Wolfgang Urach
Mitglied
Die Kinder schauten sich lachend gegenseitig an. Sie waren alle drei tropfnass, und jeder hielt eine Stundenblume in der Hand. Wer hatte ihnen die Blumen gegeben?
„Das war klasse!“, rief Momo begeistert, während ihre Kleidung in der warmen Sonne anfing zu trocknen.
„Ja richtig schön!“, stimmte ihr Ann zu.
„Aber woher kommen unsere Stundenblumen?“, fragte Giacomo.
Sie blickten sich fragend an.
Jede der drei riesigen Blumen war so groß wie Sonnenblumen, so rot wie Rosen, so leuchtend wie Tulpen, so gut duftend wie ein Flieder.
Der Geruch und die Schönheit der Blumen machten einen starken Eindruck auf die Kinder, die sie voll Bewunderung anstarrten.
Giacomo war der erste, der sich an ihren Auftrag erinnerte: „Wir müssen los, erinnert ihr euch, was Meister Hora gesagt hat?“
Die Kinder brachen auf.
Sie liefen über die Felder hin zur Stadt, auf den Marktplatz. Schon von weitem sahen sie, dass viele Menschen versammelt waren. Sie bildeten eine große, unruhige Volksmenge.
Riesige Menschenmengen drängten sich um eine Rednertribüne. Die Leute sprachen laut miteinander. Er herrschte ein Volkslärm. Auf der Rednertribüne bereitete sich der glatzköpfige Führer der Schwarzhemden auf seine Rede vor.
„Vielleicht trennen wir uns besser“, sagte Giacomo.
„Nein, besser nicht“, meinte Momo.
„So können wir sie besser beobachten“, entgegnete Ann optimistisch.
„Also in einer Stunde im Amphitheater!“, schlug Giacomo vor.
Die drei Kinder trennten sich voneinander.
Giacomo lief zur Rednertribüne, Ann wollte in der Volksmenge bleiben und Momo …?
Kassiopeia drückte sich an ihre nackten Füße.
„Wo kommst du denn wieder her?“, fragte Momo erstaunt.
„Meister Hora. Müssen zum Amphitheater“, erklärte die Schildkröte.
Momo verstand nicht, was Kassiopeia wollte, aber normalerweise hatte die Schildkröte Recht. Wenn Kassiopeia meinte, dass sie ins Amphitheater müssten, hatte das wohl seine Richtigkeit, denn schließlich konnte die Schildkröte ein bisschen die Zukunft schauen.
Giacomo stolperte die kleine Holztreppe zur Rednertribüne hinauf.
„Für die Wahrheit! Für unsere kleine Stadt! Hilfe für Lappalier! Werdet auch ihr leibhaftige Lappalier!“, posaunte der glatzköpfige Redner ins Publikum. Einige auf dem Marktplatz klatschten ihm zu.
„Diese dicken fetten Ausländer! Sie nehmen uns alles weg; sie kommen mit ihren Familien, um uns alles zu klauen“, brüllte er ins Publikum.
Giacomo war, unbemerkt vom Sicherheitsdienst der Schwarzhemden, von hinten ganz nahe an den Redner herangekommen. Er stupste die sprechende Glatze mit seiner Stundenblume an.
„Es ist…“, rief die Glatze.
Dem Mann blieb das Wort im Hals stecken; kein geiferndes Wort mehr entrang sich seinen Lippen.
Er war stumm.
Die Zuschauer waren verdutzt und begannen zu tuscheln. Aber bevor ein anderer Redner für die Glatze einspringen konnte, fing das Publikum an zu applaudieren und zu lachen.
Die Schwarzhemden versuchten, die Versammlung zur Ruhe bekommen. Ein dürrer Aufpasser mit dem hohlwangigen Gesicht einer Krähe rief in die Menge: „Lappalier! Bitte, hört doch dem ehrenwerten Doktor Gobel zu! Bitte! Ruhe!“ Aber der Applaus, das Lachen, Rufen und Gelärme nahm kein Ende.
Da drehte sich das Krähengesicht zur Glatze um und bemerkte den Grund.
Aus den Ohren und der Nase von Dr. Gobel sprossen Blumen.
„Herr Doktor Gobel! Ihre Nase!“
Die Glatze sah an sich herab und entdeckte die Blumenstengel in seiner Nase. Mit einem Ruck riss er sich – Plopp! – die Blumen aus der Nase und warf sie ins Publikum.
„Mehr!“ riefen einige. „Zugabe! Noch mehr Kamelle!“, riefen andere.
„Ihre Ohren, hochehrenwerter Kamerad!“, flüsterte ihm die dürre Krähe zu.
Die Glatze tastete sich an ihren Ohren, fühlte die Blumenstängel und befreite sich von den Blumen mit einem energischen Ruck. Der Anführer der Schwarzhemden schmiss die Blumen achtlos ins Publikum, das mit Freude die gelben, weisen, roten Blümchen einsammelte.
„Bravo! Mehr!“, rief die johlende Menge.
„Blu-men! Blu-men! Blu-men!“, begannen einige zu skandieren.
Die Glatze fühlte, dass die schöne zurechtgelegte Rede nicht mehr möglich war. Doch jetzt konnte er wieder leise sprechen und zischte zur Krähe: „Los zu den Zigeunern, die werden was zu spüren bekommen.“
Ann war im Publikum geblieben. Vor ihr standen einige Stadtbewohner in schwarzen Hemden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich um, und hinter ihr stand ein riesiger Schwarzer, der sie freundlich über das ganze Gesicht anlächelte.
„Was erzählen die hier?“, wollte Fred wissen.
„Das weiß ich nicht“, sagte Ann, „aber diese Schwarzhemden sind oft ganz aggressiv.“
„Ach so, das habe ich schon von meinen Freunden Beppo und Nino schon im Kegelclub gehört“, meinte Fred nickend.
„Du kennst auch Beppo?“ fragte Ann erstaunt.
In diesem Moment drehten sich zwei Schwarzhemden um. Ein junger mit frisch kurz geschorenen Haaren und ein älterer mit Rauschebart.
„Was machst du hier, Neger!“, sagte der Rauschebart zu Fred, um ihn zu beleidigen. Das junge Schwarzhemd hatte Kontaktlinsen in den Augen und musste mit den Augen zwinkern, weil sie ihm wehtaten.
Ann legte ihre Hand unwillkürlich in die vom mächtigen Fred, denn der Rauschebart machte ihr Angst.
Da fing das junge Schwarzhemd an zu brüllen:
„Du dicker fetter Ausländer! Wie kannst du dich mit deiner dummen faulen Haut in unser schönes Land verirren.“
Ann drückte noch fester die Hand von Fred. Die Stundenblume, die sie in der Hand hielt, wurde zwischen ihr und Fred ganz zerdrückt.
„Ihr nehmt uns alles weg; ihr kommt mit euren Familien, um alles zu klauen.“ ereiferte sich jetzt der Rauschebart und war rot vor Wut, und je länger er sprach, desto dunkler wurde er.
„Warum gehst du nicht zurück, wo du herkommst!“ rief er jetzt tomatenrot, und wurde noch dunkelroter.
„Ihr seid Tiere!“, rief das junge Schwarzhemd, zwinkerte aufgeregt mit den wehen Augen und wurde tief purpurrot vor Wut und Gewalt.
„Ihr wollt nicht arbeiten, aber bestimmen, wie alles zu laufen hat, das wollt ihr“, fing jetzt wieder der violette Rauschebart an.
Der junge Kurzgeschorene und der Rauschebart kamen jetzt gefährlich nahe an Fred heran. Ihre Nasen berührten sich fast, so dicht standen sie vor Fred.
Ann roch den Biergestank aus den Mündern der beiden Schwarzhemden.
Sie berührte die beiden Schwarzhemden leicht mit der Stundenblume. Und da wurden die beiden Schwarzhemden, die schon so ganz dunkel vor Wut waren noch dunkler, bis schließlich zwei kohlrabenschwarze Männer vor Fred standen.
Fred hatte noch nicht gesehen, wie aus einem wütenden Mann ein schwarzer Mann wird, und fing vor Vergnügen an zu wiehern: „Meine Brüder!“
Auch Ann lachte herzhaft. Die beiden Schwarzhemden waren irritiert durch die neue Lage.
„Ich sehe, meine Brüder, ihr spricht die Sprache meines Volks: So könntet ihr die Eroberung meines Lands durch die Weißen beschrieben. Aber da das kleine Mädchen die einzige Weiße hier ist, hört doch bitte auf mit euren wütenden Reden! Sie ist schon ganz verängstigt.“
Er knuffte Ann in die Seite. Das Mädchen prustete los.
Die wütend schwarzen Schwarzhemden standen da wie begossene Pudel.
„Und überhaupt ist es nicht gut, so über andere zu sprechen“, mischte sich jetzt Ann ein. „Man darf den Fremden nicht böse sein, nur weil sie Fremde hier sind!“
Fred nickte zustimmend.
Aber die Schwarzhemden hatten sich schnell gefasst. „Da werdet zu spät kommen“, sagte der schwarze Rauschebart hämisch grinsend.
„Warum?“ fragte Ann besorgt.
„Hehe“, machte Rauschebart. „Die Jungs werden das Zigeunerlager mal gerade aufmischen.“
Ann wusste nicht, was man sich genau unter „aufmischen“ vorstellen musste, aber jetzt sie bekam wirklich Angst.
„Wir müssen unsere Freunde warnen“, meinte Ann zu Fred.
Momo hatte nicht verstanden, warum sie zum Amphitheater gehen sollte. Aber wie oft hatte Kassiopeia schon recht gehabt!
Der Marktplatz war voll von Leuten und die Schwarzhemden waren alle dort: oder nicht?
Also stand sie auf dem Feldweg, der von der Stadt in das Pinienwäldchen führte; und keiner war da.
„Bist du sicher, dass es richtig war, hierhin zu kommen?“
„Sie werden kommen“, zeigte der Panzer der Schildkröte an.
Sie hatten wohl eine Viertelstunde gewartet, da kamen sie. Ein Trupp militärisch organisierter Männer. Es waren die Schwarzhemden.
Momo wollte sich mit Kassiopeia in den Weg stellen. Wie oft hatte sie durch gutes Zuhören Probleme ausräumen können!
Da stand sie also auf dem kleinen, knochentrockenen Feldweg und sah den Trupp der Schwarzhemden auf sie kommen.
Staub wurde durch die kräftigen Marschschritte der Schwarzhemden aufgewirbelt.
Der rissige Boden erbebte durch das gleichmäßige Stampfen der Lederstiefel.
In der Luft lag ein trauriges Soldatenlied.
Die Glatze ging seinem Trupp voran.
Momo umklammerte ihre Stundenblume.
Kassiopeia wartete stumm am Wegrand.
Was konnte Momo ausrichten?
Das kleine Mädchen wollte auf jedem Preis mit dem Anführer der Schwarzhemden sprechen und versuchen, ihn umzustimmen.
Er kam heran, erstaunt, ein kleines Mädchen, eingehüllt in geflickte Kleider, mit schwarzen Krausehaaren auf seinem Weg zu finden.
In diesem Moment würde sich das Schicksal unserer kleinen Stadt ändern.
Doch der glatzköpfige Anführer der Schwarzhemden beachtete Momo kaum, sondern schubste sie energisch zur Seite, so wie man einen lästigen Zweig, der einem in den Weg ragt, zurückbiegt.
„Abteilung, im Gleichschritt! Marsch!“ rief die Glatze.
Der rechte Außenmann der ersten Reihe der wartenden Schwarzhemden drückte Momo noch weiter vom Weg ab, bis in den Weggraben.
Momo verlor das Gleichgewicht.
Die zweite Reihe an Schwarzhemden zog an ihr vorbei.
Momo dachte noch traurig an Saschas und Giacomos Familie, die sie noch nicht einmal hatte warnen können.
Sie torkelte.
„Und links, links, links, zwo, drei, vier“, rief die Glatze der vorbeiziehenden Abteilung von Schwarzhemden zu. „Männer, ein Lied!“
Dann rutschte Momo zuerst mit dem linken Fuß aus und kippte ganz nach hinten.
„Gigi! Meister Hora!“, rief sie laut, als sie ungeschickt in den Graben plumpste und die Stundenblume sich aus ihrer Hand löste.
Mit Schulter und Po landete sie hart im trocknen Wassergraben.
Doch in diesem Moment ging ein weicher Wind.
Und der Wind nahm die Stundenblume
und ließ sie fliegen, fliegen…
„Giacomo! Beppo! Ann!“ murmelte Momo noch, weil sie hoffte, dass ihre Freunde zur Hilfe kommen würden.
Sie wimmerte vor Angst. Sie wollte heulen, weil ihre Schulter und ihr Po wehtaten, aber vor allem weil sie den Auftrag von Meister Hora nicht ausführen konnte.
Ein dicker Regentropfen fiel ihr auf die Wange. Sie schauten in den Himmel, der sich vor Regenwolken anfüllte.
Am Straßengraben marschierten die Schwarzhemden vorbei. „Links, links, links, zwo, drei, vier…“
Und Tränen kullerten unaufhaltsam aus Momos Augen. Sie war zu spät gekommen. Die Schwarzhemden würden ihre Freunden aus dem Amphitheater vertreiben und Unrecht tun.
Und Momo konnte nichts mehr für ihre Freunde machen.
Der Wind wurde stärker und trieb andere Regentropfen heran.
Doch mit einem Male wurde der Boden unter Momo weich wie ein Wasserbett, und sie hatte das Gefühl, von einer großen Kraft behütet, beschützt und aufgehoben zu werden.
Sanfte Regentropfen bedeckten ihr rotes Gesicht. Ein kühlender Windhauch ging durch Momos zerzaustes Haar.
Das Marschgeschrei der Glatze war verstummt.
Momo drehte sich um, aber sah die Schwarzhemden nicht mehr. Stattdessen blickte sie auf ein großes rotes Blütenblatt. Sie schaute um sich herum; überall waren rote Blütenblätter!
Sie tastete auf dem Boden, der ihr so weich vorkam. Und er roch so wunderbar. Sie stand auf. Da verstand sie.
Sie saß in einem Blütenkelch. Ihre Handinnenflächen waren klebrig. Sie klatschte in die Hände; Blütenstaub hüllte sie in eine Wolke ein. Sie musste niesen. Der Blütenstaub legte sich auf ihre Haare und Kleider; sie trat an den Rand der Blüte und drückte zwei Blütenblätter auseinander, um aus der Blüte herauszuschauen.
Vor ihr breitete sich ein Feld von Blumen aus, Klatschmohn, Margariten, Butterblumen, Tulpen, Rosen, Vergissmeinnicht, Gänseblümchen, Stiefmütterchen, Rittersporn, Löwenzahn, Hyazinthen, Sonnenblumen, Veilchen... Nur waren diese Blumen alle riesengroß.
Die Schwarzhemden hingen zwischen Blumen-Ästen, lagen auf Blättern, hingen an Dornen, schauten aus den Blumenkelchen heraus.
Einige riefen: „Was soll das? Hee!“
Andere lachten vor Übermut.
Die Regenwolken öffneten sich. Und ein warmer Regen ergoss sich über das Blumenfeld.
Nur der glatzköpfige Anführer der Schwarzhemden war weder überrascht noch fröhlich: „Kameraden, was ist das denn für eine Schweinerei! Auf geht’s! Alles an seinen Platz! Es wird Aufstellung genommen! In Reih und Glied!“, rief er zwischen zwei großen gelben Tulpenblättern hervor.
Doch er hatte die Befehlsgewalt über seine Truppe verloren. Der Regen kühlte die erhitzten Gemüter und die sonnenverbrannten Männer.
Einige rutschten an langen grünen Blättern auf den regenschlammigen Boden herab und wiederholten das solange, bis sie ganz grün und braun an Händen, im Gesicht und an der ganzen Kleidung waren.
Andere bewarfen sich mit Pollen von einem Blütenkelch zum anderen, bis ihre Haare klebrig zu Berge standen und ihre schwarzen Hemden vor Blütenstaub ganz unkenntlich waren.
Wieder andere hatten Glück und ihr Blütenkelch füllte sich voll Regenwasser wie ein kleines Schwimmbad, in dem sie schwimmen und planschen konnten.
Es waren auch welche in kleineren Blütenkelchen, die begannen in ihren Blüten zu schaukeln, so als ob es Gondeln wären. Sie schwenkten zu anderen Blütengondeln herüber und stießen sich johlend von ihnen wieder ab.
Zwei rüttelten an der Tulpe, in der die Glatze saß.
„Was soll das?“, rief die Glatze. „Seid ihr verrückt?“
Toni, Bruno und Alexandra kamen mit Limonade und Verbandszeug aus dem Amphitheater, denn es waren doch zwei, drei Schwarzhemden von den Blumen gefallen und hatten sich kleine Schürfwunden geholt. Alle waren durchnässt vom Regen und freuten sich, dass es endlich Regen gab.
Der Anführer war jetzt der einzige, der nicht aus seiner Blüte geklettert war; alle anderen war schon auf dem Boden im Blumendschungel. Aus der Stadt kamen jetzt andere, um das Spektakel zu sehen. Gigi und Beppo kamen auch. Nino brachte Rotwein aus seiner Kneipe. Susanne, Giacomo, Ann und andere Kinder und Jugendliche wollten teilhaben an dem Blumenspektakel und kamen aus der Stadt angelaufen.
Man trank zusammen, lachte über die aufgeregte Glatze, die vor Verärgerung nicht aus der Tulpe aussteigen wollte, und verabschiedete sich in bester Stimmung.
„Das war klasse!“, rief Momo begeistert, während ihre Kleidung in der warmen Sonne anfing zu trocknen.
„Ja richtig schön!“, stimmte ihr Ann zu.
„Aber woher kommen unsere Stundenblumen?“, fragte Giacomo.
Sie blickten sich fragend an.
Jede der drei riesigen Blumen war so groß wie Sonnenblumen, so rot wie Rosen, so leuchtend wie Tulpen, so gut duftend wie ein Flieder.
Der Geruch und die Schönheit der Blumen machten einen starken Eindruck auf die Kinder, die sie voll Bewunderung anstarrten.
Giacomo war der erste, der sich an ihren Auftrag erinnerte: „Wir müssen los, erinnert ihr euch, was Meister Hora gesagt hat?“
Die Kinder brachen auf.
Sie liefen über die Felder hin zur Stadt, auf den Marktplatz. Schon von weitem sahen sie, dass viele Menschen versammelt waren. Sie bildeten eine große, unruhige Volksmenge.
Riesige Menschenmengen drängten sich um eine Rednertribüne. Die Leute sprachen laut miteinander. Er herrschte ein Volkslärm. Auf der Rednertribüne bereitete sich der glatzköpfige Führer der Schwarzhemden auf seine Rede vor.
„Vielleicht trennen wir uns besser“, sagte Giacomo.
„Nein, besser nicht“, meinte Momo.
„So können wir sie besser beobachten“, entgegnete Ann optimistisch.
„Also in einer Stunde im Amphitheater!“, schlug Giacomo vor.
Die drei Kinder trennten sich voneinander.
Giacomo lief zur Rednertribüne, Ann wollte in der Volksmenge bleiben und Momo …?
Kassiopeia drückte sich an ihre nackten Füße.
„Wo kommst du denn wieder her?“, fragte Momo erstaunt.
„Meister Hora. Müssen zum Amphitheater“, erklärte die Schildkröte.
Momo verstand nicht, was Kassiopeia wollte, aber normalerweise hatte die Schildkröte Recht. Wenn Kassiopeia meinte, dass sie ins Amphitheater müssten, hatte das wohl seine Richtigkeit, denn schließlich konnte die Schildkröte ein bisschen die Zukunft schauen.
Giacomo stolperte die kleine Holztreppe zur Rednertribüne hinauf.
„Für die Wahrheit! Für unsere kleine Stadt! Hilfe für Lappalier! Werdet auch ihr leibhaftige Lappalier!“, posaunte der glatzköpfige Redner ins Publikum. Einige auf dem Marktplatz klatschten ihm zu.
„Diese dicken fetten Ausländer! Sie nehmen uns alles weg; sie kommen mit ihren Familien, um uns alles zu klauen“, brüllte er ins Publikum.
Giacomo war, unbemerkt vom Sicherheitsdienst der Schwarzhemden, von hinten ganz nahe an den Redner herangekommen. Er stupste die sprechende Glatze mit seiner Stundenblume an.
„Es ist…“, rief die Glatze.
Dem Mann blieb das Wort im Hals stecken; kein geiferndes Wort mehr entrang sich seinen Lippen.
Er war stumm.
Die Zuschauer waren verdutzt und begannen zu tuscheln. Aber bevor ein anderer Redner für die Glatze einspringen konnte, fing das Publikum an zu applaudieren und zu lachen.
Die Schwarzhemden versuchten, die Versammlung zur Ruhe bekommen. Ein dürrer Aufpasser mit dem hohlwangigen Gesicht einer Krähe rief in die Menge: „Lappalier! Bitte, hört doch dem ehrenwerten Doktor Gobel zu! Bitte! Ruhe!“ Aber der Applaus, das Lachen, Rufen und Gelärme nahm kein Ende.
Da drehte sich das Krähengesicht zur Glatze um und bemerkte den Grund.
Aus den Ohren und der Nase von Dr. Gobel sprossen Blumen.
„Herr Doktor Gobel! Ihre Nase!“
Die Glatze sah an sich herab und entdeckte die Blumenstengel in seiner Nase. Mit einem Ruck riss er sich – Plopp! – die Blumen aus der Nase und warf sie ins Publikum.
„Mehr!“ riefen einige. „Zugabe! Noch mehr Kamelle!“, riefen andere.
„Ihre Ohren, hochehrenwerter Kamerad!“, flüsterte ihm die dürre Krähe zu.
Die Glatze tastete sich an ihren Ohren, fühlte die Blumenstängel und befreite sich von den Blumen mit einem energischen Ruck. Der Anführer der Schwarzhemden schmiss die Blumen achtlos ins Publikum, das mit Freude die gelben, weisen, roten Blümchen einsammelte.
„Bravo! Mehr!“, rief die johlende Menge.
„Blu-men! Blu-men! Blu-men!“, begannen einige zu skandieren.
Die Glatze fühlte, dass die schöne zurechtgelegte Rede nicht mehr möglich war. Doch jetzt konnte er wieder leise sprechen und zischte zur Krähe: „Los zu den Zigeunern, die werden was zu spüren bekommen.“
Ann war im Publikum geblieben. Vor ihr standen einige Stadtbewohner in schwarzen Hemden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich um, und hinter ihr stand ein riesiger Schwarzer, der sie freundlich über das ganze Gesicht anlächelte.
„Was erzählen die hier?“, wollte Fred wissen.
„Das weiß ich nicht“, sagte Ann, „aber diese Schwarzhemden sind oft ganz aggressiv.“
„Ach so, das habe ich schon von meinen Freunden Beppo und Nino schon im Kegelclub gehört“, meinte Fred nickend.
„Du kennst auch Beppo?“ fragte Ann erstaunt.
In diesem Moment drehten sich zwei Schwarzhemden um. Ein junger mit frisch kurz geschorenen Haaren und ein älterer mit Rauschebart.
„Was machst du hier, Neger!“, sagte der Rauschebart zu Fred, um ihn zu beleidigen. Das junge Schwarzhemd hatte Kontaktlinsen in den Augen und musste mit den Augen zwinkern, weil sie ihm wehtaten.
Ann legte ihre Hand unwillkürlich in die vom mächtigen Fred, denn der Rauschebart machte ihr Angst.
Da fing das junge Schwarzhemd an zu brüllen:
„Du dicker fetter Ausländer! Wie kannst du dich mit deiner dummen faulen Haut in unser schönes Land verirren.“
Ann drückte noch fester die Hand von Fred. Die Stundenblume, die sie in der Hand hielt, wurde zwischen ihr und Fred ganz zerdrückt.
„Ihr nehmt uns alles weg; ihr kommt mit euren Familien, um alles zu klauen.“ ereiferte sich jetzt der Rauschebart und war rot vor Wut, und je länger er sprach, desto dunkler wurde er.
„Warum gehst du nicht zurück, wo du herkommst!“ rief er jetzt tomatenrot, und wurde noch dunkelroter.
„Ihr seid Tiere!“, rief das junge Schwarzhemd, zwinkerte aufgeregt mit den wehen Augen und wurde tief purpurrot vor Wut und Gewalt.
„Ihr wollt nicht arbeiten, aber bestimmen, wie alles zu laufen hat, das wollt ihr“, fing jetzt wieder der violette Rauschebart an.
Der junge Kurzgeschorene und der Rauschebart kamen jetzt gefährlich nahe an Fred heran. Ihre Nasen berührten sich fast, so dicht standen sie vor Fred.
Ann roch den Biergestank aus den Mündern der beiden Schwarzhemden.
Sie berührte die beiden Schwarzhemden leicht mit der Stundenblume. Und da wurden die beiden Schwarzhemden, die schon so ganz dunkel vor Wut waren noch dunkler, bis schließlich zwei kohlrabenschwarze Männer vor Fred standen.
Fred hatte noch nicht gesehen, wie aus einem wütenden Mann ein schwarzer Mann wird, und fing vor Vergnügen an zu wiehern: „Meine Brüder!“
Auch Ann lachte herzhaft. Die beiden Schwarzhemden waren irritiert durch die neue Lage.
„Ich sehe, meine Brüder, ihr spricht die Sprache meines Volks: So könntet ihr die Eroberung meines Lands durch die Weißen beschrieben. Aber da das kleine Mädchen die einzige Weiße hier ist, hört doch bitte auf mit euren wütenden Reden! Sie ist schon ganz verängstigt.“
Er knuffte Ann in die Seite. Das Mädchen prustete los.
Die wütend schwarzen Schwarzhemden standen da wie begossene Pudel.
„Und überhaupt ist es nicht gut, so über andere zu sprechen“, mischte sich jetzt Ann ein. „Man darf den Fremden nicht böse sein, nur weil sie Fremde hier sind!“
Fred nickte zustimmend.
Aber die Schwarzhemden hatten sich schnell gefasst. „Da werdet zu spät kommen“, sagte der schwarze Rauschebart hämisch grinsend.
„Warum?“ fragte Ann besorgt.
„Hehe“, machte Rauschebart. „Die Jungs werden das Zigeunerlager mal gerade aufmischen.“
Ann wusste nicht, was man sich genau unter „aufmischen“ vorstellen musste, aber jetzt sie bekam wirklich Angst.
„Wir müssen unsere Freunde warnen“, meinte Ann zu Fred.
Momo hatte nicht verstanden, warum sie zum Amphitheater gehen sollte. Aber wie oft hatte Kassiopeia schon recht gehabt!
Der Marktplatz war voll von Leuten und die Schwarzhemden waren alle dort: oder nicht?
Also stand sie auf dem Feldweg, der von der Stadt in das Pinienwäldchen führte; und keiner war da.
„Bist du sicher, dass es richtig war, hierhin zu kommen?“
„Sie werden kommen“, zeigte der Panzer der Schildkröte an.
Sie hatten wohl eine Viertelstunde gewartet, da kamen sie. Ein Trupp militärisch organisierter Männer. Es waren die Schwarzhemden.
Momo wollte sich mit Kassiopeia in den Weg stellen. Wie oft hatte sie durch gutes Zuhören Probleme ausräumen können!
Da stand sie also auf dem kleinen, knochentrockenen Feldweg und sah den Trupp der Schwarzhemden auf sie kommen.
Staub wurde durch die kräftigen Marschschritte der Schwarzhemden aufgewirbelt.
Der rissige Boden erbebte durch das gleichmäßige Stampfen der Lederstiefel.
In der Luft lag ein trauriges Soldatenlied.
Die Glatze ging seinem Trupp voran.
Momo umklammerte ihre Stundenblume.
Kassiopeia wartete stumm am Wegrand.
Was konnte Momo ausrichten?
Das kleine Mädchen wollte auf jedem Preis mit dem Anführer der Schwarzhemden sprechen und versuchen, ihn umzustimmen.
Er kam heran, erstaunt, ein kleines Mädchen, eingehüllt in geflickte Kleider, mit schwarzen Krausehaaren auf seinem Weg zu finden.
In diesem Moment würde sich das Schicksal unserer kleinen Stadt ändern.
Doch der glatzköpfige Anführer der Schwarzhemden beachtete Momo kaum, sondern schubste sie energisch zur Seite, so wie man einen lästigen Zweig, der einem in den Weg ragt, zurückbiegt.
„Abteilung, im Gleichschritt! Marsch!“ rief die Glatze.
Der rechte Außenmann der ersten Reihe der wartenden Schwarzhemden drückte Momo noch weiter vom Weg ab, bis in den Weggraben.
Momo verlor das Gleichgewicht.
Die zweite Reihe an Schwarzhemden zog an ihr vorbei.
Momo dachte noch traurig an Saschas und Giacomos Familie, die sie noch nicht einmal hatte warnen können.
Sie torkelte.
„Und links, links, links, zwo, drei, vier“, rief die Glatze der vorbeiziehenden Abteilung von Schwarzhemden zu. „Männer, ein Lied!“
Dann rutschte Momo zuerst mit dem linken Fuß aus und kippte ganz nach hinten.
„Gigi! Meister Hora!“, rief sie laut, als sie ungeschickt in den Graben plumpste und die Stundenblume sich aus ihrer Hand löste.
Mit Schulter und Po landete sie hart im trocknen Wassergraben.
Doch in diesem Moment ging ein weicher Wind.
Und der Wind nahm die Stundenblume
und ließ sie fliegen, fliegen…
„Giacomo! Beppo! Ann!“ murmelte Momo noch, weil sie hoffte, dass ihre Freunde zur Hilfe kommen würden.
Sie wimmerte vor Angst. Sie wollte heulen, weil ihre Schulter und ihr Po wehtaten, aber vor allem weil sie den Auftrag von Meister Hora nicht ausführen konnte.
Ein dicker Regentropfen fiel ihr auf die Wange. Sie schauten in den Himmel, der sich vor Regenwolken anfüllte.
Am Straßengraben marschierten die Schwarzhemden vorbei. „Links, links, links, zwo, drei, vier…“
Und Tränen kullerten unaufhaltsam aus Momos Augen. Sie war zu spät gekommen. Die Schwarzhemden würden ihre Freunden aus dem Amphitheater vertreiben und Unrecht tun.
Und Momo konnte nichts mehr für ihre Freunde machen.
Der Wind wurde stärker und trieb andere Regentropfen heran.
Doch mit einem Male wurde der Boden unter Momo weich wie ein Wasserbett, und sie hatte das Gefühl, von einer großen Kraft behütet, beschützt und aufgehoben zu werden.
Sanfte Regentropfen bedeckten ihr rotes Gesicht. Ein kühlender Windhauch ging durch Momos zerzaustes Haar.
Das Marschgeschrei der Glatze war verstummt.
Momo drehte sich um, aber sah die Schwarzhemden nicht mehr. Stattdessen blickte sie auf ein großes rotes Blütenblatt. Sie schaute um sich herum; überall waren rote Blütenblätter!
Sie tastete auf dem Boden, der ihr so weich vorkam. Und er roch so wunderbar. Sie stand auf. Da verstand sie.
Sie saß in einem Blütenkelch. Ihre Handinnenflächen waren klebrig. Sie klatschte in die Hände; Blütenstaub hüllte sie in eine Wolke ein. Sie musste niesen. Der Blütenstaub legte sich auf ihre Haare und Kleider; sie trat an den Rand der Blüte und drückte zwei Blütenblätter auseinander, um aus der Blüte herauszuschauen.
Vor ihr breitete sich ein Feld von Blumen aus, Klatschmohn, Margariten, Butterblumen, Tulpen, Rosen, Vergissmeinnicht, Gänseblümchen, Stiefmütterchen, Rittersporn, Löwenzahn, Hyazinthen, Sonnenblumen, Veilchen... Nur waren diese Blumen alle riesengroß.
Die Schwarzhemden hingen zwischen Blumen-Ästen, lagen auf Blättern, hingen an Dornen, schauten aus den Blumenkelchen heraus.
Einige riefen: „Was soll das? Hee!“
Andere lachten vor Übermut.
Die Regenwolken öffneten sich. Und ein warmer Regen ergoss sich über das Blumenfeld.
Nur der glatzköpfige Anführer der Schwarzhemden war weder überrascht noch fröhlich: „Kameraden, was ist das denn für eine Schweinerei! Auf geht’s! Alles an seinen Platz! Es wird Aufstellung genommen! In Reih und Glied!“, rief er zwischen zwei großen gelben Tulpenblättern hervor.
Doch er hatte die Befehlsgewalt über seine Truppe verloren. Der Regen kühlte die erhitzten Gemüter und die sonnenverbrannten Männer.
Einige rutschten an langen grünen Blättern auf den regenschlammigen Boden herab und wiederholten das solange, bis sie ganz grün und braun an Händen, im Gesicht und an der ganzen Kleidung waren.
Andere bewarfen sich mit Pollen von einem Blütenkelch zum anderen, bis ihre Haare klebrig zu Berge standen und ihre schwarzen Hemden vor Blütenstaub ganz unkenntlich waren.
Wieder andere hatten Glück und ihr Blütenkelch füllte sich voll Regenwasser wie ein kleines Schwimmbad, in dem sie schwimmen und planschen konnten.
Es waren auch welche in kleineren Blütenkelchen, die begannen in ihren Blüten zu schaukeln, so als ob es Gondeln wären. Sie schwenkten zu anderen Blütengondeln herüber und stießen sich johlend von ihnen wieder ab.
Zwei rüttelten an der Tulpe, in der die Glatze saß.
„Was soll das?“, rief die Glatze. „Seid ihr verrückt?“
Toni, Bruno und Alexandra kamen mit Limonade und Verbandszeug aus dem Amphitheater, denn es waren doch zwei, drei Schwarzhemden von den Blumen gefallen und hatten sich kleine Schürfwunden geholt. Alle waren durchnässt vom Regen und freuten sich, dass es endlich Regen gab.
Der Anführer war jetzt der einzige, der nicht aus seiner Blüte geklettert war; alle anderen war schon auf dem Boden im Blumendschungel. Aus der Stadt kamen jetzt andere, um das Spektakel zu sehen. Gigi und Beppo kamen auch. Nino brachte Rotwein aus seiner Kneipe. Susanne, Giacomo, Ann und andere Kinder und Jugendliche wollten teilhaben an dem Blumenspektakel und kamen aus der Stadt angelaufen.
Man trank zusammen, lachte über die aufgeregte Glatze, die vor Verärgerung nicht aus der Tulpe aussteigen wollte, und verabschiedete sich in bester Stimmung.