Kapitel 26: Momo hat Angst vorm Abschied

Der grüne Grashügel hieß Talant, und der Hochstieg war mühsam.
Es war warm, denn die Sonne schien im wolkenlosen Sommerhimmel, als ob der Sommer ewig währen würde.
Die Tauben scheuchten kreischend von den roten Dachziegeln der weiß getünchten romanischen Kapelle hoch, als die Stadtbewohner den Wanderweg, vollbepackt mit Sack und Pack, an diesem Sonntagmittag den Hügel erklimmten.
Nino hatte seinen Rucksack voll von Wein- und Wasserflaschen, Liliana und Gigi schleppten sich an großen geflochtenen Picknickkörben halb zu Tode, Beppo schleppte sich selbst mit letzter Kraft hoch, Toni und Bruno schleppten Feuerholz, Alexandra ihre Gitarre, die Kinder die Playmobilfiguren, die Bälle, Kasperlefiguren, die Federballschläger, so viel wie jeder tragen konnte.
Stefan und Susanne waren auch gekommen; sie hielten sich Händchen und schienen sich wieder gut zu verstehen.
Elsa, Wendeline, Nicola, Fred, Alwin waren auch dabei und trugen jede Menge Lebensmittel, die eisgekühlte Limonade nicht zu vergessen…
Eine sanfte Windbrise kühlte die vom Tragen erschöpften Freunde. Die Tauben schwebten jetzt leise krächzend über ihren Köpfen um den Kirchturm herum.

„Wer soll das alles essen?“, fragte Wendeline schließlich mit einem Blick auf das viele Essgepäck.
Diese Frage stellten sich die Kinder nicht und liefen fröhlich den Erwachsenen zwischen den Beinen herum.
An der weißgetünchten Kapelle angekommen, hielten die Erwachsenen erschöpft inne.
„Ist es still hier…“, bemerkte Liliana, sie hatte recht, denn außer dem Taubengeschrei und den Kindern, die jauchzend auf die Wiese losgestoben waren, kam aus der kleinen Stadt kein Lärm den Hügel hoch.
Gigi schaute über ihre kleine, heißgeliebte Stadt, den Fluss, den Markplatz, Ninos Kneipe, die Kirche, die Wohnviertel und Industriegebiete und weiter hinten aus der Stadt raus, halb verdeckt im Pinienwäldchen, das kleine Amphitheater, die Felder und Hügel.
Die Autos fuhren spielzeuggroß durch die Strassen, Menschen liefen herum wie kleine Puppen. Der Grashügel von Talant war so nah, sie alle zu beobachten und so weit weg entfernt, nichts von ihrem Lärm zu hören.

Während die Erwachsenen begannen, das Reisegepäck auszupacken und das Picknick vorzubereiten, hatten die Kinder angefangen zu spielen: Federball, Volleyball, Fußball, Nachlaufen und Verstecken. Dann spielten auch die Erwachsenen ein bisschen Boccia.

„Essen! Essen!“ riefen Nino und Bruno, als die Wolldecken unter den Schatten spendenden Bäumen ausgebreitet waren und über dem Feuer die ersten Wurstspießchen brieten.
Die Kinder liefen herbei, alles rief kreuz und quer, die Erwachsenen versuchten, Ruhe zu schaffen, aber die Kindermünder schoben sich vergnügt das vorbereitete Essen und die eisgekühlte Limonade in die hungrigen Münder. Alles schmatzte, schluckte, lachte und plapperte durcheinander, bis Gigi auffiel, das Momo fehlte. Er verließ seinen gemütlichen Sitzplatz auf der Wolldecke unter dem schattigen Baum und marschierte über den Grashügel.
Ganz weit entfernt, in der heißen Sonne, auf einem Baumstumpf, den Blick über das Tal gerichtet, saß sie.
Ann saß neben ihr, wortlos. Den Blick in die Ferne.
„Momo, Ann, was macht ihr da?“, fragte Gigi, als er um den Baumstupf herum auf die beiden zutrat.

Ann sagte nichts, sondern sah Gigi stumm an.
Momo hatte glänzende Wangen und einen trüben Blick. Sie hatte geweint.
Gigi nahm sie in die Arme und fühlte die warmen Tränen an seinem T-Shirt.
„Momo…Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“

Momo, geborgen in seinem Schoss, nickte stumm.
„Du kennst sie schon zum Teil. Erinnerst du dich an Amam und Marillana?
Amam, der Gewürzhändler, der jetzt eine kleine Gewürzhandlung mit seiner Frau Marillana zusammen hatte, wurde älter. Und Marillana war traurig.
‚Warum bist du traurig?’ fragte Amam.
‚Es wäre so schön, wenn wir ein Kind hätten’, sagte Marillana.
‚Das ist war’, stimmte Amam ihr zu. ‚Aber manchmal muss man warten können.’ Und er hatte Recht. Er war schon so alt wie andere, die Großväter in seinem Alter wurden, da bekamen Marillana und er eine Tochter geschenkt.
Es war eine schöne Tochter mit schwarzen, lockigen Haaren. Ein Mädchen, das mutig war und eine große Gabe besaß. Es konnte zuhören.
Und es kam der Unglückstag.
Sie mussten in die Nachbarstadt mit dem Auto fahren, um frische Lebensmittel und neue Gewürzrezepte für die Gewürzhandlung zu holen.
Ich weiß nicht, wie der Unfall passierte, aber der kleine Wagen von Amam wurde durch ein großes Auto zerdrückt.
Amam war sehr so schwer verletzt, dass er seiner Tochter nur eine Sache sagen konnte: ‚Flieg meine Tochter, sammle die Gewürze der Welt ein, sie sind in der Luft, du musst sie einsammeln und nutzen lernen.’
Seine Tochter hörte ihm zu und verstand ihn.
Dann drückte ihre Mutter sie an sich. Die Tochter war ganz verwirrt und geschockt durch den Unfall.
Es kamen die Polizisten, der Notarzt. Die Tochter wusste nicht, was mit ihr passierte.
Sie wurde weggebracht. Eine Tante sollte sich um sie kümmern, aber diese Tante wusste nicht, wie man mit Kindern umging.
Also kam die Tochter in ein Waisenheim.
Keiner erklärte ihr, was passiert war. Sie war verletzt von innen und kannte doch ihre Wunde nicht. Und sie verstand nichts mehr. Die Aufpasser im Waisenheim hatten Mühe mit ihr, weil sie wenig sprach. Und eines Tags lief sie weg, und man fing sie wieder ein und bestrafte sie.
Und sie lief wieder weg, und man bestrafte sie wieder.
Sie kam in ein neues Waisenheim.
Aber keiner sah, dass sie verletzt von innen war. Und sie lief wieder weg.
Und eines Tags kam sie in einem Amphitheater an.“

Momo hatte den Kopf weggedreht und schluchzte leise.
Gigi nahm sie in seine Arme, und Momos Tränen durchweichten sein T-Shirt.
„Woher weißt du das alles?“, wollte Ann wissen.
„Ich habe in den Waisenheimen nachgefragt“, erklärte Gigi.

Lange saßen die Freunde stumm zusammen und schauten ins Tal. Ann hätte Gigi gern so vieles gefragt über Momos Eltern, aber Gigi legte den Finger über den Mund.
Eines Tages würde er noch mehr erzählen, was Freunde von Amam und Marillana ihm erzählt hatten, was die Direktoren der Waisenheime über Momo behauptet hatte, weil sie das Kind nicht verstanden hatten, was in den Papieren drin stand, die er in den Archiven gefunden hatte. Aber jetzt war es zu früh. Momo musste selbst die Fragen stellen, und Gigi würde ihr dann alles erzählen. Das verstand Ann auch ohne Worte.

Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, und Giacomos und Saschas Familien hatten eine Überraschung für ihre Freunde.
„Wir danken euch für eure Gastfreundschaft“, erklärte Bruno, „aber wir sind fahrendes Volk und müssen weiter.“
„Warum bleibt ihr nicht?“, fragte Momo und wagte nicht, Giacomo anzuschauen.
„Wir müssen fahren, sagen unsere Eltern“, erklärte Giacomo traurig.
„Kommt ihr wieder?“, fragte Ann traurig.
„Bestimmt“, fügte Sascha an.
Für die Kinder war es ein schwieriger Augenblick; sie hatten den ganzen Sommer miteinander verbracht; jetzt galt es Abschied zu nehmen.

Doch wollte keiner aufstehen. Bruno und Toni machten den Anfang. „Wir müssen los.“, sagte Bruno. Sie machten sich auf zum gemeinsamen Abstieg. Wortlos stiegen unsere Freunde den Hügel hinab.
Am Fuss des Hügels von Talant waren die Wagen geparkt.
„Kommt! Beeilt euch!“, rief Toni, der Abschiedsszenen nicht mochte.

Als sich Alexandra und Momo gegenüberstanden, brachte unsere kleine Freundin kein Wort hervor.
Alexandra beugte sich zu ihr hinunter.
„Momo, was ist?“
Momo sah sie mit ihren großen Augen an. Da verstand Alexandra.
„Papa“, rief sie ihrem Vater zu, „einen Moment noch.“

Zu Verwunderung aller anderen ging Alexandra zielstrebig zum großen Holzwagen und holte aus seinem Inneren ihre Gitarre. Sie setzte sich ins Gras und winkte Momo heran.
„Komm Momo“, sprach sie ihr zu.
Momo kam auf sie zu, Alexandra zog das Mädchen zu ihr und drückte sie sanft neben sich ins Gras. Alle anderen setzten sich um die beiden herum. Eine weiche Windbrise kam über sie und wehte alles andere weg, die schwarzen Männer, die Stadt, der Abschied... Und Alexandra fing an zu singen, so schön dass Momo glaubte, das selbst die Tauben auf dem Kirchendach mit ihrem Gekrächze verstummt wären.

„An einem Baum in dem Park der großen Stadt
Hing unter tausend Blättern ein Blatt.

Sang der Nachtwind in den Bäumen,
Wiegte sich das Blatt in Träumen
Von der weiten herrlichen Welt!

Könnt ich nur einmal wie der Wind fliegen!
Mit den Wolken übers Meer,
Ach mein Leben gäb ich her
Könnt ich fliegen, könnt ich fliegen!“

Momo dachte an Amam und Marillana, ihre Eltern, von denen sie so wenig Erinnerung hatte.
Wie hatte ihr Vater ausgesehen? Konnte man Gewürze im Wind einsammeln? Was sah das Leben ihrer Mutter, bevor Amam kam?

Dann fiel Momo auf, dass Alexandra zu Ende gekommen war.
Die Erwachsenen nahmen sich wortlos in die Arme. Auch Gigi wurde jetzt richtig traurig.
Die Motoren der großen Wagen röhrten auf.

Elsa, Wendeline, Bruno, Toni, Alexandras, Sascha und Giacomo stiegen in die Wagen ein. Elsa und Wendeline öffneten noch mal die Wagentüren und nahmen Ann und Momo fest in ihre Arme.
„Ihr seid ganz liebe Kinder! Wir werden euch vermissen. Vielleicht kommen wir nächstes Jahr wieder!“ Alle winkten, die Wagen bogen ein auf die große Landstrasse. Momo wusste, dass ihre neuen Freunde wiederkommen würden, eines Tages, aber wann? Sie war traurig.

Da berührte sie etwas am Fuß. „Kassiopeia!“
„Liebe Grüße von Meister Hora“, stand auf dem Panzer. Momo beugte sich herunter.
„Danke“, sagte sie leise zur Schildkröte, die so tat, als ob sie es nicht gehört hätte.
Momo wusste, dass dieser Abschied nicht das Ende sein würde.
„Kommst du, Momo?“, rief Ann.
„Ja sofort!“, rief Momo zurück und streichelte zum Abschied Kassiopeia über den Panzer.
Dann begleiteten Ann und Gigi Momo zum Amphitheater.
 



 
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