährlichsten Haus des Stadtbezirks" vorbei. Ich wollte auch meine Mutprobe ablegen, obwohl keines der größeren Kinder dabei war. Wozu auch? Sie gingen ja auch immer nur einzeln hinein!
Klopfenden Herzens zwängte ich mich an dem losen Brett vorbei. Es glitt hinter mir wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Ich stand im Dunkeln. Als meine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, tastete ich mich vorwärts. Endlich erreichte ich den Fuß der Treppe. Hier sah es traurig aus! Das Geländer fehlte, ebenso die Dielen, ja, sogar einige Steine aus der Treppe fehlten! Und nach der 1. Etage hörte die Treppe ganz auf. Ich musste lachen - die großen Kinder hatten behauptet, im 4. Stock gewesen zu sein, und hier ragten die kahlen Wände eines treppenlosen Treppenhauses in den lichten Himmel! Keines der Kinder glaubte mir, dass ich in dem Haus gewesen war . . .
Wenn wir zum Weißen See gingen, machten wir um ein bestimmtes Haus einen großen Bogen. Es hieß, da liegt ne Bombe drin. Denselben Weg gingen wir aber auch mit Ida zum Friedhof, um die Blumen auf dem Grab ihrer Eltern und ihres Mannes zu gießen. Dann blickten wir vorsichtig und mit lang gereckten Hälsen auf das matt glänzende riesige Metallgebilde im Keller. Wie ich viele Jahre später von einer in diesem Haus wohnenden Klassenkameradin erfuhr, handelte es sich um einen Heizungskessel . . .
Bei jeder Familienfeier kamen unweigerlich die Gräueltaten der Russen aufs Tapet. Dass sie jeden Mann erschossen, der Hitler hieß oder auch nur so aussah. Dass sie dachten, die "Laubenpieper", die das ganze Jahr in ihrer Laube wohnten, seien in Wirklichkeit reiche Leute und versteckten sich hier nur. Dass sie den Deutschen die Armbanduhren abnahmen, "Uhri, Uhri!" rufend und die Uhren wegwarfen, wenn sie stehen blieben, denn sie wussten nicht, wie man eine Uhr aufzieht. Dass sie Kartoffeln und sogar Wäsche in der Toilette wuschen und sich wunderten, dass alles weg war, wenn an der Spülung gezogen wurde.
Aber die Russen waren auch gutmütig und kinderlieb. Als die ersten Russen in unseren Luftschutzkeller kamen, hatte man uns Kinder hinter einem Verschlag versteckt. Wir wurden entdeckt, und als die Soldaten sahen, dass da wirklich nur kleine Kinder waren und sich kein Faschist hinter uns versteckt hielt, wurden wir mit Schokolade gefüttert.
In den ersten chaotischen Tagen nach Kriegsende wurde nicht nur von den Russen geplündert, nein, auch Deutsche sahen zu, wo sie etwas wegfinden konnten. So kam Irma einmal mit einer ganzen Speckseite auf dem Rücken nach Hause. Ida war gerade dabei, den Speck zu zerteilen, als ein fröhlicher Russe den Keller betrat. Ida tat so, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass sie da saß und eine ganze Speckseite teilte. Der Russe kannte derartiges wahrscheinlich auch aus seiner Heimat und dachte nicht weiter darüber nach, dass es in der Großstadt ein wenig schwierig sein dürfte, eine ganze Speckseite zu bekommen, vor allem in dieser lebensmittelarmen Zeit. Er lachte, drückte der Ida sein Gewehr in den Arm und sagte: "Krieg kaputt! Frau freuen sich!" Ida lächelte ein wenig, gab ihm sein Gewehr zurück und sagte: "Ja, Krieg kaputt, prima!" Da war der Russe zufrieden und ging. Ida tauschte den Speck zum größten Teil gegen andere Lebensmittel ein.
Wenige Tage später wurden die Lebensmittelverarbeitenden Betriebe von der russischen Armee besetzt und beschützt. Vor jedem dieser Betriebe stand ein Schilderhäuschen mit einem Rotarmisten darin. Es gelang Waltraud, mir einzureden, dass dazu nur die allerbösesten Russen taugten, die schon mindestens drei Menschen umgebracht hatten. Ich war ja so leichtgläubig! Und ich wusste, dass man nicht in den Himmel kommt, wenn man lügt. Und warum sollte meine liebe Waltraud mich auch anlügen? Ich verstehe bis zum heutigen Tag ihre Gründe nicht.
Eines Tages kam Inge L. ganz aufgeregt zu uns in die Küche (ihre Mutter saß bei uns zum Kaffeeklatsch) und hielt uns eine handvoll graugelber Körner hin: "Kiekt ma, wat uff de Straße liecht! Die Leute saaren, det sin Kaffeebohn!" Sofort sprang Grete L. auf, ließ sich von Ida ein paar Tüten geben und lief ihrer Tochter auf die Straße nach. Da fuhr ein Lastauto im Schritttempo und hinter ihm bückten sich viele Leute nach den kleinen, gelben, runden Körnern. "Unsere" wurden in unserer Küche auf mehreren Bratpfannen geröstet und alle schwärmten noch lange von dem guten Geschmack des ersten Nachkriegskaffees.
Zu meinen ältesten Erinnerungen zählt auch diese Begebenheit: Ida war mit mir auf dem Wege zum Schlächter, da hörten wir ein lautes Knallen. Danach kam uns ein Trupp Rotarmisten entgegen. Sie hatten alle recht verbissene Gesichtszüge. Als wir in die Straße einbogen, aus der sie gekommen waren, sahen wir dort auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Rotarmisten in seinem Blute liegen. Ich fragte erschüttert: "Oma, wat is n mit den?" Ida antwortete mit Genugtuung in der Stimme: "Den ham se ehhm aschossn." - "Aba der lebt doch noch!" - "Nee, der is doot." Der junge Mensch streckte sich noch einmal und blieb dann reglos. Ich drehte mich immer wieder nach ihm um und konnte das Geschehen nicht fassen. Ich hätte zu gern gewusst, warum ihm das angetan wurde. Aber wer hätte es mir sagen sollen? Ida antwortete auf meine Frage: "Sowat fraacht man nich!"
Für den Heimweg nahmen wir eine andere Straße. Zwei Tage später kamen wir wieder an der Stelle des grausigen Geschehens vorbei. Die Leiche war abtransportiert, aber die riesige Blutlache war noch lange sichtbar.
In der Gustav-Adolf-Straße befand sich ein Schlachthof. Einmal im Monat wurde eine kleine Rinderherde durch unsere Straße dorthin getrieben. Als das zum ersten mal geschah, spielte ich gerade in einer Nebenstraße. Ich hörte das Muhen und Trampeln und wollte sehen, was da los war. Neugierig lief ich zur Straßenecke und wäre fast mit dem Leittier zusammengestoßen. Ich hatte nie zuvor eine lebendige Kuh gesehen und lief in panischer Angst nach Hause. Aber das war gleichzeitig die Richtung, die die Herde zu nehmen hatte. Wenn einer der Hirten mich nicht rechtzeitig gepackt hätte, wäre ich von den Tieren zertrampelt worden.
Im darauf folgenden Monat fand ich auf der Straße den Huf einer Färse. Ich nahm ihn mit nach Hause und rief: "Ick hab n Kuh-Schuh jefunn!" Ida warf das nutzlose Ding sofort in den Mülleimer: "Det du imma allen Dreck anfassen musst!" Ich war erst vier Jahre alt und konnte ihr nicht erklären, dass mich dieser Fund mit den Tieren versöhnt hatte und ich ihnen angesichts ihrer Hilflosigkeit die Attacke auf mich verzieh.
Manche Stadtkinder gingen bei den Russen betteln. Eine Schulkameradin erzählte mir viele Jahre später, dass sie immer etwas bekam, wenn sie vor versammelter Russenmannschaft sagte: "Deutsche Katinka und Rußki-Kamerad machen ficke-ficke für Tafel Schokolad."
Ein beliebtes Schimpfwort war: "Du bist wohl 45 jejen ne Bombe jeloofen!" Wenn man das zu mir sagte, antwortete ich entschuldigend: "Da war ick ja ooch noch janz kleen!"
Bei DEGUFA gab es auch mehrere Aufsichts-Russen. Einer war bei den Arbeitern sehr beliebt, weil er sich um Verständnis bemühte nicht nur der deutschen Sprache, sondern auch der persönlichen Probleme der Arbeiter. U.a. wollte er eines Tages wissen, was eigentlich "Scheiße" ist, weil die Arbeiter dieses Wort so oft benutzten. Einer der Arbeiter führte ihn zur Toilette und zeigte ihm, was gemeint ist. Der Russe hielt sich lachend die Nase zu und nickte. Künftig wurde er scherzhaft "Kamrad Scheiße" genannt.
Bei einer Familienfeier erzählte Grete L., dass sie während der Straßenkämpfe in Berlin aus dem Luftschutzkeller nach oben gegangen war, um eine Decke zu holen. Als sie wieder nach unten gehen wollte, riss plötzlich ein Russe sie in seine Arme. Glücklicherweise war Ida ihr gefolgt. Grete sagte ausdrucksstark: "Mama!" und der Russe ließ sie los. Vor "Mama" haben die Russen nämlich Respekt.
So war ich überzeugt, dass die Russen eine überaus zwiespältige Nation sind - einesteils sträflich gutmütig und andererseits mordlustig. Wenn ich jedoch heute auf jene Zeit blicke, vermute ich eher, dass die wendige Grete L. mit dem Russen verabredet war und Lebensmittel aus ihm herauspressen wollte. Ida war ihr nur gefolgt, weil die Aktion zu lange dauerte.
1948 hatte Inge L. mich zu einem Marktgang mitgenommen. Auf dem Rückweg kamen wir an einem seit dem Krieg geschlossenen Gartenlokal vorbei, vor welchem sich eine große Menschenansammlung gebildet hatte, und immer mehr Schaulustige strömten herbei. Inges Augen blitzten vor Erregung: "Wat is n da los?", rief sie und klemmte sich an das Gitter. Ich wollte auch etwas sehen, aber ich kam nicht durch.
Endlich verpasste ein Mann mir einen Tritt und sagte: "Det is hier nischt für kleene Kinda! Hau ab, du neujierije Zieje!" Ich war beleidigt. Wieder so ein dummes Erwachsenengeheimnis! Ich hörte, dass in dem Garten ein heftiger Kampf im Gange war und eine wimmernde Frauenstimme Frieden zu stiften suchte. Ich drängte mich hinter Inge, um der Sache auf den Grund zu gehen. Inge drückte mir die Einkaufstasche in die Hand und sagte: "Jeh ma schon imma zu Hause, ick seh ma det hier noch zu Ende an!" Murrend gehorchte ich.
Es hatte am Vormittag geregnet und in der Friesickestr. war das Wasser noch nicht von den Gullys aufgenommen worden. Ich legte einige Zweiglein auf das Wasser und sah zu, wie sie den Rinnstein entlang schwammen. So vertrieb ich mir die Zeit. Ich kam ein paar Minuten nach Inge zu Hause an. Über ihrem spannenden Bericht von der Keilerei hinter dem Gartenzaun vergaß man, mich zu rügen. "Also da is n Mann aus de Kriechsjefangschaft nach Hause jekomm und da laach doch seine Frau mit seinn Bruda int Bette un nu haam die been Brüda sich mit Messa un Beil bekämft un haam jebluhtt un die Olle hat jeweent un wollte dazwischen jehn aba da hat se so ne Schelle jekricht det se lang hinjeschlaren is un denn haam die been sich weita jeprüjelt un sin hinjefalln und wieda uffjeschdann und se konntn eijentlich alle beede schon nich mehr un haam sich doch imma weita jeprüjelt un jebissn un jetretn un denn sind se beede liejenjebliem . . ." Der Bericht wurde mit großem Interesse aufgenommen und ich war froh, dass ich das alles nicht aus nächster Nähe gesehen hatte.
Eine Bekannte von Ida suchte 1952 noch immer nach ihrem Mann, eine andere nach ihrem Sohn. Für letztere hatte Ida größeres Verständnis. Eine Frau kann jederzeit einen neuen Mann finden, ein Sohn aber ist ein einmaliges Geschenk des Himmels.
Oft war auch die Rede davon, wie knapp die Lebensmittel waren und dass man alles Mögliche gegessen habe, um nicht zu verhungern. Alfred erzählte auf einer Familienfeier, dass er einem ihm unangenehmen Verwandten eine gebratene Katze vorgesetzt hatte anstatt des versprochenen Kaninchens. Nachdem der Verwandte sich bedankt und den guten Geschmack gelobt hatte, zeigte er ihm das Katzenfell. Der Mann übergab sich und besuchte Alfred nie wieder. Der hielt diese Geschichte für einen sehr guten Witz.
Doch Walter L. meinte, noch einen besseren zu kennen: In den ersten Nachkriegstagen ging eine alte Frau den Mülleimer ausschütten. Dabei fiel ihr das Gebiss in die Mülltonne. Sie beugte sich über die Tonne und angelte nach dem Gebiss. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und rutschte in die Tonne hinein, nur die Beine waren noch zu sehen. Da kam ein Russe vorbei und machte sich über die Frau her. Ihr Mann sah das vom Fenster aus und rief hinunter: "Wat machen Sie denn da mit meine Frau?" Der Russe antwortete: "Warum du Frau wegwerfen? Loch doch noch gut!"
Fast jeden Sonntag schickte Ida mich Milch holen. In einer Nebenstraße hielt jemand ein paar Kühe in einem kleinen Stall auf dem Hof. Da gab es ganz frisch gemolkenen Milch. Sonntags nahm sie der Großhandel nicht ab, also wurde sie gleich an die Bevölkerung verkauft. Auf dem Hof streunten sechs Katzen herum. Eine hatte im Krieg eine Kugel an den Kopf bekommen, ihr fehlte die rechte Gesichtshälfte. Sie war sehr scheu, aber mir gelang es, sie zu erhaschen. Dann streichelte ich sie und erzählte ihr von meinem Mohrchen zu Hause . . .
Als Nachkriegskind darf man auch die Kriegserlebnisse und -erfahrungen der Erwachsenen zu einem gewissen Grad teilen. Ende 1948 kam Grete L. einmal ziemlich aufgeregt zu uns und sagte, dass in der Langhans-Straße das Kino wieder eröffnet wird, und jeder Berliner die Pflicht habe, den Film, der dort als erstes läuft, anzusehen. Sie sagte, die neuen Machthaber seien noch schlimmer als die alten; was die alten getan haben, wisse sie, sie wolle nicht wissen, was die neuen bei Ungehorsam tun.
Ida, die zur Nazizeit den "Völkischen Beobachter" zwar abonniert, aber nur selten gelesen hatte, verfuhr mit dem "ND" ebenso. Da Grete L. betont hatte, dass wirklich ALLE, auch die kleinen Kinder, sich diesen Film anzusehen haben, ging Ida tatsächlich mit mir in die restlos ausverkaufte Vorstellung. Viele Menschen nahmen Stehplätze in Kauf. Einige in den vorderen Reihen wurden darauf hingewiesen, dass in diesem Kino das Rauchen nicht erlaubt ist. Es geschah so freundlich und kenntnisreich, dass ich als nicht rauchendes Kind sehr erfreut war. Wenn alles, was wir tun und lassen, in der Kindheit begründet ist, dann hat jene Platzanweiserin in mir den Grundstein zur Nichtraucherin gelegt. Wir hatten gute Plätze in der siebenten Reihe. Ida wählte bei allem, was sie tat, den Mittelstand. Ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß. Aber ich erinnere mich daran, dass er mit Schrifteinblendung gezeigt wurde. Ida las mir nicht vor: "Das stört die anderen!" Das sah ich ein.
Die Sprache des Originaltons erschien mir sehr melodisch. Später erfuhr ich, dass es russisch war. Ich konnte der Filmhandlung nicht folgen, bei mir blieben nur einzelne Szenen haften: In manchen Familien wurden Männer jeden Alters tränenreich verabschiedet, weil sie den Waffenrock anzuziehen hatten. - Ein junger Vater verabschiedet sich von seiner jungen Frau mit den Worten: "Du wirst schon klarkommen. Pass auf den Kleinen auf." - Granaten zerfetzen hunderte von Soldaten, ohne dass sie eine Chance zur Gegenwehr gehabt hätten. - Soldaten verbrennen in den Panzerfahrzeugen, die sie steuerten. - Giftgasgranaten explodieren in Schützengräben, bevor die Soldaten ihre Schutzmasken aufsetzen können. - Ganze Häuserzüge fallen in Schutt und Asche. - Brennende Menschen rennen wie lebende Fackeln durch die Stadt. - Flüchtlingskolonnen werden von Flugzeugen beschossen, Mütter und Kinder sterben.
Inzwischen verließen einige Leute murrend das Kino. Auch Ida ruckte missmutig auf ihrem Stuhl herum. Endlich sagte sie: "Ejal, wat kommt, den Mist seh ick mir nich weita an!"
Da Grete L. gesagt hatte, dass auch kleine Kinder sich den Film ansehen sollen, wollte ich nicht sofort mit ihr das Kino verlassen. Ich hoffte, dass da irgendwann noch eine Stelle kommt, die für Kinder verständlich ist. Ida nahm mich rigoros bei der Hand und wir gingen. Wir wurden weder am Fortgehen gehindert, noch später irgendwie belangt.
Als 1953 Unruhen in der DDR drohten, riet Grete L. der Ida, dass sie schnellstens Vorsorge treffen möge, denn es wird einen Bürgerkrieg geben, wohl dem, der dann genügend Lebensmittel im Hause hat! Ida ließ sich überreden, zwei Kilo Zucker, vier Kilo Mehl und neun Kilo Fett unterschiedlicher Art zu kaufen, mehr wollte sie nicht speichern, das Fenster unserer Speisekammer war nicht absolut dicht. Und in ihrem Alter war ihr vieles einerlei. Es kam nicht zum Bürgerkrieg, wie die Geschichte weiß. So hatte sie keine Einbuße.


DEGUFA

. . . heißt in vollem Wortlaut "Deutsche Gummiwaren Fabrik". Hier arbeiteten Gerda, Irma, die beiden ältesten Töchter der Familie L. und meine Mutter. Bei jeder Gelegenheit kam das Gespräch bald auf die Arbeitskollegen, egal, in welcher Wohnung ich mich befand.
Von DEGUFA wurden alljährlich Kinderweihnachtsfeiern ausgerichtet, wo es außer einer Kaffeetafel und kleinen Geschenken auch ein Theaterstück gab. Im Betrieb existierte ein Laienspielzirkel, der uns Kinder alljährlich mit einem Märchenstück erfreute. Kurzzeitig war auch Irma in diesem Zirkel. An "Frau Holle" erinnere ich mich besonders deutlich. Namentlich die Stiefmutter wurde so überzeugend dargestellt, dass die Schauspielerin am Ende nicht mit Beifall, sondern mit Angstschreien und Buh-Rufen "belohnt" wurde.
Diese Feiern fanden in einem riesigen Saal statt, wo lange Tischreihen standen. Heute vermute ich, dass es sich um die Betriebskantine handelte. Der "Weihnachtsmann" stand an dem einen Ende des Saales, und jedes Kind konnte sich etwas aus seinem Zentnersack aussuchen. Als ich zum ersten mal dort war, wagte ich mich nicht zu ihm, Ida hatte mir zu oft von der Rute des Weihnachtsmannes erzählt, und als kleines Kind ist man sich ja nie sicher, ob man nicht doch irgendwelche Dummheiten gemacht hatte, die der Weihnachtsmann bekanntlich alle sieht. Erst, als Waltraud sagte: "Mensch, kiek dir doch mal die Rute richtich an! Da sin Bluum dran, denkste denn, der wird dir damit haun?" So ging dann auch ich, um mir ein paar Bonbons aus dem Sack zu fischen. Auf dem Rückweg zu meinem Platz hielt ich vergeblich Ausschau nach Waltraud. Sie hatte sich vom Tisch entfernt, um mit Kindern zu reden, die sie aus der Schule kannte. Ich konnte meinen Platz nicht finden, nicht einmal durch die Erinnerung daran, dass ich beim Essen gekrümelt hatte (Irma hatte uns zu unserem Tisch geführt und zu mir gesagt: "Wenn de zwischendurch mal uffstehst und rumloofst, dann findeste deinen Platz daran, dass da die meisten Krümel liejen!" Aber an dem Platz mit den meisten Krümeln saß ein Kind, welches jünger war als ich. Ich begann zu weinen und endlich fand Waltraud mich. Drei Feiern habe ich mit großer Begeisterung miterlebt und amüsiere mich heute noch darüber, dass sie stets vom "Prinzen von Degufanien" eröffnet wurden, der möglicherweise der BGL-Vorsitzende war. Er war in ein farbenfrohes Faschingskostüm gekleidet.
Auf der Heimfahrt von der zweiten Feier, wo Waltraud und ich der Obhut einer Arbeitskollegin anvertraut worden waren, weil Irma anschließend Nachtdienst hatte, hörte ich diese Kolleginflüstern: "Die Frau Rodrian (eine andere Kollegin) hat aber hübsche Kinder!" Ich betrachtete die Geschwister und stellte fest, dass sie wirklich hübsch waren. Sie waren ungefähr in Waltrauds Alter, durften also schon alleine mit dem Bus fahren. Ich erlebte erstmalig, dass man über einen Abwesenden auch etwas Gutes sagen konnte! Das machte mich regelrecht glücklich und ich praktizierte es später oft. Als Waltraud vierzehn Jahre alt war, waren diese Feiern nicht nur für sie, sondern auch für mich vorbei, denn Ida ließ mich den weiten Weg nicht alleine gehen.
Die Betriebsangehörigen konnten ihre Kinder jedes Jahr in ein Kinderferienlager schicken, welches sich in jeder Saison an einem anderen Ort befand, damit die Kinder viel kennen lernen können. Zu der ersten Reise musste Waltraud beinahe gezwungen werden und dann musste sie sich auch noch mit meiner Begleitung abfinden. Ich war zwar erst fünf, aber Gerda hat mit Hilfe von Irma und den L.-Töchtern solange gebohrt, bis sie eine Sondergenehmigung bekam. Ich weiß nicht mehr, wohin die Reise ging, ich weiß nur noch, dass es sehr stressig war. Schon am Bahnhof wurden wir ausgelacht, weil wir unsere Sachen nicht in Koffern oder Reisetaschen, sondern in Persilkartons beförderten (in den nachfolgenden Jahren borgte Gerda Koffer für uns). Dann musste ich neben Waltraud schlafen, weil sie mich morgens an- und abends ausziehen musste, das konnte ich damals noch nicht alleine. Auf Anraten einer Spielkameradin brachte Waltraud es mir bei. Es war ihr leid, ständig zu hören, dass sie mit einer "Blöden" lebt. Ida war nach unserer Heimkunft erbost, dass ich mich nicht mehr von ihr an- und ausziehen lassen wollte, denn jene Spielkameradin hatte gesagt: "Wenn die Kleene neechstet Jah in de Schule jeht, muss se sich alleene anziehn könn nach n Sportuntaricht!"
Das nächste Kinderferienlager war in Burg bei Magdeburg. Wieder schliefen wir in Zelten, diesmal mit dicken Schlafsäcken. Im Vorjahr standen nur stachlige Strohsäcke zur Verfügung. Das Lager befand sich mitten im Wald, wo wir ausgedehnte Spaziergänge unternahmen. Die Gruppenleiterin erklärte uns den Unterschied zwischen Tanne und Kiefer und dann auch den zwischen Ober- und Unterkiefer, und wir amüsierten uns darüber, dass Bäume und Kopfteile miteinander verwechselt werden konnten. Bei diesen Waldspaziergängen sangen wir Lieder, von denen ich nur wenige kannte, denn ich hatte ja nicht den Kindergarten besucht, wo die anderen Kinder diese Lieder gelernt hatten. Über die Küchenlieder, die ich von Waltraud gelernt hatte, waren sie bass erstaunt, diese kannten sie nun wieder nicht und mochten sie auch nicht lernen. Dennoch habe ich mich in diesem Ferienlager sehr wohl gefühlt. Stressig war nur - wie jedes Jahr - die Heimfahrt. Die Züge waren stets total überfüllt und wir Kinder saßen in den Gängen auf unseren Koffern, wo wir den anderen Reisenden im Weg waren. Wir mussten so manchen Schimpf und mitunter sogar Tritte in Kauf nehmen.
Im nächsten Jahr ging die Reise an die Ostsee, und zwar an einen Ort, der mit Quallen reich gestraft war. Waltraud sagte: "Wenn de die anfäßt, det brennt schlimma wie Feua!" und so wagte ich es nicht, sie zu berühren. Dann sah ich, wie die anderen Kinder sich Quallen fingen und auf den Strand klatschten. Die Gallertkörper zerplatzten in viele kleine Stücke. Als sich die Kinder lange genug auf diese Weise unterhalten hatten und an Land blieben, ging ich ins Wasser, um zu sehen, ob ich an der Stelle, wo mir das Wasser bis zum Hals reichte, noch den Grund erblicken könnte. Da sah ich auf halbem Wege eine Qualle schwimmen. Ich fand es zauberhaft, wie sie sich durch das Wasser bewegte. Es war mir unverständlich, wie man so etwas Schönes als eklig bezeichnen und rücksichtslos vernichten konnte! Vorsichtig fing ich die Qualle ein, ich wollte wissen, womit sie mich wohl brennen würde - mit der glatten Oberhaut oder mit den Fransen am Unterteil? Sie brannte mich nicht, es kitzelte nur, als ich ihre Tentakeln berührte. Ich ließ sie ihres Weges schwimmen und ging tiefer ins Wasser hinein. Die Quallenpopulation wurde mit jedem Schritt dichter. Als ich versehentlich eine Qualle zertrat, war mir der Spaß am Wasserspaziergang vergangen und ich kehrte ans Ufer zurück.
Ein paar Tage später feierten wir das "Neptunfest". Die Gruppenleiter hatten uns aufgefordert, diesen besonderen Tag nicht in Alltagskleidung zu begehen, sondern uns irgendwie zu kostümieren. Ja, gerne, aber womit? Letztendlich kamen wir auf die Idee, unsere Röcke bis zum Hals zu ziehen und einen Gürtel um die Taille zu schlingen. Die Röcke waren damals so lang, dass sie auch so bis auf die Oberschenkel reichten. Wir waren also zwar phantasievoll, aber immer noch korrekt gekleidet. Am Strand bekamen wir kleine Schilfkronen aufgesetzt, und dann begannen die Taufzeremonien. Wir schauten eine Weile entsetzt zu, dann liefen Waltraud, ich und drei oder vier andere Kinder ins Lager zurück. Wir wollten nicht mit Schmierseife eingeseift, im Sand gewälzt und ins Wasser geworfen werden.
Wohin die nächste Reise ging, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, dass es ein total verregneter Sommer war und wir die meiste Zeit in der Stube hockten. Hier gab es kein "Neptunfest", sondern ein "Bergfest", zu welchem sich jede Gruppe etwas ausdenken sollte, das man als Kulturprogramm vorzeigen könnte. Da in unserer Gruppe eine Tanzelevin war, führte sie einen Tanz auf, zu welchem wir sangen: "Schmetterling, kleines Ding, sag, wovon du lebest? Blütenstaub, Sonnenschein, das ist die Nahrung mein!" Das Mädchen flatterte anmutig über die Bühne und bekam großen Beifall.
Eine andere Gruppe führte etwas mit dem Titel "Die letzte Frist" auf. Die Kinder hatten sich in ihre Schlafdecken gehüllt und schlichen zitternd und wehklagend über die Bühne. Als letztes Kind wurde ein kleines Mädchen in einem luftigen Sommerkleid sichtbar, das genüsslich an einem Apfel knabberte. Nun erst wurde klar: Es hieß nicht "Frist" sondern "frisst".
Waltraud bot etwas dar, das wir bei Lottes Hochzeit erlebt hatten. Sie schleppte einen Stuhl auf die Bühne, machte einen Knicks und begann mit strahlendem Gesicht: "Der Stuhl. Vorgetragen von mir." Dann tat sie so, als wäre ihr der Text entfallen, begann zu stottern und fast zu weinen, dann hellte sich ihre Miene wieder auf und sie sagte nach einem abermaligen Knicks: "Der Stuhl. Vorgetragen von mir, weggetragen von mir!" Das rief große Heiterkeit hervor und Waltraud wurde mit starkem Beifall belohnt.
In diesem Ferienlager gefiel es mir nicht so gut, nicht nur wegen des schlechten Wetters, sondern auch, weil es dort ein paar Kinder gab, denen ich unsympathisch war. Sie hänselten mich und wollten mich an einem Tag sogar verprügeln. Sie hatten mich an eine Mauer gedrängt, und als ich den Kopf wandte, um einem Hieb auszuweichen, schlug ich mir die Stirn blutig an einem Haken, der ausgerechnet an dieser Stelle aus der Mauer ragte. Nun ließen sie ab von mir. Ein Gruppenleiter behandelte die kleine Wunde und fragte mich, wie ich sie mir wohl zugezogen habe? Ich erklärte ihm, dass diese Kinder mir ständig nachstellten, Gott weiß, warum. Er redete mit ihnen und sagte, dass er sie nach Hause schickt, wenn so etwas noch einmal vorkommt. Von da an hatte ich meine Ruhe. Es blieb für mich unerfindlich, was sie an mir auszusetzen hatten. Sie waren zwei bis drei Jahre älter als ich und ich hatte mit ihnen überhaupt nichts zu tun.
Plötzlich schlug das Wetter um. Aus den Regentagen wurde eine derartige Hitzewelle, dass einige Kinder beim Morgenappell in Ohnmacht fielen, ich auch. Wir kamen in ein Krankenhaus, wo die meisten am anderen Tag wieder entlassen wurden, nur ich blieb fast vierzehn Tage, weil ich aufgepäppelt werden sollte. Einmal besuchten uns Matrosen. Ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich Matrosen waren, ich war nach den mitgehörten Unterhaltungen der erwachsenen Familienmitglieder der festen Überzeugung, dass es nach dem Krieg keine Schiffe und also auch keine Matrosen mehr gab. Ich höhnte: "Von wat for n Schiff kommt ihr denn? Vom Lastwarenschiff Landstraße, wa?" Daraufhin unterhielt sich natürlich keiner von ihnen mit mir und meine Zimmergenossin rügte: "Mußteste denn so aus de Rolle fallen?" Von ihr erfuhr ich nun, dass die DDR eine umfangreiche Flotte hatte und was mir entgangen war . . .
Vor dem Einschlafen sangen wir Lieder, die wir in der Schule gelernt hatten. Wir stellten fest, dass unsere Kenntnisse nicht einheitlich waren. So lernte sie von mir "Wenn alle Brünnlein fließen" und ich lernte von ihr "Bella ciau". Dieses Lied kannten zu meiner großen Freude auch Waltraud und Doris, so sangen wir es zusammen, danach fiel den beiden Mädchen noch "Der kleine Trompeter" ein. Damit erschöpften sich ihre Kenntnisse von Arbeiterkampfliedern, bzw. sie mochten die anderen nicht singen. Es ging weiter mit "In einem Polenstädtchen" oder "Der schwarze Zigeuner". Spätestens nach dem fünften Lied begann Doris Scherzlieder zu singen, z. B.: "Widdewiddewitt, mein Mann is krank, widdewiddewitt, er liecht im Schrank, widdewiddewitt, den Dokta holn, widdewiddewit, den Arsch vasohln!"
Nachdem ich nicht mehr mit Waltraud ins Kinderferienlager fahren konnte (in den drei letzten hat sie sich so gut wie gar nicht um mich gekümmert) fragte ich Irma, wie die Ferienreisen überhaupt zustande kommen. Sie sagte, dass derjenige, der das staatliche Kindergeld empfängt, auch die Reise beantragen muss. Ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, wer das staatliche Kindergeld für mich empfing. Nach meines Vaters Tod erhielt jedenfalls Ida die Halbwaisenrente für mich. Und sie war recht froh darüber, dass ich nicht darauf bestand, zu verreisen.
Inzwischen war meine Mutter die einzige, die noch bei DEGUFA arbeitete. Alle anderen hatten der "stinkenden Bude" längst "Ade" gesagt. Hätte ich ins Ferienlager fahren wollen, hätte Ida mit meiner Mutter reden müssen. Das wollte sie nicht, also blieb ich daheim.
1951 führte Waltraud mich zur "Degufanier-Kindergruppe". In einem kleinen Clubraum des Verwaltungsgebäudes versammelten sich Kinder unterschiedlichen Alters, um zu basteln, Lieder zu singen und dann sogar ein Theaterstück einzustudieren, in welchem ich die Rolle eines Baumes bekam. Ida verhöhnte mich dafür und auch Waltraud, die nur in den ersten Wochen mitgekommen war. Ich erklärte vergeblich, dass die Rolle des Baumes ebenso wichtig war wie die der Waldtiere. Das Stück wurde zur nächsten Kinderweihnachtsfeier aufgeführt, ein modernes Märchen, welches den Umweltschutz mit einschloss.
Die Gruppenleiterin - eine freundliche, wohlgerundete Mittfünfzigerin - lehrte uns auch russische Volkslieder in deutscher Übersetzung: "Abendklang", "Suliko", "Steppe ringsumher", "Das Glöckchen", "Katjuscha" und "Kalinka". Ich fand sie alle wunderschön und freute mich, mitsingen zu dürfen. Überhaupt hatte ich in dieser Kindergruppe viel Spaß und verpasste keine Zusammenkunft. Doch eines Tages sagte die Leiterin: "Das ist heute unser letzter Tag. Ich darf die Gruppe nicht länger betreuen. Tretet der Pionier-Organisation bei, da gibt es auch Bastelabende und Lieder und Laienspiel. Betriebseigene Kindergruppen werden von staatswegen nicht mehr geduldet." Sie war den Tränen nahe. Die eingefleischte Kommunistin war vor die Wahl gestellt worden, entweder ihre Arbeit bei DEGUFA aufzugeben und Pionierleiterin zu werden, oder die Arbeit mit den Kindern aufzugeben. So endeten meine Besuche bei DEGUFA. Nur einmal schlich ich mich Jahre später auf den Hof, um die Skulptur zu betrachten, die Grete P. von meiner Mutter angefertigt hatte.


Essen und Trinken

1944 war es schwierig, einen Säugling aufzuziehen. Um so unverständlicher ist es mir, daß Ida mich von der Mutterbrust trennte, die noch lange für mich gefüllt gewesen wäre. Ida lästerte, als ich (elfjährig) danach fragte: "Deine Mutta hatte Milch wie ne Kuh!" Mein Fläschchen bestand aus Wasser, Zucker und Mehl. Ich gedieh dann doch. In den nächsten Jahren erwies Ida sich als perfekte Hausfrau: Zur Mittagszeit stand immer ein warmes Essen auf dem Tisch, es gab immer ein Frühstück (von 1947-54 bestand es aus "Kaffeesuppe" - hier wurden zwei Schwarzbrotscheiben in einen Suppenteller gebrockt und warmer Kaffee-Ersatz darüber gegossen. Mit zwei Esslöffeln Zucker angereichert schmeckte es gut) und auch immer ein Abendbrot, ein jegliches mit Tischgebet.
Ich weiß nicht mehr genau, was wir in den ersten Nachkriegsjahren aßen, aber von 1950 bis 58 ist mir erinnerlich, dass sich selten ein Gericht innerhalb eines Monats wiederholte, es sei denn, dass seine Reste aufgewärmt wurden. Das kam oft vor. Ich hatte eine Aversion gegen Grünkohl, Wirsingkohl, Weißkohleintopf (gekocht und dann geschmort aß ich Weißkohl gern!) sowie gegen Graupen und Brühreis. Nur Prügel konnten mich dazu bringen, dieses zu essen. Ida fügte sich nach mehreren Versuchen und servierte mir Kartoffelbrei, während sie den Kohleintopf aß. Damit war ich zufrieden. Es waren zwar nicht gebratene Zwiebeln und Speckwürfel hinein gegeben worden, wie es bei "Speckkartoffeln und dicke Milch" üblich war. Das gab es im Sommer, wo die Milch schnell geronn. Ich konnte kaum genug bekommen. Erst die herrlich fetten Speckkartoffeln und dann noch die große Schüssel (ein halber Liter) dicke Milch, die ich ganz vorsichtig leerschaufelte, um zu verhindern, dass die Molke das Festgewordene umstürzte. Für mich war diese Mahlzeit gleichzeitig ein Märchenland.
Also, was aßen wir in jenen Jahren? Zu den Feiertagen gab es Kaninchen aus eigener Zucht, Hähnchen, Mischgoulasch (Rind- und Schweinefleisch sowie Kassler) und einmal sogar eine Gans.
Der Sonntag wurde gefeiert mit Rinderherzen, Lungen, Lebern, Nieren, Bouletten (Frikadellen), Kohlrouladen, Koteletts, Rindsgoulasch, Schweinegoulasch, Rippchen, gebratener Schweinebauch, "Falscher Hase" (eine Riesenfrikadelle), Rinderrouladen oder Kassler.
Freitags gab es natürlich Fisch. Heringe, Schollen, Flundern, Rotzungen, Rotbarschfilet, Kabeljaufilet, Karpfen, Pellkartoffeln mit Delikatess-Hering, der in Öl eingelegt war, Bratkartoffeln mit saurem Hering (selbst eingelegt! und wenn Rogen und Milchen in den grünen Heringen war, dann wurden sie gebraten und als Delikatesse verspeist).
An Wochentagen verteilte die Kelle Erbsen (grüne oder gelbe), Bohnen (grüne oder weiße), Haferflocken, Grießbrei, Milchreis, Linsen, Nudeleintopf mit Suppengrün und Knochenmark (Waltraud ekelte sich vor dem fetten Mark, Ida aber sagte: "Det jibt Kraft!" Ich wollte groß und stark werden, also aß ich es mit Begeisterung), Blumenkohlsuppe (Blumenkohl diente manchmal auch als Beilage), Kartoffelsuppe, Milchnudeln, Zwiebelsuppe, Kohlrabieintopf, Kohlrüben, Möhren.
Einmal in der Woche gab es zur Abwechslung Kartoffelbrei mit Spiegelei, Spinat mit Ei (sie legte die gekochten Eier neben die Kartoffeln; 1957 schenkte ihr die Freundin meiner Mutter einen Eierschneider, so konnte sie das Ei scheibenweise über den Spinat legen, das sah hübsch aus), Sauerkraut mit Bratwurst, Blutwurst, Eisbein, Spitzbein, Dickbein (die drei letztgenannten mit Kartoffel- oder Erbspürree); Eierkuchen, "Arme Ritter" (hier wurden alte Brötchen in Scheiben geschnitten, in Milch geweicht und in gequirltem Ei paniert), Bollenfleisch (Schafsgoulasch), Pellkartoffeln mit Weißkäse (er wurde mit Leinöl und Zwiebeln angereichert und mit Pfeffer und Salz gewürzt, in den späten 50ern gab es noch ein Stückchen Butter dazu), Bratkartoffeln mit Sülze (selbst gemacht!), russische Eier, Bratkartoffeln mit Rührei, Kartoffelklöße mit Birnenkompott, selten Pilze, aber oft die unvergleichlichen Kartoffelpuffer. Waltraud mochte bei gekochtem Ei das Weiße nicht, so tauschten wir. Sie bekam mein Eigelb und ich ihr Eiweiß.
Solange Waltraud bei uns wohnte, gab es zum Sonntagsessen auch Kompott oder einen Pudding. Ida kannte mehrere Arten von Pudding - den normalen aus Puddingpulver und Milch, Götterspeise mit Vanillesoße und Grießflammerie - einer so lecker wie der andere. Und solange Waltraud bei uns wohnte, gab es am Sonntag auch Kaffee und Kuchen. Danach gab es am Sonntag zum Frühstück "Schnecken" oder "Plunderstücke", je nachdem, was ich am Sonnabend vom Bäcker holen sollte.
Steckte Ida sich einen Packen Zeitungspapier ein, wusste ich, dass wir zum Fischgeschäft gehen. Die Verkäuferin freute sich über das schöne Einwickelpapier. Nach 1952 wurde Ida der Gang zum Fischgeschäft zu beschwerlich. Mich Achtjährige schickte sie nicht mehr hin, nachdem ich mir beim ersten Versuch von der Händlerin statt der geforderten Schollen (sie waren an jenem Tag nicht vorrätig) Flundern verkaufen ließ, wobei sie mir auch noch die allerkleinsten aussuchte.
Aber auf den Sylvesterkarpfen wollte Ida nicht verzichten. Sie schickte mich mit einem Deckeleimer los, um einen lebenden Karpfen zu kaufen, so war es Brauch. Der Sylvesterkarpfen wurde Sylvester geschlachtet. Oft schwamm er tagelang in unserer ansonsten funktionslosen Badewanne herum. Ich sagte auftragsgemäß zu der Verkäuferin, dass ich einen Karpfen nicht unter fünf Pfund zu kaufen wünsche, hielt ihr den Eimer hin und ließ mir das Tier samt Wasser einfüllen. Schon beim Betreten des Ladens hatte ich den Geldschein aus der Tasche geholt, um ihn zur rechten Zeit parat zu haben. So sah die Verkäuferin, dass es seine Richtigkeit hatte. Sie gab mir das Wechselgeld (wenige Münzen) und bemitleidete mich, dass ich nun so schwer zu tragen habe.
Ich aber war guten Mutes und meiner Sache sicher: Es war ein Deckel auf dem Eimer, was konnte schon geschehen? Der Eimer war sehr schwer, ich konnte ihn nur mit beiden Händen tragen. Ein kurzes Stück half mir ein mir unbekannter Mann, der sich sehr darüber wunderte, dass ein so kleines Kind einen derartigen Einkauf zu tätigen hatte. In dieser Zeit lag der Fisch betäubt in seiner Falle. Als ich ihn dann wieder schaukelnd trug, erwachte er zu neuem Leben. Mit einem kurzen Schwanzhieb entdeckelte er das Gefäß (wobei ich pitschnaß wurde) und begab sich auf das vereiste Straßenpflaster.
Glücklicherweise war auch hier ein Mann mit zupackenden Händen zur Stelle, der mir das Tier wieder in den Eimer tat. Da der Fisch nun nicht mehr genügend Wasser vorfand, verhielt er sich ruhig, bis er in die Badewanne gesetzt wurde. Ich war sehr froh, dass ich nicht mit einer Leiche nach Hause kam. So hatte ich verstanden, dass ich nicht nur das Mindestgewicht, sondern auch das Höchstgewicht anzugeben hatte. Im nächsten Jahr brachte ich nicht nur mehr Wechselgeld, sondern auch einen putzmunteren Karpfen nach Hause.
Ida hatte es direkt schwer, ihn zu töten. Nach dem dritten Betäubungshieb sprang er noch vom Küchentisch und suchte unter der Anrichte Schutz, wo Irma ihn hervorholte. Endlich konnte Ida die Kehle durchschneiden und das Blut in einer Schüssel auffangen, denn sie benötigte es für die Soße. Karpfen sind dazu da, gegessen zu werden. Und Fischblut ist kein richtiges Blut, es ist kalt.
Ich freute mich auf die Mahlzeit. Ich bekam, wenn Waltraud mit uns aß, das Schwanzende, sie das Mittelstück und Ida das Kopfstück. Das empfand ich als gerecht. Ida war die Klügste von uns, ihr stand der Kopf zu, Waltraud mochte keine Gräten, also bekam sie das Stück mit den wenigsten Gräten, ich genoss es, Fisch zu essen, also nahm ich die Gräten in Kauf.
Ich beobachtete, wie Ida sorgfältig das Fleisch vom Fischkopf verspeiste, wie sie jeder genießbaren Faser nachspürte, wie sie letztendlich den Kopf auseinanderbrach und das Gehirn schlürfte. Ich hätte das später gern nachvollzogen, aber um 1960 wurden Karpfen nur noch ohne Kopf verkauft. Und ich wusste auch gar nicht, wie man "Karpfen Blau" kocht. Ich durfte nicht zusehen, und die Kochbücher waren mir unverständlich. Gut, ich wusste, was "eine Prise" ist, auch "ein Teel." bzw. "ein Eßl." sind mir geläufig, doch bei "eine Tasse" komme ich in Verlegenheit. Wie voll darf die Tasse sein? Bis zum Stehkragen oder zwei Zentimeter unter der Oberkante? Und dann noch die vielen mir unbekannten Gewürze!
Damals jedenfalls blieben von unseren Fischmahlzeiten nur die Gräten übrig. Die Haut wurde mitverspeist. Auch auf der zähen Haut der Bücklinge knautschten wir herum, bis sie mürbe war.
Es mochte 1948 gewesen sein, als Ida mit mir zur "Freibank" ging. Sie hatte eine Postkarte bekommen, auf der ihr Anspruch auf Freibankware bescheinigt wurde und an welchem Tage sie abzuholen sei. Ich staunte über die große Anzahl von Menschen, die sich in einer langen Viererschlange angestellt hatten, um ihre Ware in Empfang zu nehmen. Viele brachen zusammen, bevor sie an der Reihe waren, denn es war ein schreckliches Gedränge. Die meisten schimpften und stritten miteinander und mit den Verkäuferinnen, die nach kurzem Blick auf die Postkarte wahllos irgendwelches Fleisch und Wurst in Zeitungspapier schlugen und über die Theke reichten. Selten war jemand mit dem, was er erhielt, einverstanden. Ida war eine der wenigen, die "Dankeschön" sagten. Ihr war es einerlei, was sie erhielt; was wir nicht verbrauchten, reichte sie an Familie L. weiter, die dafür sehr dankbar war.
Zum nächsten Gang zur Freibank bevollmächtigte sie Grete L., den Einkauf zu tätigen. Das klappte einige Monate zur Zufriedenheit beider Parteien, doch bald erschien Grete L. der Anteil, den sie dabei erringen konnte, als zu gering. Und das, was sie an Ida ablieferte, entsprach nicht unseren Bedürfnissen. Nun warf Ida die Ankündigungen der Freibankbezüge in den Müll. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich als Erwachsene selbst dort Schlange stehen würde für meine Familie!
Kurz vor meinem sechsten Geburtstag bat Grete L.: "Oma, jib mir doch mal det Rezept for deine schöne Kohlrolaan." Ich wusste, was ein Rezept ist, nämlich ein kleines Stück Papier, wo der Onkel Doktor aufgeschrieben hat, was Oma sich aus der Apotheke holen sollte. Ich kicherte nun also: "Seit wann jibt det denn in de Appoteeke Mittach?" Grete L. runzelte die Stirn: "Wir ham jetz keene Zeit for deine blödn Witze." und Ida wies mich aus der Küche. Erst, als ich Irma mein Leid klagte, erfuhr ich den Unterschied zwischen einem Rezept vom Arzt und einem Kochrezept.
Zwischen 1948 und 52 wurde im "RIAS" behauptet, dass die Ostdeutschen hungern müssen, und es wurde eine Hilfsaktion ins Leben gerufen, wonach sich jeder Ostdeutsche ein Paket mit Lebensmitteln abholen konnte. Ich weiß nicht, von wo diese Pakete abzuholen waren. Grete L. stürzte sofort mit der ganzen Familie los, denn sie konnte sich ein solches Geschenk unmöglich entgehen lassen. Ida war der Weg zu weit, Irma sagte: "Ick bin nich so arm, det ick betteln jehn muss!" und Gerda hatte nicht einmal für ihre Tochter etwas bekommen, weil sie nicht in ihrem Ausweis eingetragen war. Grete L. ging dann noch einmal los, um mit gefälschten Papieren etwas zu ergattern, dann schickte sie - aus Angst, erkannt zu werden - ihre älteste Tochter, um für Ida, Waltraud und mich etwas zu erbeuten. Gitta kam dann auch mit drei Paketen, in denen sich zwei Büchsen Schmalzfleisch, zwei Päckchen Bouillon-Würfel, ein Pfund Zucker, ein Pfund Mehl und ein Brocken Trockenmilch befanden. Das waren die Standard-Päckchen. Man konnte auch Glück haben und in seinem Päckchen ein Pfund Kaffee, ein Päckchen Kakao, eine Büchse Ölsardinen, Fleisch- oder Wurstkonserven finden. Grete L. hatte dieses Glück. Ida bemängelte die liederliche Verpackung unserer Päckchen - sie waren halb aufgerissen. Auch hatte sie sich einen anderen Inhalt vorgestellt, nachdem ihr erzählt worden war, was alles in den Päckchen enthalten sein konnte. Vielleicht mutmaßte sie, dass Grete L. den Inhalt manipuliert hatte, aber sie konnte ihr nichts nachweisen. Nun, Mehl und Zucker konnte man immer gebrauchen, das Schmalzfleisch kam auf die Stullen bzw. in den Eintopf, die Bouillon-Würfel waren dem Eintopf ebenfalls sehr zuträglich oder wurden von Ida als abendliche Stärkung aufgebrüht und die Trockenmilch lutschten wir Kinder mit Begeisterung auf.
Wochentags gab es Eintopf, die Fleischmahlzeiten an Sonn- und Feiertagen. Der Sparsamkeit verpflichtet (ob der geringen Rente), kochte Ida häufig den Eintopf auf Vorrat, sodass er mitunter sogar für vier Tage reichte. Da mokierte ich mich 1956: "Wat denn, schon wieda die Erbsn von vorjestan?!!" und Ida reagierte: "Bei dir soll det woll imma nur Jesottnet un Jebratnet jeehm, wat? Dafor ham wa keen Jeld nich, du Dussel!" Da ich inzwischen seit einiger Zeit für uns einkaufen ging, kannte ich in etwa die Preise und beschwichtigte: "Bratwurscht is billich, Schweinebauch, Speckkatoffiln Blutwurscht, - un Kohlrühm! Wenn schon Eintopp, denn koch doch ma wieda Kohlrühm!" Sie erkannte, dass es mir nicht darum ging, etwas Kostenaufwendiges zu genießen und gestaltete den Speisenplan dementsprechend. Es freute sie, zu sehen, dass mir die "Wruken" schmeckten, von denen sie in der Nachkriegszeit mehr als genug essen musste. Sie kochte später sogar "Gefüllte Paprikaschoten", etwas für sie "Neumodisches", nach einem Rezept der Freundin meiner Mutter. Sie schmeckten uns allen. Ebenso die "Jägerschnitzel" - in Scheiben geschnittene und wie Kotelett behandelte Jagdwurst.
Als Vorschulkind habe ich ihr oft in der Küche helfen wollen, aber sie wies mich zurück: "Det kannst de nich, dafor bist de zu kleene!" Als ich älter wurde, sagte sie: "Dazu bist de zu deemlich!" So hatte ich nur selten Gelegenheit, einen Blick auf die Küchenarbeit zu werfen. Einmal sah ich zu, wie sie Koteletts panierte. Erst klopfte sie sie mit einem Fleischklopfer weich, dann wurden sie gepfeffert und gesalzen, danach in gequirlten Eiern und zuletzt noch in Paniermehl gewälzt. Das tat sie alles mit den Fingern, die sie zuletzt ableckte, damit nichts verloren ging. Einige Jahre später sah ich bei der Mutter meiner Freundin, dass man das Fleisch auch panieren kann, wenn man es mit der Gabel bewegt. Auch auf diese Weise geht nichts verloren. In dieser Familie kamen auch diverse Milchmixgetränke auf den Tisch, auch Zuckereier (steif geschlagenes Eiweiß, mit unterschiedlichen Obstsäften versetzt). Das bezeichnete Ida als ekliges Gemansche, mir aber hatte es sehr gut geschmeckt.
Selbst, als es uns in den späten 50ern wirtschaftlich besser ging, knabberten wir auch die letzte Fleischfaser von Kotelett- und anderen Knochen. Wenn Manfred gefragt wurde: "Wo is n Paul?" oder: "Wo is n Christa?", dann antwortete er grinsend: "Uff n Friedhof, Knochen knabbern!"
Als ich zwölf Jahre alt war, hatte Ida Grete L. gebeten, ihr vom Marktgang 5kg grüne Bohnen mitzubringen. Diese große Menge konnte sie nicht mehr alleine an einem Tag putzen und kochen. Ich durfte ihr dabei helfen. Sie zeigte mir, wie es zu machen war und ich hatte sogar Spaß daran. Die Arbeit ging gut voran und ich begann, mit Ida zu plaudern. Doch sie interessierte sich nicht im geringsten für das, was ich von meinen Erlebnissen in der Schule und auf meinen Spaziergängen erzählte. Sie sagte bald: "Halt die Klappe!" So schwieg ich eine Weile. Dann sah ich, dass die Arbeit noch sehr lange dauern wird. So schlug ich vor, dass wir zusammen singen, um die Zeit zu verkürzen. Ich nahm an, dass Ida außer den Kleinkinderliedern, die sie früher mit mir sang, auch andere kannte. Gern hätte ich neue Lieder von ihr gelernt. Sie aber sagte: "Mir is nich nach sing zumute." Da sang ich alleine Volkslieder. Ich hoffte, ihr eine Freude zu machen. Als ich das vierte Lied anstimmte, wies sie mich aus der Küche, weil mit mir "blödem Jör" überhaupt nichts zu anzufangen war.
Ida hatte es zwar nicht verstanden, mich zur Hausfrau auszubilden, aber sie war noch immer empfänglich für neue Rezepte. "Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen." Ich wurde ein guter Esser - d.h. in meinem Fall, dass ich gerne esse, was mir vorgesetzt wird. Selber kochen ist mir ein Graus. Für meine Kinder musste ich kochen, als sie der Brust entwachsen waren. Ich war da leider nicht wie meine Mutter gesegnet wie eine Kuh. Aber es gab inzwischen abgepackte Kindernahrung: Milasan für das Fläschchen und für die nachfolgenden Monate Babybrei-Gläser, viele unterschiedliche für jeden Lebensmonat. Ich habe sie alle gekostet und als schmackhaft empfunden. Namentlich Spinat mit Leber, das wärmte ich mir selber gern als Mahlzeit auf.
Später habe ich mich daran zu erinnern versucht, auf welche Weise Ida ihre wohlschmeckenden Mahlzeiten zustande brachte. Der erste Braten, den ich für mich garte, war mir so gründlich daneben geraten, dass ich nie wieder ein Pfund Fleisch ungeschnitten kaufte. Auch die ersten Kuchen, die ich 25jährig buk, wurden ausnahmslos "Brandenburger", d.h., ich musste eine gewisse Schicht Kohle von ihnen herunterkratzen, bis das Genießbare zum Vorschein kam. Meine Eintöpfe waren gewöhnlich zu schwach gewürzt, nachdem ich den ersten tüchtig versalzen hatte. Nachsalzen kann man immer, aber etwas Versalzenes kann man nur noch wegschütten.
Doch zurück zu 1948. Wenn wir Kinder auf der Straße spielten, erblickten wir so manches Kraut. Eines nannten wir "Käseblume", denn seine Früchte sahen aus wie eine Schachtel mit Käseecken. Diese Früchte - ca. 4 mm im Durchmesser - waren genießbar, wenn man die äußeren Blätter entfernte. Dann gab es noch eine Pflanze, deren dreieckige Blätter wir aßen. Sie hatte eine weiße Doldenblüte, hielt sich in der Vase aber nur einen Tag. Auf den Sauerampfer stürzten wir uns wie die Ziegen! Und wenn im Frühsommer die Linden blühten, brachen wir ganze Äste ab, um uns an den süßen Blüten gütlich zu tun. Sehr erfreut waren wir, wenn wir Kirsch-, Pflaumen- oder Pfirsichkerne auf der Straße fanden. Sie wurden geknackt und das Innere gegessen, wenn es auch noch so bitter schmeckte. Aber niemals aßen wir Brot, das jemand weggeworfen hatte. Wenn Ida erfuhr, was wir auf der Straße gegessen hatten, wurde sie fuchsteufelswild und schimpfte: "Ihr werdt eich noch vajiftn, ihr Dreckfressa!"
Ida schnitt mir meine Stullen in kleine Stücke, die sie "Schäfchen" nannte. Sie fütterte mich mit den "Schäfchen", bis Irma sagte: "Wie lange willste denn det noch machen, die Christa is doch längst alt jenuch, um alleene zu essen!" Ida antwortete: "Is se nich, die krümelt ja wie varückt!" Aber dann meinte auch Gerda, dass ich nie vernünftig essen lernen würde, wenn ich weiterhin gefüttert werde, so durfte ich endlich mein Brot selber in die Hand nehmen. Aber ich krümelte wirklich "wie verrückt", ich weiß nicht, wie das zustande kam. Vielleicht war mein Spieltrieb stärker als mein Hunger.
Mein Pausenbrot in der Schule aß ich - oh Wunder! - ohne zu krümeln. Nach einigen unguten Erfahrungen zog ich mich mit meiner Klappstulle in einen Winkel zurück, aus welchem ich meine Klassenkameraden beobachten konnte, um sicherzustellen, dass sie mir nicht die Hälfte stahlen. Das hatten sie getan, aber nicht, weil sie meine Stullen essen wollten, sondern nur, um sie zu zertreten. Dass sie mein Brot zertraten, wertete ich als feindliche Aktion. Essen war für mich Leben.

Die Freundin meiner Mutter

Sie hieß Grete P. und hatte meine Mutter im Winter 54 beim Schneefegen kennen gelernt. Grete wollte ihre karge Schwerbeschädigtenrente aufbessern, um öfter kultureller Genüsse teilhaftig zu werden. Sie war Diabetikerin, durfte also nur bestimmte Lebensmittel konsumieren, von denen einige durchaus nicht billig waren. Sie ging aber sehr gern in Museen, Theater und Konzerte und unternahm weitläufige Ausflüge. Grete war es, die die abseits sitzende Elly ansprach. Nachdem sie einige Tage Belangloses geredet hatten, fasste Elly Zutrauen zu ihr und erzählte aus ihrem Leben, so auch den Grund, weshalb sie, die sie doch eine gut bezahlte Arbeit bei "DEGUFA" hatte, zusätzlich zum Schichtbetrieb noch Schneefegen geht: Sie hatte die Schulden ihres einsitzenden Mannes abzutragen. Grete P. war jahrelang Schreibkraft in Anwaltskanzleien und kannte die Gesetze. Sie versicherte meiner Mutter, dass die Ansprüche längst verjährt waren, und mit Hilfe von Grete P. konnte meine Mutter sich aus der Schlinge des Gesetzes befreien.
Aber das alles erfuhr ich erst sehr viel später. Zunächst einmal schickte man mich los, um diese Freundin ausfindig zu machen. Meine Mutter hatte oft Grete L. besucht, in der Hoffnung, mich zu sehen, und brachte immer eine Flasche Schnaps mit, um Grete L. freundlich zu stimmen. Nun blieben diese Besuche - und vor allem die Flasche Schnaps! - aus, und ich sollte nach der Ursache forschen. Ich ging also in die Lehderstraße und klingelte an jeder Haustür ab Nr. 80, weil Grete L. die Hausnummer nicht genau kannte, aber zwischen 80 und 94 angab. Nachdem ich an vielen Türen vergeblich geklingelt hatte, erzählte mir eine Frau, dass "Grete" ein Modename war und dass darob sehr viele Frauen "Grete" heißen. Ich war entmutigt. Als nächste Hilfe wusste ich nur, dass der Name der Freundin meiner Mutter auf "Kopf" endete. "Paddenkopp" hatte Grete L. grinsend gesagt. Ich fand sie jedenfalls nicht, ich gab auf, bevor ich die richtige Hausnummer erreichte, denn sie bezeichnete ein unscheinbares Hinterhaus. Das Vorderhaus war vom Krieg weggerissen worden, so stand das Hinterhaus frei, also einige Meter von der Straße entfernt. Ich hatte nicht die Kraft, einige Meter von der Straße entfernt und außerhalb der angegebenen Hausnummer nach der Freundin meiner Mutter zu suchen, auch wollte ich sie nicht den Ls. preisgeben. Ich ging unverrichteter Dinge nach Hause und ließ mich ausschelten. Ein paar Tage später begegnete ich meiner Mutter auf der Straße und fragte sie, wo ihre Freundin wohnt und auch, ob ich sie wohl besuchen darf. Ich wurde freundlich eingeladen. Mein erster Besuch bei ihr ist mir nicht vollinhaltlich in Erinnerung, ich erkannte nur, dass sie stark jener Lehrersfrau ähnelte, der ich als Siebenjährige begegnet war.
Ida tolerierte, dass ich bei Grete P. meine Hausaufgaben machte, bei denen sie mir ohnehin nach dem zweiten Schuljahr nicht mehr helfen konnte, und ich genoss es, mit einer Frau zu reden, die auf jede Frage eine Antwort hatte, und wenn nicht, dann doch wenigstens ein Lexikon, worin Auskunft geschrieben stand.
Es wurde ein Tag vereinbart, wo ich mit "Jreete" (Ida verlangte plötzlich nicht mehr, dass ich "Tante" zu sagen hatte!) Hausaufgaben machen durfte. Auf diesen Tag freute ich mich unbändig und hielt pünklichst jede Verabredung ein. Tante Grete - wie ich sie freiwillig und sehr gerne nannte - war völlig anders als die Menschen in meiner näheren Umgebung. Sie besaß eine umfangreiche Büchersammlung und ihre Wohnungseinrichtung war funktional; alles befand sich dort, wo es gebraucht wurde. Ihre Wohnung war sehr klein, eine Stube mit Balkon (insgesamt etwa 14 Quadratmeter) und eine Küche von ca 8 Quadratmetern. Die Toilette war eine halbe Treppe tiefer, an eine Dusche oder ein Bad war nicht zu denken. Grete P. ging im Bedarfsfall in die Gartenstraße, in das große "Volksbad", wo sich jeder für ein gewisses Entgelt eine Stunde lang in einer Badewanne aalen konnte. Wir tauschten unsere Erfahrungen über das Bad in der Gartenstraße aus, und sie sagte, dass sie unter diesen Bedingungen ebenfalls nicht schwimmen gelernt hätte. Sie hatte es von einer Freundin gelernt, als sie zehn Jahre alt war. Meiner Abneigung dem Sportunterricht gegenüber begegnete sie mit den Worten: "Ein ungebildeter Körper ist ebenso gemein wie ein ungebildeter Geist." Dieses Zitat aus dem griechischen beeindruckte mich zwar stark, half mir aber nicht. Gut, ich bewegte mich nun öfter als nötig, begann sogar mit einem Frühsport, wofür ich von Ida ausgelacht wurde. Mein Bruder Paul - der mir nun auch in Gretes Wohnung begegnete - tönte: "Sport is Mord!" und ich schloss mich seiner Meinung an. Ich war von Ida so sehr auf "stillsitzen" und "leise sein" dressiert, dass ich lebhafte Bewegungen vermied. Ich vermute heute, dass Pauls Spruch nur den Leistungssport meinte, aber damals bestärkte er mich darin, dass es besser ist, mich möglichst wenig zu bewegen. Tante Grete sagte: "Bewegung stählt den Körper und hilft dem Geist auf die Sprünge!" Ich wusste, dass ich meine Muskeln nur im äußersten Notfall einsetzen würde, und mir war eingeredet worden, dass mein Geist nicht vorhanden war. Wozu sollte ich mich bewegen?
Und dass meine dicken Knie durch Massage dünner werden würden, hielt ich für absolut abwegig. Ich spürte doch, dass der eine Knochen sich nicht innerhalb der Kniescheibe befand. Was sollte ich da massieren?
In ihrer Wohnung gab es auch eine Blumenecke, wie ich sie nirgends sah: Grete hatte alles, was sie von Spaziergängen mitgebracht hatte - knorrige Wurzeln, hübsche Steine, Muscheln u.v.a. - zwischen den Blumentöpfen arrangiert, und auch kleine Keramiken, Vasen, Scherenschnitte und Püppchen dazwischen gestellt. Die Rankenpflanzen ließ sie bis auf die Zimmerdecke wachsen, wo sie eigens dazu Haken einschlug.
Sie liebte die Natur sehr. Von ihrem kargen Geld kaufte sie manchmal Vogelfutter, streute es vom Balkon bis in ihre Stube und beobachtete dann, reglos im Bett sitzend, die Vögel, wie sie sich immer weiter ins Zimmer hineinwagten. Sie freute sich, wenn sehr scheue Singvögel sich so ganz aus der Nähe betrachten ließen. Sie fertigte - im Bett - unzählige Zeichnungen von Singvögeln an.
Später kaufte sie sich ein Pärchen weißer Mäuse, die sich aber so schnell vermehrten, dass sie sich nach einem Jahr entschließen musste, die neuen Würfe zu töten. Der Tierpark nahm als Schlangenfutter nur attestierte Tiere an, und Grete sah sich außerstande, das Gesundheitsattest beizubringen. Die Mäuse hatten bei ihr totale Narrenfreiheit. Sie bastelte für die Mäuse lange Leitern, auf denen sie bis auf den Küchenschrank hinauf klettern konnten. Sie kannte jede Maus und rief sie beim Namen. Manche Mäuse hörten sogar auf ihre Namen! Niemals kam ihr eine Maus abhanden. Sie schmuste mit den Tieren, worüber ich mich nur wundern konnte. Ich ekelte mich zwar nicht vor Mäusen, aber Ida hatte mich gelehrt: Tiere küsst man nicht!
Tante Grete entdeckte ihr Herz für die Malerei und fertigte von uns allen Portraits, teils als Kohlezeichnung, teils als Pastell. Sie verwendete jedes Stückchen Papier für ihre Zeichnungen, auch das dunkelste Packpapier. Sie belegte Mal- und Zeichenkurse an der Volkshochschule, zu denen sie auch meine Mutter und mich mitnahm. Wir behaupteten zwar, nicht zeichnen zu können, aber Grete machte uns Mut, und wir staunten, was wir alles zustande brachten! Aber sie war die Talentierteste, ihre Werke wurden letztendlich sogar ausgestellt. Dann wollte sie auch plastisch arbeiten und belegte einen entsprechenden Kurs. Nach etlichen Gebrauchsgegenständen modellierte sie die Büste meiner Mutter. Sie ist ihr so gut gelungen, dass "DEGUFA" die Arbeit kaufte.
Tante Grete beeindruckte mich zutiefst mit dem Ausspruch: "Was du nicht willst, dass man es dir tut, das füg auch keinem andern zu!" Wie viel wäre mir erspart geblieben, hätten die Menschen in meiner Umgebung diese Maxime befolgt! Daher bemühte ich mich, niemals aggressiv zu sein, sondern jedermann behilflich.
Für die "Lorelei" hatte sie nicht nur eine andere Melodie, sondern auch einen anderen Text:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin, dass ich so traurig bin,
ein Märchen aus uralten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Und die Luft ist kühl und dunkel, jeder Stern am Himmel funkelt
und so ruhig fließt der Rhein in das Binger-Loch hinein,
der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet dort oben wunderbar, dort oben wunderbar!
Ihr goldnes Geschmeide blitzet, sie kämmt sich ihr goldenes Haar.
Und sie kämmt sich mit dem Kamme und sie wäscht sich mit dem Schwamme,
und sie singt ein Lied dabei, und sie singt ein Lied dabei,
das hat eine wundersame, gewaltige Melodei.
Den Fischer im kleinen Schiffe,
den ergreift s mit wildem Weh, den ergreift s mit wildem Weh!
Er sieht nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh!
Dabei macht er falsche Griffe und da kippt er aus dem Schiffe
und da kippt er aus dem Kahn in den tiefen Ozean!
Und das hat mit ihrem Singen diese lausedeibel Lorelei getan!
Auch "La Paloma" wurde von ihr parodiert:
Ein Seemann bin ich von echtem Schrot und Korn!
So oft wie ich war keiner noch bei Kap Hoorn!
Wie blau ist das Meer, und blau bin ich meistens auch!
Ein Seemann ist trinkfest, das ist bei Neptun Brauch!
Und wenn wir dann mal nächtlich von Bord runtersch...
hat uns manchmal n Haifisch in n Arsch jebissen!
Packten wir mal so n Biest bei Schwanz und Flossen,
kricht er ne Kanne Rum ins Maul gegossen.
Schreit der Hai: "Save our soul!"
Kricht er noch Whisky ins Maul!
Fällt zurück in den Pütt, jammert: "Igittigitt, igittigitt!"
Tanzt besoffener Hai auf der wogenden Sai -
La Paloma - o hei owei, ohei o wei!
Sie hatte auch etliche kernige Sprüche parat, die sie des öfteren mit Stentorstimme deklamierte: "Die Menschen lieben es, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen!" - "Die Erde ist ein Jammertal und das Leben ein trauriges Nichts!" - "Viele klagen über ihr Gedächtnis, aber niemand über seinen Verstand!" - "Das Denken gehört bekanntlich zu den schönsten Vergnügungen des Menschen, aber man kann sich ja nicht den ganzen Tag nur amüsieren!" - "Wenn man sich selbst erkannt hat, muss man deshalb nicht gleich an der gesamten Menschheit zweifeln!"
In einem Buche stellte sie mir die Kathederblüten des Herrn Galetti vor. Dieser Professor dachte viel schneller, als er sprechen konnte, so hörten seine Studenten oft Kurioses aus seinem Munde. Einer hat sich die Mühe gemacht, diese Sätze der Nachwelt zu übermitteln:
Das Maul des Walfischs ist so groß, dass ein ganzes Ruderboot darin Platz fände, aber er kann sich damit nicht ernähren, weil sein enger Schlund nur ganz kleine Heringe zu verschlucken vermag.
Bei einem Salamander kommt es im Laboratorium häufig vor, dass ihm die Beine abgeschnitten werden. Der Forscher hat das aber niemals zu bedauern, da diesem je nach Bedarf vier, fünf oder noch mehr Beine nachwachsen.
Der Orientierungssinn der nordischen Zugvögel grenzt geradezu an den Kompass. Wenn so ein Storch aus Afrika nach seinem mecklenburgischen Heimatdorf zurückkehrt, so findet er es, selbst, wenn es in Norwegen liegt.
Richard III. ließ alle seine Nachfolger hinrichten.
Die Cimbern und Teutonen stammen eigentlich von einander ab.
Der afrikanische Löwe wächst bis zu seinem 10. Lebensjahr, und von da an wird er immer größer.
In Berchtesgaden wird aus Knochen Holz geschnitzt.
Die Stahlfabriken in Birmingham verbrauchen so viel Stahl, dass aller Stahl, welcher produziert wird, dazu nicht ausreicht.
Von Schiller besitzen wir zwei Schädel. Einer davon ist wahrscheinlich unecht, da Schiller nur 36 Jahre alt wurde.
In Grönland ist manchmal der Schnee so hoch, so tief, wollte ich sagen, also zwei hoch tief.
In Persien sind manche Berge so hoch, dass der Schnee nur auf Mauleseln heruntergeschafft werden kann.
Es ist eine üble Gewohnheit, abends im Bett zu rauchen, denn man hat Beispiele, dass Leute, die abends vergaßen, das Licht zu löschen, am Morgen, wenn sie aufwachten, verbrannt waren.
Karl der Große besiegte die Sachsen so oft, dass sie es am Ende gar nicht erst abwarteten.
Danach vermittelte sie mir ein Wortspiel: Kennen Sie eigentlich den Unterschied zwischen einem ordentlichen Professor und einem außerordentlichen Professor? Ein ordentlicher Professor leistet nichts außerordentliches und ein außerordentlicher Professor leistet nichts ordentliches.
Grete mochte es nicht, wenn wir Kinder so arg berlinerten und brachte uns auf humorvolle Weise das Hochdeutsche nahe. Einmal wollte ich sie dafür foppen und sagte demonstrativ: "Ick eßte jestan Bratkatoffeln." Sie fiel prompt darauf herein und korrigierte freundlich: "Es heißt aber ich aß." - "Nee", lachte ich, "ick werd mir doch nich selbst beschimpfen!" Sie revanchierte sich, indem sie mir einen Witz erzählte, der auch mit Sprache zu tun hatte: Zwei Freunde stehen auf der Straße und unterhalten sich. Da kommt ein Ausländer des Wegs und erbittet auf englisch eine Auskunft. Die Kumpels verstehen nicht genügend englisch. Der Fremde wiederholt seine Frage auf russisch, aber davon verstehen die Kumpels noch weniger. Er fragt noch auf spanisch und französisch mit dem selben negativen Ergebnis. Als er außer Hörweite war, sagte der eine bewundernd zum anderen: "Eh, Mensch, haste det mitjekricht? Der konnte vier Fremdsprachen!" - "Na und?" erwiderte der andere, "hat s ihm wat jenützt?"
Wenn eines von uns Kindern eine strafwürdige Dummheit begangen hatte, sagte sie hoheitsvoll: "Fühle dich geohrfeigt!" Wollten wir ihr etwas erzählen, das ihr seit langem bekannt war, grinste sie: "Wussten Sie schon, dass die Erde keine Scheibe ist?"
Durch Grete P. lernte ich die deutschen Dichter weitaus besser kennen, als durch den Literaturunterricht in der Schule. Sie machte mich mit Goethe, Schiller, Heine und Lessing vertraut und auch mit Morgenstern, Tucholsky, Wedekind, Ringelnatz und Kästner. Auch mit Friedrich Hollaender, mit dessen Couplet "Das Zersägen einer Dame" ich mich 1988 auf die Bühne wagte und beim Publikum so gut ankam, dass ich regelmäßig den Off-Teil im "Gerard Philipe" nutzte, um mich auszuprobieren und die Leute zum Lachen zu bringen. Es gefiel mir so gut, dass ich mir vier Jahre darauf ein Soloprogramm entwickelte und zwei Jahre später noch eins. 1996 produzierte ich gar eine MC mit Küchenliedern, Parodien u.a. Es ist kurios, dass ich mit den von Ida verachteten Liedern meiner Mutter und ihrer Freundin Beifall ernte.
Grete P. brachte mir auch Shakespeare und Charles Dickens nahe. Von Shakespeare war ich restlos begeistert, konnte etliche Szenen aus "Romeo und Julia" sowie aus "Hamlet" auswendig hersagen. Und "David Copperfield" las ich so oft, bis ich nicht mehr über das traurige Schicksal des armen Jungen weinen musste.
Doch zurück zu den Anfängen unserer Bekanntschaft. Ich bewunderte Grete P. in allen Dingen. Sie hatte sogar ihr Schlüsselbund so arrangiert, dass sie auch ohne Licht sofort den richtigen Schlüssel fand. Wenn sie eine schwere Einkaufstasche in ihre Wohnung zu transportieren hatte, dann ließ sie sie "vorlaufen". Sie schleuderte die Tasche einige Stufen hoch und folgte ihr nach. Dieses Prinzip befolge ich noch heute.
Damals begleiteten wir (meine Mutter, meine Brüder und ich) sie auf ihren Ausflügen und lernten dabei sehr viel über die deutsche Geschichte, über Vorgänge in der Natur, über Mineralien, über den Lauf der Gestirne und über ferne Länder und ihre Völker. Sie wusste sehr interessant zu erzählen und wich keiner Frage aus. Mich irritierte nur, dass sie oft rannte, um den Bus oder die Bahn zu erreichen, und dann ihren Schwerbeschädigtenausweis vorwies, um einen Sitzplatz zu bekommen. Wer so rennen kann, der kann auch auf den nächsten Bus warten! Weder ihre Diabetes noch ihre Klaustrophobie waren für die anderen Fahrgäste erkennbar. Sie trug ja nicht einmal das OdF-Abzeichen, wie ihr Geschiedener (den sie genau dafür verachtete). Ich wies sie darauf hin und sie war einsichtig. Künftig waren wir pünktlich oder warteten auf den Bus.
Sie bekam eine OdF-Rente, worüber sich Grete L. mokierte: "Wat will die schon for n Opfa des Faschismus sein! Die hat ja nich mal im Kriech ihre Wohnung valorn! Und wenn se jejen die Nazis wa, denn is se selba Schuld, det se ihr vafolcht hahm!" In diesem Moment wußte ich endgültig, dass die Menschen sehr unterschiedlich sind. Mir kam die von Grete L. geäußerte Bauernweisheit in den Sinn: "Wat den een sein Uhl, is den andern sein Nachtigall" und überlegte: Bin ich nun eine Nachtigall im Uhlenhorst oder eine Eule im Nachtigallennest?.
Grete P. sprach fließend französisch und konnte im Radio nach wenigen Sekunden jede Sprache dem Ursprungsland zuordnen. Etliche englische und russische Redewendungen gingen ihr glatt von der Zunge. Sie war einige Zeit mit einer Russin befreundet, das Englische hatte sie aufgeschnappt. Ich lernte von ihr einige französische und englische Vokabeln, sie lernte von mir ein paar neue russische Vokabeln. Ich sprach ihr eines Tages meine Bewunderung für ihre umfangreichen Fremdsprachenkenntnisse aus und sie lächelte: "Ich beherrsche alle europäischen Sprachen außer spanisch. Du kannst mich gern auf die Probe stellen." Rasch klaubte ich alle fremdsprachigen Brocken zusammen, die je an mein Ohr gedrungen waren und richtig - sie übersetzte alles, bis ich ihr mit einem kürzlich gelernten russischen Satz kam. Da sagte sie: "Det kommt mir spanisch vor, det verstehe ick nich." Endlich begriff ich, dass es ein Scherz war. Jahre später bediente ich mich selber dieses Scherzes.
Als wir in der neunten Klasse sporadisch Stenographie-Unterricht bekamen, festigte sie meine Kenntnisse und brachte mir auch einige Kürzel bei, die der Lehrer uns in der Kürze der Zeit nicht vermitteln konnte. Sie wollte mich auch das Maschineschreiben lehren, aber ich wusste ganz genau, dass ich niemals in einem Büro arbeiten würde. Büroarbeit war mir zu oft als "Kaffeeklatsch" geschildert worden. Bürofräulein haben nur schminken und Nägel lackieren im Kopf und reden über Mode und Schauspieler. Das war nicht meine Welt! Dennoch kloppte ich im System die Typen, nur um bei ihr zu sein.
Grete war Atheistin, aber sie wusste, was "Seele" ist. Bei ihr war "Seele" das Resultat von Wissen und Gefühl und nicht nur ein diffuses Glaubensgebilde. Ich war sehr gern mit ihr zusammen. Sie hat meinen Horizont erweitert und versuchte, mich auf das Leben vorzubereiten. Das hätte eigentlich Ida tun müssen, nachdem sie mich dem Elternhaus entriss.
Auf einem ausgedehnten Spaziergang durch den Müggelwald - wo wir auch Pfifferlinge fanden - zog ich mir auf einem Rastplatz mit den Fingernägeln ein Muster auf die Beine. Ich malte mir auf jedes Bein rechts und links eine Ranke mit Blättern, möglichst synchron. Ida hätte mich dafür ausgescholten, Grete aber sagte: "Das sieht ganz toll aus! Solche Strümpfe wünscht sich manche Frau! Aber leider ist die Bemalung, die du dir verpasst hast, verblasst, eh wir zu Hause sind." So war es auch. Und darum "bemalte" ich meine Beine manchmal schon in der S-Bahn, weil meine Mutter und ihre Freundin es tolerierten. Das geschah so zwei-dreimal, bis ich bemerkte, dass die anderen Fahrgäste konsterniert stierten. Von da an unterließ ich es. Ich wollte nicht auffällig sein.
Ich lernte durch Tante Grete viele Pilze kennen. Es machte mir Spaß, nach ihnen zu suchen. Ich lächelte über Gretes Rede, dass mancher Arbeitsloser nur so überlebte; wir hatten ja nun den Sozialismus, wo jeder Arbeit hatte und niemand sich von Pilzen ernähren musste. Dennoch gewann die Redewendung: "Der ist keinen Pfifferling wert!" für mich eine andere Wertung. Einen Pfifferling zu finden bedarf nämlich einiger Kenntnisse. Wenn wir Pfifferlinge fanden, erlaubte Tante Grete uns nur, die großen zu ernten, damit die kleinen nachwachsen können und Nachkommen haben. Sie, die keine Kinder bekommen konnte, sorgte sich um Nachkommen jeder Art. Sie hätte bei ihrer ersten Schwangerschaft einen Sohn bekommen, verlor ihn jedoch im fünften Schwangerschaftsmonat, genauso, wie es ihrer Mutter ging, die war neunmal schwanger, jedoch nur die vier Mädchen und der spät geborene Junge waren lebensfähig. Auf diesen Jungen war die gesamte Familie sehr stolz. Er sollte einen Namen bekommen, den man nicht verunstalten kann. So wurde der Name "Bruno" beschlossen. Wenige Tage später kam ein Nachbarsjunge zu Besuch und fragte: "Wie heeßt denn der Kleene?" - "Bruno.", gab man ihm stolz zur Antwort. Der Knabe beugte sich über die Wiege und sprach zärtlich: "Brunää!" Bruno soll schon als kleines Kind ein überdurchschnittliches Gedächtnis gehabt haben und als Fünfjähriger das Lied “Auf der Reeperbahn nachts um halb eins” von der ersten bis zur letzten Zeile fehlerfrei singen konnte.. So war er bei den Eltern höher angesehen als die Mädchen, die dem kleinen Bruder allesamt hoffierten und ihm jeden Unbill aus dem Weg räumten. Allerdings erzählte Tante Grete mir nicht, ob ihre Geschwister noch lebten. Ich erfuhr nur, dass sie mit der einen Schwester sehr arg zerstritten war und dass ihr das Getue um den Bruder stank.
Im Zusammenhang mit ihrem Bruder Bruno erzählte sie mir folgende Begebenheit: Ein Nachbarsjunge äußerte sich unflätig, und Gretes Mutter rügte: "Du bist aber ein ungezogener Bengel!" Der Gerügte erwiderte: "Ihrena sein Bruno is ooch n unjezochna Bengel!" Gretes Mutter nun: "Fass dir nur an deine Nase!" Der achtjährige Nachbarsjunge darauf: "Fassen Sie ihm sich ma an ihm seine Neese!"
Sehr gern ging ich mit ihr in die Berliner Museen. Namentlich vom Pergamon-Museum und vom Naturkunde-Museum konnte ich nicht genug bekommen. Sie durfte nur nicht den Fehler machen, alle drei Geschwister mitzunehmen, denn Paul steckte voller Schabernack und wir ließen uns von ihm verleiten. Einmal hatte er gerade ein Comik-Heft gelesen und rief bei jedem Artefakt aus: "Mampf! Schrei! Jaul! Quietsch!" Anfangs fand sogar Grete das lustig, da er aber ununterbrochen mit diesen Rufen fortfuhr und Manfred und ich sie ebenfalls ausstießen, ging sie entnervt in einen anderen Saal. Im Naturkunde-Museum waren uns nicht einmal die Steine langweilig, denn Grete wusste auch hier sehr viel Interessantes zu erzählen. Jahre später arbeitete Manfred sogar in diesem Museum und legte sich mit Erlaubnis eine Mineraliensammlung zu, die er mehrfach in seinem späteren Wohnort als Hobby-Ausstellung besichtigen ließ.
Grete P. wollte nicht in ein Altersheim, sie suchte familiäre Nähe. Ich weiß nicht, inwiefern ich sie enttäuscht hatte, vielleicht hat sie gedacht: Christa hat mit ihrer Tochter genug zu tun. Sie suchte Unterkunft und Pflege bei Erika und Paul, die sie dann sehr schnell in ein Altersheim brachten. Eine ähnliche Fehlentscheidung wie ihre Prognose, dass ich von meinem Mann Dresche beziehen würde. Den Vater meiner Söhne habe ich verdroschen, und der Mann, den ich 1983 kennen- und lieben lernte, ist nicht so primitiv, einen Menschen zu schlagen. Sie hätte sich doch lieber mir anvertrauen sollen, aber sie wollte ja bei mir nicht einmal eine Katze sein. Sie war so stark, stand meilenweit über mir, sie war viel jünger als Ida, ich war gewiss, dass sie die richtige Entscheidung traf. Ich weiß nicht, wie viele ihrer Bücher sie ins Altersheim mitnehmen durfte. Ich weiß nur, dass ihr Harmonium bei Erika zurückblieb, das Harmonium, auf welchem sie Ida aufspielte, um sie zu unterhalten und mich zu erfreuen. Es tut mir sehr leid, Grete P. nicht länger begleitet zu haben. Ich habe sie sehr vermisst. Als sie sich Erika anvertraute, hätte ich dagegenhalten müssen. Ich hätte sagen müssen: "Zieh zu mir!", aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
 

Doska

Mitglied
Aha, und nun wissen wir, wer Flammarions Interesse an wissenschaftlichen und künstlerischen Dingen gefördert hat.
Kennst du das Buch " der mit den Pferden spricht"?
Monty Roberts der berühmte " Pferdeflüsterer" hatte eigentlich eine sehr schlimme Kindheit, jedoch ging er bei einem sanften naturverbundenen Indianer "in die Lehre".
Wiedermal ein sehr schöner Teil deiner Biografie.
 

Doska

Mitglied
Übrigens, die Sache mit dem Karpfengehirn war ziemlich grauselig, puh! Aber Recht hast du: Fisch ist ziemlich lecker! Und auch die guten, alten Kohlrouladen oder gefüllten Paprikaschoten würde ich gern mal wieder essen,hehe.
 

flammarion

Foren-Redakteur
ja,

wenn man so 4 - 6 kohlrouladen mit einmal schmort, dann werden sie so richtig gut. die gabs auch nur, wenn tante gerda oder sonst jemand zu mittag erwartet wurde.
lg
 



 
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