flammarion
Foren-Redakteur
Tante Irma
Weihnachten 49 erlauschte ich, dass Ida seinerzeit Irma beauftragt hatte, mich spazieren zu fahren. Irma war auch begeistert mit mir losgezogen, aber die Nachbarn fragten: "Nanu, Irma, so jung und schon Mutti?" Die Vermutung der Nachbarn, eine ledige Mutter wie Gerda zu sein, war ihr so peinlich, dass sie nie wieder mit mir spazieren fuhr.
Als ich sie bewusst wahrnahm, war sie fast zwanzig Jahre alt und springlebendig. Oft hörte ich sie Lieder pfeifen, was Ida mit saurer Miene folgendermaßen kommentierte: "Bei Meedschn, die feifn, un Hühnan, die kreehn, da soll man beizeitn den Hals umdreehn!"
Irma trug ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar stets kurzgeschnitten, und sie bevorzugte Hosen als Bekleidung. Das wurde ebenfalls von Ida nicht gutgeheißen. Auch ihre Blusen und Pullover hatten einen leicht männlichen Akzent.
Sie lernte nach Schulabschluss Schlächtermamsell und arbeitete, solange es möglich war, bei einem Schlächter. Dann kehrte der Krieg zu seinem Ursprung zurück, der Schlächter musste schließen, und Irma wurde Flakhelferin, wo sie sich als sehr tüchtig und mutig erwies. Sie hat viele Brandbomben unschädlich gemacht und betrachtete den Krieg in jugendlichem Leichtsinn gewissermaßen als ein Abenteuer. Von den männlichen Flakhelfern lernte sie das Rauchen und wie man sich die Zigaretten selber dreht. Noch Ende der Fünfziger Jahre drehte sie sich ihre Zigaretten selbst, anfangs aus aufgelesenen Kippen. Auch ich habe ihr viele Kippen gebracht, wofür ich von Ida gescholten wurde, später aus gekauftem Tabak. Sie meinte: "Wenn man den Tabak selbst in die Hand nimmt, weiß man, dass man kein Unkraut raucht." Sie besaß bald außer dem ledernen Tabaksbeutel auch eine kleine "Zigarettenmaschine", wo man den Tabak nur noch lose auf das Blättchen streute und alles andere ging wie von selbst.
Irma wusste - genau wie Gerda - um ihrer beider Herkunft, nannte Gerda dennoch oft zärtlich "Schwesterchen". Irma war - obwohl die Jüngere von den beiden - Gerdas Beschützerin. Vielleicht, weil sie so groß und kräftig, burschikos und draufgängerisch war; sie konnte es durchaus mit einem Jungen aufnehmen. Und weil sie Gerda wirklich sehr gern hatte.
DEGUFA war nach dem Krieg mit eine der ersten Fabriken in Berlin, in der die Arbeit wieder aufgenommen wurde, und Gerda und Irma wechselten nach ihrer schlecht bezahlten Arbeit in der Gärtnerei zu dieser Firma über. Hier bekamen sie außer gutem Lohn auch noch die Schwerstarbeiter-Lebensmittelkarte; und wenn man clever genug war, konnte man auch Kohlen für den Winter beiseite schaffen. Ganz zu schweigen von Einzieh-Gummi und Einweckringen. Das waren gefragte Dinge auf dem Schwarzmarkt. So litt Familie Seele ein klein wenig weniger Not als viele andere Berliner Familien.
Einmal brachte Irma eine Gummiblase mit - ca 30cm im Durchmesser. Ich Fünfjährige durfte damit spielen. Ich hatte schon gesehen, wie Kinder mit Bällen spielen, nun versuchte ich, die Blase auftippen zu lassen. Sie tat es, und ich schlug kräftiger zu, um zu sehen, wie hoch die Blase wohl springen würde. Aber sie platzte und sauste mit lautem Pfeifen in unserer Küche herum - glücklicherweise, ohne Schaden anzurichten. Ich brüllte und weinte vor Schreck, und hoffte, dass nichts entzwei ging. Auch fürchtete ich, dass ich bestraft werden würde, weil die Blase kaputt war. Aber ich wurde nur ausgelacht, weil ich mich so erschrocken hatte.
Ein andermal brachte sie "Gummi-Seifenblasen" mit, eine Gummi-Lösung, aus der man mit Hilfe eines Strohhalms Ballons produzieren konnte, die wie Seifenblasen schwebten, aber wesentlich haltbarer waren. Man konnte sie mehrmals antippen, ohne dass sie platzten.
In den Nachkriegsjahren war Irma heiter und guten Mutes. Über viele ihrer lockeren Sprüche kann ich heute noch schmunzeln, auch wenn manches davon wahrscheinlich Nazi-Jargon war. Sie benutzte die Sprüche in den unglaublichsten Situationen, die hier wiederzugeben zu weit führen würde: "Wenn du denkst, du hastn, huppt er aus m Kastn!" - "Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist!" - "Det jeht einm durch Mark und Pfennich! (statt durch Mark und Bein)" - "Hasche Haschisch in de Taschen, hasche immer waschu naschen!" - "Da stehst de sprachlos vis a vis, möchte bloß mal wissen, wer dieser Sawie war?" - "Hilfe! Mord! Im Wäschekorb! Rettung is nich nötich." - "Hunde, wollt ihr ewich leben?" - "So wird s jemacht, wer nich schterm will, der wird jeschlacht!" - "Auf, auf, schprach der Fuchs zum Hasn, hörst de nich die Jeeja blasn?" - "Wer frisch den Schtier bei n Hörnan packt, bekommt wat Festet inne Hand." - "Lieba arm dran als Arm ab." - "Wo sich Herz und Magen laben, will die Nase auch was haben!" - "Bei Frost und Regenwetter kann man die Faulen nicht von den Fleißigen unterscheiden, da rennen sie alle!"
Wenn Waltraud vor dem Spiegel stand und sich umsah, ob die Strumpfnähte richtig sitzen - 1950 waren Strümpfe mit Naht obligatorisch - sagte Irma lachend: "Du kannst dir drehn, wie de willst, der Arsch bleibt hinten!" Und wenn jemand sehr lange mit dem Frisieren vor dem Spiegel zubrachte, dann sagte sie: "Jib dir keene Mühe, Kleene, aus ne Eule wird doch keen Paradiesvogel!" Begegnete sie auf der Straße einer alten Bekannten, mit der sie sich verzankt hatte, begrüßte sie sie freudestrahlend: "Jut siehste aus, wie lange bist n schon tot?"
Wenn sie mich dabei erwischte, dass ich in der Nase bohrte, pflegte sie freundlich zu sagen: "Brich den Bohrer nich ab, dein Papa macht dir keen neuen." Das hielt mich eher zu gutem Benehmen an, als wenn Ida mir in der selben Situation auf die Finger schlug. Von Irma lernte ich auch, dass und wie man mit Messer und Gabel isst, und erst durch sie akzeptierte ich, dass man den Ellenbogen nicht auf die Tischplatte stützt.
Wenn Waltraud und ich burschikos irgendetwas forderten, dann sagte sie zu uns: "Zwei Schlüsselchen öffnen Tür und Tor, zwei kleine, niedliche, blanke, sie kommen in jeder Sprache vor und heißen "Ich bitt" und "Ich danke!" Waltraud mokierte sich: "Det heißt doch bittE un nich so abjehackt bitt!" Ich entgegnete: "So kann man t sich aba bessa merkn!", denn ich war als Siebenjährige noch nicht in der Lage, ihr zu erklären, dass der Reim durch die von der Rechtschreibung abweichende Formulierung einen besonderen Rhythmus bekam. Nun war ich wieder "die Doofe", weil ich mir das Richtige anhand etwas Falschem beser merken konnte.
Wir Kinder sagten normalerweise: "Ick nimm . . ." Irma korrigierte dann energisch: "Det heeßt ick nehme! Ick nehme, du nimmst, er, sie, es nimmt, wir nehmen, ihr nehmt, sie nehmen! Nehmen is jenauso wichtich wie jeben, und darum heißt et ooch nich ick jib, sondern ick jebe!" Da hatte sie aber gegen Idas Sprechweise geredet. Erst, als ich in der Schule die Bestätigung für Irmas Behauptung erfuhr, nahm ich ihre Lehre an; und wenn ich sonst noch an ein schwieriges Wort geriet, fragte ich sie nach der Bedeutung oder Schreibweise. So auch nach dem Wort "uralt". Es begegnete mir auf einem Plakat in dem Spirituosengeschäft, in welches mich Irma oft nach einer Flasche "Halb und halb Schimmelgespann" schickte. Auf dem Plakat stand: "Wenn einem Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach uralt wert". Von "Ural" wusste ich, dass es eine weit entfernte Gegend ist. "Asbach" definierte ich eindeutig als ein Getränk - weil es das Wort "Bach" enthielt - das uralt. Aber wie ist uralen? Krabbelt es im Hals wie Himbeerbrause? Oder war es eiskalt auf der Zunge? Gleich hinter dem Ural begann doch dieses furchtbar kalte Sibierjen! (So hatte Waltraud gesagt.) Es dauerte eine Weile, ehe Irma begriff, was gemeint war, dann lachte sie schallend und klärte mich auf. Das Wort "uralt" wurde zwar benutzt in unserer Familie, aber man ließ mich in dem Glauben, dass es von "Uhr" hergeleitet wurde, was ich gern glaubte, denn unsere Uhr war "uralt". Und als ich lesen lernte, sagte die Lehrerin, dass wir die Buchstaben im Zusammenhang aussprechen sollen; das Wort "abartig" z.B. hätte ich "a bartig" gelesen und überlegt, was für eine Sorte Bart gemeint ist.
Irma war mein gesuchter Ratgeber, bis ich die Freundin meiner Mutter kennen lernte. Von ihr wird später noch ausführlich die Rede sein.
Ich freute mich immer, wenn ich Irma nach Hause kommen hörte. Dann lief ich zur Wohnungstür, nahm sie bei der Hand und zerrte sie in die Küche, wo sie mir die Witze aus der von Ida abonnierten "Berliner Zeitung" vorlesen musste. Und als ich selber lesen konnte, musste sie mir erklären, was an manchen Witzen lustig sein sollte. Da gab es z.B. die Rubrik: "Die Anekdote". Da war zuoberst ein Pelikan abgezeichnet, der scheinbar lachte. Ich kannte dieses Tier nicht und war der Meinung, dass es Anekdote genannt wird. Das Tier hatte einen gewaltigen, halboffenen Schnabel, der war fast so groß wie das gesamte Tier, es erschien mir daher sehr gespenstisch; und weil die Überschrift in zwei Hälften geteilt war, glaubte ich, dass das Tier nicht richtig lebt und auch nicht richtig tot ist, nur anek - tot. Diese Anekdoten verstand ich nur selten, weil man zu ihrem Verständnis gewisse Vorkenntnisse benötigte. Woher sollte ich sie haben, wo doch weder Ida, noch Gerda, von Familie L. ganz zu schweigen, jemals über Berliner Berühmtheiten aus Kunst und Wissenschaft redeten?
Irma behauptete immer, nicht viel Zeit zu haben, doch sie beantwortete meine Fragen so ausführlich und wahrheitsgetreu sie konnte und schob mich nicht zur Seite. Sie war auch imstande, auf eine Frage mit einem klaren: "Das weiß ich nicht!" zu antworten. Dieses Eingeständnis gab mir mehr Kraft und Mut, als wenn auch sie mich an meine Schullehrer oder gar auf "später" verwiesen hätte.
Sie zeigte mir, wie man mit Abziehbildern umgeht, wie man aus Kastanien kleine Körbchen und Puppenwagen schnitzt und wie man aus Eicheln Tabakspfeifen und kleine Männlein bastelt. Sie schenkte mir so nebenbei, also nicht, weil ich Geburtstag hatte oder sonst irgendein Feiertag war, Flaschenteufelchen und ein Kaleidoskop, an beidem hatte ich sehr viel Spaß. Als ich in Grete L.s Anwesenheit in das Kaleidoskop blickte, lästerte sie: "Siehst aus wie ne Blöde! Wat jibt et denn in det Ding zu seehn? Det sind doch man bloß bunte Papierkrümel und andra Dreck, du Dussel! Bloß die Krümel schpiejeln sich da! Du selba kannst nich in den Schpiejel kieken, dafor is et zu dusta in det Ding." Ich versuchte nicht, ihr die märchenhafte Schönheit dieser Spiegelungen zu erklären. Sie sah mich an, als wäre ich ein ekliger Käfer.
Im Winter 49 zeigte Irma Waltraud und mir, wie man Schattenspiele gestaltet. Bald konnten wir kleine und große Hunde, Schwäne, Pferde, Hühner und Hähne und sogar Affen und Giraffen an der Wand erscheinen lassen, woran wir sehr viel Spaß hatten.
Als sie 21 Jahre alt war, hatte sie einen sehr hartnäckigen Verehrer aus dem Westteil der Stadt. Er hieß Heinz und war etwa 10 Jahre älter als sie. Sie sagte ihm immer wieder, dass sie sich nicht an ihn binden würde. Er ignorierte jede Abweisung und machte ihr viele Geschenke, Blumen, Perlonstrümpfe (die sie sogleich an Gerda weiterreichte), Parfüm und vieles andere, auch einen großen Radioapparat. Irma lud mich sonntags häufig ein, den RIAS-Kinderfunk zu hören, aber diese Sendung entsprach nicht meinem Geschmack. Es erschien mir alles so gekünstelt und unnatürlich, besonders die hochdeutsch sprechenden Kinder. Kein mir bekannter Mensch sprach Hochdeutsch! (Ich ging damals noch nicht zur Schule.) Der RIAS-Kinderfunk war daher für mich nur ein Auswuchs der "Brotlosen Kunst". Aber es beglückte mich, zu wissen, dass man sich die Mühe machte, Sendungen eigens für Kinder zu gestalten.
Besagter Heinz jedenfalls ließ von seinen Bemühungen um Irma erst im Jahre 1952 ab, als sie ihm ausgangs eines seiner Besuche vor unserer Haustür klipp und klar sagte, dass sie sich nur zu Frauen hingezogen fühlte und er schon aus diesem Grund keine Chance bei ihr hatte. Er entgegnete, dass er sie gerade deshalb so reizend findet. Irma nannte ihn daraufhin einen fiesen, perversen Spanner, ohrfeigte ihn und ließ ihn auf der Straße stehen. Ida schlug nach diesem Bericht die Hände in echter Verzweiflung über dem Kopf zusammen und jammerte: "Den Dussel hättest du heiratn könn, denn weerste doch een for allemal vasorcht jewesen, du deemlijet Kamel!" Irma entgegnete stolz: "Ick vasorch ma alleene, det is so sicha wie jewiss! Außadem muss heutzudaare ne Frau nich unbedingt heiratn. Die Gleichberechtigung ermöglicht jedem n jesichertet Auskomm, det is jetz Sozjalismus!" Diese Worte machten mir den Sozialismus sehr sympathisch. Auch ich wollte später nicht - ähnlich wie Grete L. - angewiesen sein, darauf zu warten, dass mir mein Ehemann gnädig das Wirtschaftsgeld gibt, mit dem ich dann auf Biegen und Brechen die Familie zu ernähren hätte. Mit Blick auf das L.sche Familienleben empfand ich die Ehe als eine allseits befürwortete moderne Form der Sklaverei. Ich war - achtjährig - fest entschlossen, niemals zu heiraten.
Ich hatte diesen Heinz auch kennen gelernt. In meiner Erinnerung sehe ich einen eher unscheinbaren jungen Mann vor mir. Er war so zierlich, dass er nahezu feminin wirkte. Ich halte es für möglich, dass er Irma wirklich geliebt hat, wie wäre sonst seine jahrelange Anhänglichkeit zu erklären? Es gibt Männer, die sich nur in Lesben verlieben, ebenso wie es Frauen gibt, die sich nur in Schwule verlieben (sie sind bereits mehrfach literarisch belegt). Doch ehe diese Randgruppen gesellschaftlich anerkannt werden, muss noch sehr viel Toleranz unter den Menschen wachsen.
Für längere Zeit hatte Irma eine Freundin namens Rita. Das war eine energiegeladene Person mit leuchtend blauen Augen und reichem schwarzem Haar. Sie wohnte ein paar Monate bei Irma. Sie war sehr resolut und unternehmungslustig. Sie ernährte sich vom Verkauf eines von ihr produzierten Bügelfaltenfestigers. Sie hatte sich diese Erfindung patentieren lassen. Sie bestand aus einem Stift, der einem Radiergummi ähnlich sah, mit dem man - - - "sachte über die Bügelfalte streicht, danach das Bügeleisen wie gewohnt benutzt, und schon sitzt die Bügelfalte wie genäht! Äußerst strapazierfähig! Nie wieder zerknitterte Hosen! Sie können jede Arbeit verrichten, sich noch so oft bücken, mit der Freundin in der Wiese liegen und wer weiß was für Dummheiten machen, Ihre Hose bleibt der Stolz des Besitzers, knitterfrei bis zur nächsten Wäsche! Und dann wieder: Sachte mit dem Stift über die Falte . . ." So offerierte sie ihren Artikel. Sie stand auf den Wochenmärkten und schrie sich die Lunge aus dem Leib. An jedem Tag verkaufte sie einige Stifte, denn ihre heitere Art sprach die Leute an.
Einmal nahm sie mich mit, um die Ingredienzien für ihre Stifte einzukaufen. Sie brauchte dazu ein ganz bestimmtes Paraffin, das es nicht überall gab. Wir klapperten die einschlägigen Geschäfte ab und hatten überall Pech, nirgendwo hatte man diesen Artikel noch vorrätig. Endlich sagte uns eine Ladenbesitzerin: "Der det Zeuch produziert hat, is doot. Det Zeuch kriejen Se nirrjens mehr, Sie müssen sich schon an een anderet Zeuch jewöhn!" Aber das hatte Rita schon versucht. Jedes andere Paraffin ließ die Masse kraus werden und die Stifte zerbröselten. Sie probierte in unserer Küche etliche Tage andere Zusammensetzungen der Masse aus, bis sie eine gute Mischung gefunden hatte. Gerade zur rechten Zeit, denn Ida sagte unvermittelt: "Nu is det aba ma jenuch mit den Jeschdank in meine Küche!" und Rita beeilte sich, alles aufzuräumen und zu säubern.
Im selben Jahr nahm sie mich mit auf den Weihnachtsmarkt. Dort war ich nie zuvor, und ich hatte ihn mir so richtig märchenhaft vorgestellt. Weihnachten treffen alle Märchen zusammen. Märchen sind Träume, Weihnachten ist ein alljährlich wiederkehrendes Wunder. Ich hoffte, daß uns auf dem Weihnachtsmarkt irgendein Wunder begegnen würde, dem ich dann zurufen könnte: "Hier bin ich, was darf ich zu deiner Vollendung tun?" Stattdessen traf ich auf das jedem bekannte heillose Gedränge. Rita schützte mich mit ihrem Körper vor Anrempelungen und führte mich zu einem Karussell, wo ich eine Runde mitfahren durfte. Sie setzte mich zu ein paar Kindern in die Gondel, was mir sehr unbehaglich war, denn jene waren gut bekannt miteinander und fühlten sich durch mich gestört, was sie mich durch "unabsichtliche" Tritte und Püffe spüren ließen. Ich war froh, als die Fahrt zu Ende war. Rita wunderte sich, dass ich nicht noch einmal fahren wollte und freute sich, auf diese Weise Geld zu sparen.
Angeregt durch die vielen Wohlgerüche des Weihnachtsmarktes bekam ich Appetit. Ich fragte, ob sie etwas zu Essen kaufen würde? Sie kaufte einen kandierten Apfel. Derartiges hatte ich nie zuvor gegessen. Es war ein großer Apfel. So groß, dass ich ihn nicht anbeißen konnte. Da machte Rita mir den Anfang. Der Apfel war essigsauer, mir zieht sich heute noch alles zusammen, wenn ich an diesen Apfel denke! Die rote Glasur war messerscharf und schnitt mir in den Gaumen. Ich konnte nicht verstehen, dass das eine beliebte Leckerei sein sollte, wie konnte man nur so etwas essen? Obendrein bekam man ganz klebrige Finger davon, klebrige Lippen und Nase! Namentlich letztere fing gar arg an zu frieren, nachdem sich der Zucker nicht abwischen ließ. Wir gingen also völlig unamüsiert nach Hause, denn auch Rita hatte nicht das gesuchte ganz besondere Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern finden können. (zwanzig Jahre später habe ich noch einmal einen kandierten Apfel probiert und endgültig befunden: Bonbon gehört nicht auf einen Apfel, er isst sich besser ohne Bonbon und Bonbon lutscht sich besser ohne Apfel. Ich habe meinen Kindern nie einen kandierten Apfel gekauft.)
Auf dem Heimweg wurden wir von einer dunkelhäutigen Frau unbestimmbaren Alters angesprochen. Einige Löckchen ihres tiefschwarzen Haares lugten unter ihrem riesigen, mit dichten, langen Seidenfransen verzierten, verwegen gebundenen Kopftuchs hervor, das auch den Blick auf große goldene Ohrringe freigab. Diese Ohrringe gehören zu dem Erstaunlichsten, das ich in meinen frühen Kindertagen sah. Da waren nicht nur die halbmondförmigen Kreolen, sondern auch feine Kettchen, an denen blaue, grüne und rote Prismen selbst den geringsten Sonnenstrahl in vielfarbige Blitze verwandelten. Die Frau vermutete in uns Mutter und Tochter. Sie hatte Kleider unter ihrem weiten Mantel verborgen und zeigte uns eines, das mir gepasst hätte. Es war ein Trachtenkostüm aus schwarzem Tuch, aufwendig in südeuropäischer Art mit Perlen und Goldstickerei verziert. Es gefiel mir sehr gut, besonders die blendendweiße Bluse mit dem zarten Spitzenkragen. Sie klagte uns ihr Leid, dass der Verkauf der Kleider ihrer verstorbenen Tochter ihr einziger Broterwerb sei. Schon deshalb hätte ich ihr das Kleid abgekauft. Aber Rita war sich nicht sicher, ob sie die vierzig Mark von Ida wiederbekommen würde, und ich bestätigte ebenso lauthals wie wahrheitsgetreu: "Oma hat keen Jeld!" Obwohl Rita klarstellte, dass sie nicht meine Mutter ist, folgte uns die Frau noch eine ganze Weile in der Hoffnung, dass ich Rita doch noch zu dem Kauf überrede und ging im Preis sogar auf fünfundzwanzig Mark hinunter. Letztendlich verfluchte sie uns in einem sonderbaren Kauderwelsch und gipfelte in der Behauptung, dass ich zeitlebens niemals ein so schönes Kleid auch nur berühren werde, geschweige denn tragen, denn so ein schönes Kleid würde ich nie wieder bekommen, das könne sie als Zigeunerin garantieren. Als wir sie endlich los waren, knurrte Rita: "Sowat! Vakooft die die Kleider ihrer verstormnen Tochter! Wer s gloobt, wird seelich! Davon kann se doch nich leehm! Die wollte uns bloß det Jeld aus de Tasche locken!" Diese Ansicht wurde von Ida und Grete L. geteilt. Auch lobten sie mich, dass ich auf das Kleid verzichtete, denn Ida hatte wirklich kein Geld für Kleider, und wenn sie noch so preiswert und gut waren und von mir noch so sehr begehrt wurden.
Einzig der Fluch der Zigeunerin, dass ich nie ein so schönes besticktes Kostüm besitzen werde, wurde von Ida und Grete L. ernst genommen. Aber ich wusste schon, dass Grete L. Luftblasen redete, wenn sie die Augen auf eine bestimmte Weise aufriss, und lachte innerlich über ihre Auffassung.
Sieben Jahre später schenkte mir der geschiedene Mann der Freundin meiner Mutter (später Onkel Erich genannt) ein russisches Folklore-Kostüm. Es war zwar nicht wie das Zigeunerkostüm mit Gold und Perlen bestickt, aber es hat mir genauso gut gefallen.
Heute - wo ich diese Erinnerungen aufrufe - weiß ich, dass mir in dieser Zigeunerin tatsächlich ein Wunder begegnet war. Sie war Überlebende des Holocaust, von welchem ich damals nichts ahnte. Und ich habe nichts für sie getan. Und ich wurde dafür gelobt. Unglaublich.
Das Weihnachtsfest 49 wurde mit Familie L. gemeinsam gefeiert. Damals war gerade ein Schlager in Mode, der lautete: "Rita war 18 und jung, Rita war 18 und schön, nie hatte sie einem Mann tief in die Augen gesehn . . ." Dies sang man nun lautstark mit hämischen Seitenblicken auf Irmas Freundin Rita. Ich wusste inzwischen (durch den Blick in Herrn L.s und Alfreds Augen), dass es gar nicht so absolut erhebend ist, "einem Mann tief in die Augen zu sehn" und war der Meinung, dass Rita überhaupt nichts verpasste, und sagte leise zu ihr: "Mensch, sind diiie doof!" Irma und Rita sahen sich verdutzt an, dann lachten sie, und mich beschlich das Gefühl, mich selbst ins Abseits gestellt zu haben. Doch ich stand dazu. Irma und Rita waren mir wesentlich lieber als Herr L. oder Alfred. Und ich urteile heute noch genauso.
Danach hatte Irma eine Freundin, die gewiss zehn Jahre älter war als sie. Sie hatte kurze, strubbelige, mittelblonde Locken, die ihr wirr vom Kopf abstanden, und sie war meistens grell geschminkt. Sie besaß einen ebenso strubbeligen kleinen Hund unbestimmbarer Rasse, dem sie gern den Bauch in seiner vollen Länge streichelte. Der Hund war das so gewöhnt, dass er sich vor jedem, der ihn streicheln wollte, sofort auf den Rücken warf. Mir war es unangenehm, ihn zwischen den Hinterbeinen zu streicheln, aber sein Frauchen sagte auffordernd zu mir: "Mach et man ruhich, det hat der jenau so jerne wie jeda andre, ob Mensch oda Tier, alle wolln se jenau DA jeschtreichelt werdn!" Ich teilte ihre Meinung nicht. Es traf auf mich nicht zu. Ich ließ mich zwar von Alfred "genau DA" streicheln, aber es war mir unangenehm. Das Begehren der Erwachsenen erstaunte mich. Ich ließ es ebenso über mich ergehen, wie Ida und andere Erwachsene "die neue Zeit" hinnahmen.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr war ich der festen Überzeugung, dass Irmas Bekanntschaften ganz normale Freundinnen waren, Freundinnen, wie sie jede Frau hat. So wäre es auch geblieben, wenn mich Waltraud nicht aufgeklärt hätte: "Die Irma is schwul." Nun dämmerte es mir, dass die Freundinnen einander liebten, dass sie zärtlich zu einander waren, dass sie genau die sexuelle Erfüllung miteinander fanden, die Alfred bei mir suchte. Ich dachte: "Wat det nich allet so jibt!" und freute mich, dass Irma immer Freundinnen hatte, die heitere, lebenslustige Menschen waren, sodass auch sie stets heiter und energiegeladen war.
Ein beliebter selbst erfundener Filmtitel von Gerda lautete: „Der rasende Pfortz auf der Gardinenstange". Weil ich all zu gern die Kinokindervorstellungen besuchte, wollte ich oft schon vorher wissen, wie der Film heißt. Irma wusste mehr als alle, also fragte ich sie an einem Sonntagmorgen, wie der heutige Film heißt. Sie sagte, sie wisse es nicht. Ich glaubte ihr nicht, sondern unterstellte, dass sie mich veräppelt. Zwischendurch reichte Ida uns Kindern das Frühstück. Es bestand aus Schmalzstullen, wobei auch zwei Kanten vakant waren. Waltraud erschien nach dem ersten Bissen der mir zugedachte als schmackhafter, weil er tiefer eingeschnitten war. Wir tauschten. Dann stellte sie fest, dass mein Brot viel härter war als ihres, und sie wollte ihren Kanten zurück. Nun sagte Irma ernst: Der heutige Film heißt "Die Jagd nach dem Schmalzkanten". Ich betrachtete das als Antwort auf meine Frage.
Auf dem Filmplakat stand: "Anna Ith". Ich ging noch nicht zur Schule. Fragte jemand nach dem Titel des heutigen Films, sagte ich strahlend: Es gibt heute "Die Jagd nach dem Schmalzkanten" und hielt alle für doof, die sagten, dass der Film "Anna Iht" heißt. Dieser Film über eine Heldenjungfrau beschäftigte mich sehr lange. Ich war froh, dass es nicht um einen Schmalzkanten ging. Waltraud hatte mir nicht Einhalt geboten. Sie grinste nur. Sie konnte lesen, sie hätte mir den wahren Filmtitel nennen können!
Um 1950 fragte Irma Waltraud und mich: "Ihr esst doch jerne Bücklinge, wa? Könnt a habn. Wie viele wollt ihr?" Ich erwiderte begeistert: "Eeen schaff ick janz beschtimmt!", ohne lange darüber nachzudenken, wie sie wohl an den raren Artikel herangekommen war; sie besaß ja öfter mal etwas Besonderes. Irma sagte: "Ihr könnt soo viele haben, wie ihr nur wollt!" Nun sagte ich: "Denn will ick dreie!", denn dann hätte ich noch einen für morgen und könnte auch noch der Oma einen abgeben. Irma verneigte sich dreimal vor mir, wobei sie feierlich sagte: "Ein Bückling, zwei Bücklinge, drei Bücklinge, bitte schön!" Ich erkannte erheitert, dass Worte mitunter eine doppelte Bedeutung haben, und lachte herzhaft. Waltraud war auf das Spiel nicht eingegangen, für sie war es ganz einfach nur "Blödsinn".
Dann hielt Irma ihre Zeigefinger steil in die Höhe und fragte: "Wisst ihr, was das ist? Das sind Mohrüben. Und was sind Mohrüben? Polizeifinger. Und was machen Polizeifinger? Das!" Und dann kitzelte sie uns an den Rippen, dass wir vor Wonne kreischten.
Damals versuchte sie sogar, mir auf meine Bitte hin das Pfeifen und Mundharmonikaspielen beizubringen, aber ich begriff nach ihren Erklärungen und selbst nach ihrem Eingriff in meinen Mund noch immer nicht die Stellung der Zunge bei diesen Unternehmungen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren konnte ich dann plötzlich wie von selbst Melodien pfeifen, aber eine Mundharmonika habe ich nie wieder angefasst.
Eine ihrer Freundinnen hatte ihr einen kleinen eingerahmten Spruch geschenkt, er war dargestellt wie ein kleines Zimmer, d.h. es standen richtige kleine Möbel an den Seiten und auf der Wand stand: "Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken!" Über diesen Spruch habe ich jahrelang philosophiert: "Ist es etwa angenehm, wenn die Krümel im Bett pieken? Oder ist der Spruch eine Warnung?" Ich kam zu keinem Ende. Irma erklärte mir diesen Spruch als Scherz und ich fand mal wieder nicht die Stelle zum Lachen.
Genauso ging es mir auch mit einem Lieblingsspielzeug von ihr. Es handelte sich dabei um zwei kleine Hunde aus Plaste, die einen Magnetkern enthielten, sodass sich bei Annäherung der Tiere aneinander die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen festklebte. Die Tiere rasten förmlich aufeinander zu, der eine vorwärts, der andere rückwärts. Darüber konnte Irma mit ihren Freundinnen stundenlang kichern. Ich hatte auf der Straße gesehen, dass alle Hunde sich so verhalten, jeder Hund schnuppert am Hinterteil des anderen. Ich weiß noch heute nicht, was es darüber zu lachen gibt.
Damals unterhielt ich mich mit Onkel Erich darüber, und er erzählte mir eine Sage zu diesem Thema, dass nämlich nach einem Kongress der Tiere der Hund mit einem Brief zum König geschickt wurde. Er trug ihn in der Schnauze, damit er schnell laufen konnte. Dann musste er ein Gewässer überqueren, und er klemmte sich den Brief unter den Schwanz, damit er beim Schwimmen besser atmen konnte. Er dachte nicht daran, dass sein Schwanz beim Schwimmen steil in die Luft ragt, so ging der Brief verloren. Seit jenem Tag beschnuppern sich die Hunde auf diese Weise, um herauszufinden, wo der Brief geblieben ist.
Übrigens bezeichnete Irma sich selbst gern als "Intelligenzbestie".
1952 hatte sie eine Freundin, die englisch sprach. Wenn Irma angetrunken war, ließ sie uns an ihrem neuen Wissen teilhaben; das war lustig, denn sie übermittelte uns das Englische anhand der Ähnlichkeit mit dem Deutschen. Viele Worte kommen im Englischen und im Deutschen vor, jedoch häufig mit ganz anderem Sinn. So lernte ich von ihr den Buchtitel "The poor People of London" in der fehlerhaften Übersetzung "Alle Londoner sind nur Piepels". Natürlich sagte sie uns auch, wie die richtige Übersetzung heißt. Abschließend bemerkte sie: "Seht a, det sind so typische Eselsbrücken. Wenn man sich irrjendwat nich richtich merken kann, baut man sich ne Eselsbrücke. Jeda Esel braucht ne Brücke!"
Jene Freundin hatte ihrerseits eine Engländerin zur Freundin, die nur wenig deutsch sprach. Einmal berichtete Irma uns über eine Unterhaltung in der Wohnung dieser Freundin. Irma hatte recht schwungvoll ihre Meinung über ein aktuelles Thema verlauten lassen und theatralisch mit den Worten geschlossen: "Irr ick ma oda irr ick ma nich? Ick irr ma nich!" worauf die Engländerin leise, aber fest in das allgemeine nachdenkliche Schweigen hinein sagte: "Du doch Irma!" Ein liebenswerter Irrtum.
Wenn Irma sich in unserer Küche mit Waltraud und mir auf eine längere Unterhaltung eingelassen hatte, drehte sie sich häufig mitten im Satz um mit der scherzhaften Bemerkung: "Ihr haltet mich bloß von der Arbeit ab!", dabei war sie doch diejenige, die das Gespräch begonnen hatte! Wir lachten und wandten uns anderen Dingen zu.
1950 wechselte Irma von DEGUFA zur BVG über. Hier hatte sie den Vorteil der Dienstkleidung, die ihrem Modegeschmack sehr entgegenkam. Und hier war es auch möglich, den Verdienst durch nicht abgerechnete Fahrscheine etwas aufzubessern. Die leeren Fahrscheinblöcke schenkte sie uns Kindern. Wir bastelten daraus Möbel für unsere Puppenstuben. Wenn der Neid der Familie L. nicht gewesen wäre, hätte ich nie geglaubt, dass Irma Diebstahl begangen hatte. Denn laut Ida war alles richtig, was Erwachsene tun.
Auf all ihren Arbeitsstellen war sie anstellig und fleißig. Da sie auch sehr sparsam war, konnte sie sich bald ein Fahrrad kaufen, um nicht mehr auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Anfangs stellte sie ihr Fahrrad in den Korridor, aber das passte der Ida nicht, Irma musste es in ihre Stube stellen, wo es ihr arg im Wege war. 1951 wurde von Alfred und Herrn L. der defekte Badeofen nebst Wanne aus unserem Badezimmer entfernt; und dort konnte Irmas Fahrrad nun stehen, ohne jemanden zu stören. Jedes Mal, wenn ich daran vorüber kam, amüsierte es mich, dass das Fahrrad die Aufschrift "Diamant" trug. Irma pflegte das Rad so, dass es auch wirklich wie ein Diamant blitzte.
Als die Motorroller auf den Markt kamen, kaufte sie einen "Sperber". Damit kam sie schneller zu ihren Ausflugszielen und konnte jemanden auf dem Rücksitz transportieren. Der "Sperber" wurde anfangs im Hausflur abgestellt, das duldete nun wieder die Hausverwaltung nicht. So stellte sie ihr Gefährt auf den Hof, dort war genügend Platz.
Kurz nach meinem achten Geburtstag bemerkte ich, dass Irma eine Zigarettenschachtel in der Küche vergessen hatte. Ich war wieder einmal ganz allein in der Wohnung und hatte Langeweile, so steckte ich mir eine Zigarette an. Ich hatte oft genug beobachtet, wie es gemacht wird und hatte keine Schwierigkeit damit. Der heiße Rauch biss mir in Zunge und Hals. Ich bemühte mich, das zu genießen, denn ich wusste durch die Reden der Erwachsenen, dass Tabak ein Genussmittel ist. Ich konnte den Genuss nicht nachvollziehen, rauchte die Zigarette aber gänzlich auf. Nun wusste ich, wie es schmeckt und konnte zeitlebens darauf verzichten.
Manchmal neckte Irma mich im Vorübergehen mit kurzen Worten, die aber nie so verletzend waren, wie ich es von allen anderen gewöhnt war. Da sie keine Antwort abwartete, konnte ich nun schmollen oder vergessen. Oft tat ich beides. In jedem Fall aber vergaß ich es, denn Irma war eine lustige Person und hatte nur Spaß gemacht. Nur eine negative Bemerkung hat mich nachdrücklich beeinflusst: Ich stand vor dem Spiegel und probierte erstmals in meinem Leben aus eigenem Antrieb eine neue Frisur. Irma durchschritt den Flur und ich fragte sie: "Seh ick so bessa aus?" sie erwiderte ohne mich anzusehen: "Du mit deine Schweinelocken!" So war mir kurz und schmerzhaft jegliche Eitelkeit für alle Zeit vergangen.
Eine andere Freundin von Irma hieß Helga. Sie war ein klein wenig größer als Irma, stets tadellos gekleidet und frisiert, eine richtige Dame mit dezentem Make-Up und gezupften Augenbrauen. Ich bat sie, mir einen Vers in mein Poesie-Album zu schreiben. Aber sie hatte eine derartige "Doktorschrift", dass ich sie nicht entziffern konnte. Ich bat sie, mir vorzulesen, was sie geschrieben hatte. Stattdessen schrieb sie auf die nächste Seite: "Da Christa das nicht lesen kann, fang ich noch mal von vorne an." und wiederholte den Text in derselben Krakelschrift. Nie habe ich erfahren, was sie mir für einen Spruch ins Album geschrieben hatte!
Wenn ich Irma bat, mir ein Märchen zu erzählen, begann sie zu singen: "Rotköppchen hübsch und fein ging in den Wald allein, da kam der böse Wolf und fraß es auf!"
Sie erzählte lieber Witze, z.B. diesen: Zur Jahrhundertwende lebte in Berlin eine Mutter mit drei Töchtern, die alle einen Sprachfehler hatten, sie konnten weder "g" noch "s" aussprechen. Jedes Jahr schärfte sie ihren inzwischen erwachsenen Töchtern ein, den Mund zu halten, wenn sie beim Tanz einen jungen Mann kennen lernen, damit er nicht schon vor der Hochzeit merkt, was er sich einhandelt. Eines Tages beherzigten die Mädchen das und kehrten alle mit einem netten jungen Kavalier an den Tisch zurück. Aber die Berliner Tanzsäle waren auch damals nicht so richtig sauber, und eines der Mädchen erblickt eine Spinne an der Wand. Entsetzt schrie sie auf: "Eine Pinne! Eine Pinne!" Die zweite flüsterte ihr ebenso entsetzt zu: "Bit du dille! Bit du dille! (Bist du stille)" Die dritte aber sagte sehr vergnügt: "Na, ein Dück, det it dit nit dedaat habe! (Na, ein Glück, dass ich das nicht gesagt habe)" Oder diesen: Klein-Erna fragt: "Mutti, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, aber den kennst du doch!" - "Nein, ein Roler, Mama." Die Mutter schickt das Kind zum Vater. "Papa, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, nicht wahr?" - "Nein, ein Roler." - "Ja, woher hast du denn das Wort? Vielleicht ergibt sich der Sinn ja aus dem Satzzusammenhang." - "Von den Kindern auf der Straße, die singen immer: "Tittiroler sind lustig . " Titti kenn ich, aber was ist ein Roler?"
Ida verbot mir, in Irmas Zimmer zu gehen, ganz gleich, ob sie zu Hause war oder nicht. Aber die wenigen Blicke, die ich in ihr Zimmer werfen konnte, lassen mich verkünden, dass es stets ordentlich und sauber war, ebenso wie ihre Kleidung und Wäsche. Selten sah ich, dass sie Wäsche wusch, das erledigte wahrscheinlich ihre jeweilige Freundin für sie.
Auch sah ich sie selten eine Mahlzeit zubereiten. Sie aß meist auf ihrer Arbeitsstelle zu Mittag. Was sie zum Abendbrot benötigte, hatte sie in ihrer Stube. Und wenn sie hin und wieder ihre Freundinnen am Wochenende eingeladen hatte und für sie kochte, verließ Ida demonstrativ mit mir die Küche, um "die Sauerei nich mit ansehn zu müssn". Aber Irma beeilte sich mit der Kocherei und hinterließ die Küche nach Möglichkeit sauberer, als sie sie vorgefunden hatte. Einmal wollte sie zusammen mit einer Freundin Kohlrouladen kochen. Sie trugen heiter alles zum Tisch, was sie benötigten, und kamen dann in Schwierigkeiten: Kocht man zuerst die Kartoffeln oder den Kohl? Kocht man den Kohl überhaupt, oder wickelt man ihn roh um das Fleisch? Irma fragte mit tiefem Erstaunen in der Stimme: "Ja, hast du denn noch niemals Kohlrouladen gekocht?" - "Nein.", entgegnete die Freundin tief beschämt. "Na, ick ooch nich!", lachte Irma tröstend. Soviel ich weiß, gelang ihnen die Mahlzeit dann doch.
Einmal stand ich neugierig in der Küche, um zu sehen, was Irma ihren Freundinnen wohl vorsetzen würde. Es sollte u.a. einen Obstsalat geben. Auf dem Küchentisch stand eine große Tüte mit Äpfeln. Ich hatte schon mehrere Monate keinen Apfel mehr gegessen und fragte lüstern: "Tante Irma, bleibt da vielleicht n Appel übrich?" Gutgelaunt antwortete sie: "Kannst dir jleich een neem." Ich griff in die Tüte, ohne hineinzusehen und hatte ein Prachtstück von Apfel in der Hand, das ich mit großer Lust sogleich herzhaft anbiss. Aber so hatte Irma es nicht gemeint, sie hatte "gleich" gesagt und nicht "auf der Stelle". Sie schüttete die Tüte aus und sah, dass ich den einzigen großen Apfel erwischt hatte, die anderen waren nicht halb so schön. Nun war sie böse mit mir, ihre gute Laune war dahin. Jetzt sagte sie nicht mehr: "Du sollst nich leehm wie n Hund", sondern wies mich aus der Küche.
Selbst Irma, die so tolerant und gebildet war, stimmte eines Tages in den allgemeinen Chorus gegen meine Mutter ein mit der Bemerkung: "Deine Mutter kann keene Witze azeeln, die vasaut imma die Poänkte." Das hat mir sehr wehgetan. Nach aller anderen üblen Nachrede sollte ich nun auch noch hinnehmen, dass meine Mutter keine Witze erzählen konnte. Heute vermute ich, dass Irma nicht akzeptierte, dass es unterschiedliche Arten von Humor gibt, denn ich habe meine Mutter als sehr humorvollen Menschen kennen gelernt und viel mit ihr gelacht.
Während Irmas Tätigkeit bei der BVG ließ sie sich für den Dienst bei der Volkspolizei anwerben. Hier lebte sie förmlich auf. Sie war mit Leib und Seele dabei, die Arbeit machte ihr sichtlich Spaß. Ihre Anstellung bei der Polizei war leider nur von kurzer Dauer. Sie verliebte sich sehr heftig in eine Kollegin und lernte von ihr nicht nur alle Genüsse der lesbischen Liebe kennen, sondern auch den Alkoholmissbrauch. Es war nur eine Frage der Zeit, dass man sie beide betrunken im Dienst erwischte. Das darauf folgende Disziplinarverfahren gipfelte darin, dass Irma aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Aber nicht das war das Schlimmste, sondern die Reaktion der geliebten Freundin. Sie gab Irma die Schuld an allem und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dieser Schicksalsschlag hat Irma sehr schwer getroffen. Sie trank eine große Flasche Schnaps leer, zog ihr hübschestes Nachthemd an, legte sich auf ihr Bett, stellte eine Schüssel daneben und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Gefühl für Ordnung und Sauberkeit war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie selbst in dieser tragischen Situation bestrebt war, keine hässliche Pfütze zu machen.
Irgendwie hatte Ida jedoch gespürt, dass mit Irma etwas nicht stimmte. Sie wollte mit ihr reden, fand aber die Tür verschlossen. Es war das erste mal, dass Irmas Tür verschlossen war. Ida schlug Krach. Anhand der Reaktion - absolute Stille - erkannte sie, dass schnelle Hilfe geboten war. Sie holte Herrn L. herunter, damit er die Zimmertür aufbricht. Als sie sah, was geschehen war, schickte sie rasch nach unserem Hausarzt, der auch sofort kam und die Blutung stoppte. Irma wurde gerettet - und sie war nicht froh darüber. Das wurde allgemein ignoriert. Das Leben geht weiter! Der Arzt übergab eine Packung Beruhigungstabletten. Ida schickte mich mit diesen Tabletten zu Irma und trug mir auf, ihr zu sagen, dass sie nicht so blöd sein soll, die Dinger alle auf einmal zu nehmen. Ich könnte mich heute noch dafür ohrfeigen, dass ich diesen Auftrag wortwörtlich und in Idas Gestus erfüllte! Irma hatte mehr Mitgefühl verdient; zumal Ida mit ihr auch nicht die bei Mädchen sonst üblichen Scherereien hatte. Irma hatte stets für die Familie mitgesorgt in den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren. Das aber war nun alles vergessen. In Idas Augen war sie abartig und verabscheuungswürdig.
Seit jener Zeit war Irma verschlossen und in sich gekehrt. Ihr heiteres Wesen hatte sich gänzlich verloren. Sie trank jetzt regelmäßig und kam meist nur zum Schlafen nach Hause. Sie fand zwar immer wieder eine Freundin, aber keine Beziehung hielt für längere Zeit.
Wenn sie auf ihre Trinkgewohnheiten angesprochen wurde, antwortete sie je nach Laune: "Prost, Pulle, wie süß ist dein Loch!" oder: "Doof frisst, Intelligenz säuft!" Diesen Satz wendete ich - dreißigjährig - in erweiterter Form auf mich selber an: "Ick bin doof und versuche manchmal, intellijent zu sein."
Ich war etwa zehn Jahre alt, als Irma mich ein klitzekleines Gläschen Likör probieren lassen wollte. Ich warf den Kopf zurück und sagte stolz eines der zehn Gebote der "Jungen Pioniere" auf: "Junge Pioniere trinken keinen Alkohol!" und ging ihr aus dem Weg. Darüber war sie regelrecht erbost. Ich war nicht in der Lage, auf sie einzugehen. Sie war als "absonderlich" verschrien, und ich wollte "normal" sein.
Häufig kam es vor, dass sie an Tagen von Familienfeiern schon halb betrunken war, bevor Alkohol an die Gäste ausgeschenkt wurde. Dann sagte Ida giftig zu ihr: "Konnts de wieda nich de Zeit abwaaten, wa, hast de wieda vorjefeiat, wa?" Sie verließ dann das Haus und blieb der Feier fern. Sie wollte wahrscheinlich nicht zu einer Familie gehören, die keine war.
Das Leben ging also weiter, Irma aber hatte sich merklich verändert. Sie war nicht mehr so leicht ansprechbar für mich und auch hart anderen gegenüber. Als auf einer Familienfeier einmal Japan als "Land des Lächelns" bezeichnet wurde, sagte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln: "Ja, ja, die Japse! Die haam den Booren raus, imma nur lächeln!"
Immer wollte ich sie für ein Gespräch gewinnen. Als ich z.B. einmal einen leichten Husten hatte und auch sie hustete, sagte ich scherzhaft zu ihr: "Du hast ma anjeschdeckt!" Sie erwiderte unwirsch: "Ja, ja, du hast n Rauchahustn! Ick un dir anjeschdeckt!"
An einem Sonnabend sagte ich übermütig zu ihr: "Morjen is Sonntach, da MUSS die Sonne scheinn! Det beschtimme ick!" Sie hatte wahrscheinlich wieder getrunken, jedenfalls erkannte sie den Widersinn dieser Bemerkung nicht und sagte fuchtig: "Du hast hier jarrnischt zu beschtimm, merk dir det!"
Da ich Irma als Kreuzworträtselfan kannte, ging ich - achtjährig - einmal mit einem Rätsel aus meiner ABC-Zeitung zu ihr. Ich war sehr stolz darüber, schon einige Lösungen in das Rätsel eingetragen zu haben, aber die anderen wollten nicht mehr hineinpassen. Sie warf einen kurzen Blick auf das Rätsel und keifte: "Det haste ja allet janz falsch jemacht! Die Antwort uff "Vaterland" heißt "Heimat" und nich "Deutschland", du Dussel, denkste denn, dass alle Menschen uff de Welt Deutsche sind? Jeda hat doch sein eijenet Vataland! Du hast det janze Reetsel vaschmiert! Man schreibt doch die Wörta bloß in die weißn Kästchn rin un nich drübawech!" Ich hatte die hellblauen Blindfelder nicht als solche erkannt und erst jetzt erfahren, welche Funktion sie haben. Ich hatte nun auf schmerzliche Weise etliches von Irma gelernt und ging nie wieder mit einem Kreuzworträtsel zu ihr.
Zwei Jahre später hatte sie in der Küche ein großes Rätsel aus der Wochenendbeilage der "Berliner Zeitung" liegen lassen. Ich hatte ihr beim Raten zugesehen und bemerkt, dass ihr mittendrin ein langes Wort fehlte. Es wurde nach dem "Erfinder" der Magdeburger Halbkugeln gefragt. Über ihn hatte ich gerade etwas in einem Bibliotheksbuch gelesen, und ich schrieb rasch seinen Namen in das Rätsel. Irma entdeckte bei ihrer Rückkunft sogleich meine krakeligen Buchstaben und wollte mir die Zeitung um die Ohren schlagen, weil sie nicht glauben wollte, dass der Name richtig war. Ich hatte zwar nicht mehr mein Bibliotheksbuch zum Beweis, aber die nachfolgenden Begriffe passten akkurat in das Rätsel. So erwarb ich mir kurzzeitig Irmas Achtung, worauf ich sehr stolz war.
1958 hatte ich von Onkel Erich ein russisches Küchenlied gelernt und sang es recht häufig. Es handelte von dem russischen Helden Stenka Rasin. Es kam in dem Lied eine Zeile vor, die mit den Worten: "Stenka hört es . . ." begann. Als ich wieder einmal das Lied lautstark in unserer Küche sang, kam Irma aus ihrer Stube und sagte verweisend: "Pass bloß uff, eh, Schtenka hört det!"
Zu jener Zeit begann ich, mir eine politische Meinung zu bilden und redete eines Tages auch mit Irma darüber. Ich erklärte in diesem Zusammenhang: "Wir alle, alle Menschen dieses Schtaates, sind kleine und größere Rädchen; jeda hat an seihm Platze seine Uffjabe zu erfüllen, niemand ist unwichtich!" Irma hatte mit schiefem Mund zugehört und sagte nun: "Fang bloß nich an zu eiern, du schubst sonst den janzen Schdaat aus n Angeln, un denn wirst de rausjeschmissn!" Ich ignorierte ihre Abwertung und bestätigte: "Jenauso is et!"
Manchmal fanden heitere Abende in ihrem Zimmer statt, dazu lud sie einen gewissen Freundinnenkreis ein. Zuerst gab es ein gutes Essen, danach diverse Getränke und mehrstimmige Gesänge. Eine der Freundinnen spielte Gitarre, eine andere Mundharmonika. Da ich die Lieder durch die Wand hindurch hörte, sind mir heute noch zwei davon geläufig: "Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr. Du brauchst kein Hutsalon und auch kein Abendkleid, dann wär der Weg zum Standesamt nicht mehr so weit! Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr!" Von dem anderen weiß ich nur noch, dass es aus mehreren Liedern zusammengesetzt war, die nahtlos ineinander übergingen, wodurch sich ein heiteres Kauderwelsch ergab. Es endete mit den Worten: "Dann hol ich mir einen - - - runter vom Holunderbaum - - - das Ganze war ja nur ein Traum." Jeder Absatz gehörte zu einem anderen Lied, wie an der Melodie zu erkennen war.
Bei DEGUFA arbeitete auch ein Schwarzer; er war als Besatzungssoldat aus Amerika gekommen und hatte eine Berlinerin geheiratet. Er war 1954 ca. fünfzig Jahre alt und wohnte ganz in unserer Nähe, jedenfalls sahen wir ihn häufig, wenn er zur Nachmittagsschicht ging oder von der Frühschicht kam. Familie L. mokierte sich häufig über sein gebrochenes Deutsch, und sie nannten ihn abfällig "det Mohrchen". Als Irma einmal zufällig bei einem derartigen Kaffeeklatsch in unsere Küche kam, fuhr sie energisch dazwischen: "Der heißt nicht "Mohrchen", sondern Abdulla N Taguru!" worauf Grete L. höhnisch erwiderte: "Du bist selba so n Guru!" Ich war stark beeindruckt, dass Irma diesen Mann verteidigte, ohne einen Vorteil davon zu haben. Er hatte niemandem etwas getan. Grete L. hatte kein Recht, abfällig über ihn zu reden.
Die letzte Freundin, mit der Irma längere Zeit befreundet war, hieß Heidi. Sie war der Irma in gewisser Weise sehr ähnlich, trug fast immer Hosen, hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht, dunkelblonde, kurze Locken und große braune Augen. Sie hing wie eine Klette an Irma und war furchtbar eifersüchtig, sogar darauf, dass Irma mit Waltraud und mir in einer Wohnung lebte. Dabei sprach Irma kaum noch mit uns. Die beiden zankten sich oft und lautstark miteinander, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Aber immer wieder vertrugen sie sich miteinander, wobei Heidi in der Regel die Verzeihung Suchende war.
Meine Jugendweihe wurde in Irmas Zimmer gefeiert, weil dort alle Gäste an den Tisch passten, ohne dass viel umgeräumt werden musste. Als Gäste erschienen Gerda, Waltraud, Onkel Erich, für einen kurzen Moment Grete L., besagte Heidi und natürlich Irma und Ida. Es gab Kaffee und Kuchen. Die Stimmung war miserabel. Es war keine Feier, sondern eine Qual für alle Anwesenden. Schweigend wurde der Kuchen vertilgt. Was hätte ich Vierzehnjährige unternehmen sollen? Als der Tisch abgeräumt wurde, sah ich, wie Irma Heidis Brust streichelte. Damit hätte sie meiner Meinung nach warten können, bis sie mit ihrer Freundin allein war. Solange hatte wenigstens ich noch meine Jugendweihe feiern wollen, jetzt war auch für mich der Tag gelaufen. Ich fühlte mich durch dieses Streicheln verletzt und entwürdigt.
Als Ida tot und beerdigt war und ich zu meiner Mutter zog, hat Irma mir meine gesamte Habe auf ihrem Motorroller transportiert, wofür ich ihr sehr dankbar bin, denn so war alles an einem Vormittag zu bewältigen. Wir fuhren dreimal zwischen den Wohnungen hin und her; wenn ich alles hätte tragen müssen, hätte ich mindestens doppelt so oft gehen müssen, allein dreimal mit den vielen Büchern, die ich inzwischen besaß.
Doch ich kam nie auf die Idee, sie zu besuchen; ja, ich ging nie in die Nähe meines einstigen Heims, ich mied es wie die Pest. Irma besuchte auch mich nicht. Ich wäre auch sehr erstaunt über ihren Besuch gewesen und hätte nichts mit ihr reden können. Aber ich hätte mich gefreut. Mit einem Besuch bei mir hätte sie auch meine Mutter anerkannt, es war ja ihre Wohnung, in der ich nun lebte. Irma hat jedenfalls Waltraud besucht, wie ich viele Jahre später erfuhr. Idas Familie waren ihre Adoptivkinder. Sie akzeptierten und mochten einander. Ida war meine Tante, ich ein Kind aus ihres Bruders zweiter Ehe, da hört Familie auf. Oder?
Ich traf Irma noch einmal zufällig 1962 in der Kaufhalle. Sie war betrunken und wir grüßten uns nur im Vorübergehen. Ein paar Monate später erfuhr ich, dass sie verstorben war und ihrem Sarg nur Gerda und Grete L. gefolgt waren.
Irma war einer der wertvollsten Menschen in meiner Kindheit.
Onkel Alfred
1948 heiratete Gerda einen gewissen Alfred G. Nun hieß sie nicht mehr Gerda S., sondern Gerda G.. Er versprach, Waltraud zu adoptieren, aber das kostete Geld und die Mühe, die Adoption bei den Ämtern zu beantragen und durchzusetzen. Das waren die tatsächlichen Gründe für die Nichteinhaltung des vor der Hochzeit gegebenen Versprechens. Alfred schob die Unstimmigkeiten zwischen ihm und der Stieftochter vor.
Waltraud durchschaute mit dem raschen Verstand des Kindes das Wesen dieses Mannes. Ihr Widerstand gegen ihn resultierte nicht nur daraus, dass sie mit ihm die Mutter teilen musste, die ohnehin kaum Zeit für sie hatte. Sie hat ihn zeitlebens nie als Vater angesehen. Er gab das Bemühen, die Kleine für sich zu gewinnen, bald auf und sie bekam schon nach kurzer Zeit nur böse Worte und harte Strafen.
Sie blieb bei ihrer Oma, obwohl die Familie G. längst eine schöne große Wohnung in Pankow hatte. Erst, als sie schon zwölf Jahre alt war, gestattete Alfred, dass sie zur Mutter zurückkehrte. Weil Waltraud nun nämlich weibliche Rundungen annahm, an denen er sich gern erfreut hätte. Da Waltraud ihm keine Annäherung gestattete, musste sie zwei Jahre später wieder zu Ida zurück.
Ich sah Alfred bei unserer ersten Begegnung ebenfalls sehr skeptisch an. Er erschien mir irgendwie düster, irgendwie schleimig, etwa so wie der negative Held eines Märchenfilms. Er lächelte mich an, d.h., er setzte eine freundlich scheinende Miene auf, kniff mir in die Wange, was ich noch nie leiden konnte; ich halte diese Form des Umgangs mit einem Kind für eine Missachtung der kindlichen Persönlichkeit, und hob mich auf seinen Arm. Dafür verzieh ich ihm das Kneifen; ich liebte es sehr, wenn mich jemand auf seinen Arm hob, ganz gleich, wer es war.
Nachdem der Bräutigam der Familie - einschließlich Grete L. - vorgestellt worden war, fragte anderntags Ida: "Wo haste denn deen kennjelernt?"
Gerda (glücklich lächelnd): "Uff n Danzbohn."
Ida und Grete L. (empört): "Wat, uff n Danzbohn?! Aba sowat heirat man doch nich!"
Gerda (verteidigend): "Der is nich so eena, der schpielt in die Danzkapelle!"
Ida (heftig gestikulierend): "Na, det is ja noch schlimma! Eena von de brotlose Kunst! Von wat soll der dir denn aneean, Mensch? Wißte denn dein Leehm lang drockne Brotrindn futtan?"
Gerda (weinerlich): "Der schpielt doch man bloß aahms un am Wochnende in die Kapelle, der aabeit doch in ne Zijarettnfabrik int Büro!"
Ida: (vollkommen besänftigt) "Ach sooo . . ."
Grete L. (gierig): "Denn kricht a doch beschdimmt ooch ma n paa Zijarettn umsonst, wa?
Gerda (erfreut): "Det is mööchlich. Danach ha ick noch ja nich jefraacht. Na, sowat fraacht man ja ooch nich jleich uff n erstn Tach, wat soll n der Mensch sonst von mir denkn!"
Trotz der Aussicht auf kostenlose Zigaretten redeten alle auf Gerda ein: "Meechen, übaleech dir det, ob de deen heiratst, det scheint jetz allet eitel Sonnnschein, aba in n paa Jahre sieht det allet andas aus, denn wißte det villeicht bereun, det de ausjerechnet deen jeheirat hast!" Gerda verteidigte ihre Eroberung mit der Blindheit der Frischverliebten. Ida sagte letztendlich mit einem tiefen Seufzer: "N Reisndn soll man nich uffhaltn. Jerda, det is dein Leem. Mach, wat de willst, aba komm mir nich nachher an un saare, det wir dir nich jewarnt hättn!" Ich hörte bei alldem zu und war gespannt, was dabei herauskommen würde.
Ich dachte so bei mir: "Wat, der komische kleene dünne Mann soll meine hübsche Tante Jerda heiratn? Der - mit seinn unanjenehm birnförmijen Kopp un die ölijen, dünnn kurzn Haare dadruff? Der - mit seine dünnn schiefn Lippn un den dünnn kurzn Hals mit den schpitzn Kehlkopp? Der - mit die niedrije Schtirn un die Haknneese? Der - mit seine dürren Spinnnfinga? Mensch, der sieht ja eem Tier eehnlicha als eem Menschen! Der is janz beschdimmt nich so lieb wie Onkl Bruno!"
Ich wunderte mich, dass die Eheschließung nicht untersagt wurde, nachdem alle dagegen waren. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach, mir war eingeprägt worden, dass alles seine Richtigkeit hat, was Erwachsene tun, und wenn es noch so sehr der Logik widerspricht.
Kurz nachdem Alfred der Ida vorgestellt worden war, hatte er Gerda noch einmal zu einem Tanzvergnügen mitgenommen. Spät in der Nacht kamen sie mit großem Trara in unsere Wohnung. Gerda war so betrunken, dass sie ihm nicht die Adresse ihrer kleinen Wohnung angeben konnte. Er brachte sie also zu uns nach Hause.
Da Gerda einen Schlüssel hatte, mussten sie nicht klingeln. Aber dann begannen die Schwierigkeiten - Alfed sah, dass alle Betten belegt waren und wusste nicht, wohin mit Gerda. Da er von ihr nur ein trunkenes Kichern zur Antwort bekam, zog er die Papiertute und die Knarre aus der Tasche, die für uns Kinder als Geschenke mitgebracht worden waren und weckte uns alle auf mit den disharmonischen Tönen. Ida schimpfte, ich weinte überlaut, und Waltraud hockte verängstigt auf dem Bett.
Irma, die ebenfalls von dem mitternächtlichen Lärm aufgeweckt worden war, kam aus ihrem Zimmer, nahm Waltraud und mich in ihre Arme, tröstete uns, und Ida ging mit Alfred in die Küche, nachdem er uns die Lärminstrumente zugesteckt hatte, wo sie ihn ob der Ruhestörung harsch zurechtwies und ihm erklärte, dass Gerda eine eigene Wohnung hat und wo sich selbige befindet. Gerda bekam unterdessen den zu einem Besäufnis gehörenden "Moralischen" und Irma bemühte sich nun um sie.
Ich betrachtete das alles mit großem Staunen und hoffte, dass der "böse Onkel" sich nie wieder bei uns blicken lassen würde. Meine diesbezügliche Bemerkung am anderen Tag wurde von Ida empört abgewiesen: "Der Alfred wird die Jerda HEIRATEN, du dummet Jör, der WIRD wieda komm, un du wirst jefällichst janz lieb un nett un freundlich zu ihm sein, merk dir det een for allemal!"
Er kam wieder, und er stellte sich weiterhin freundlich. Da ich freundlich, lieb und nett zu ihm sein sollte, kletterte ich auf seinen Schoß. Er machte mit mir "Hoppe Reiter", was ich sehr genoss. So sehr, dass ich nicht genug bekommen konnte, denn nie zuvor hatte mich jemand so hoch hüpfen lassen und danach so tief hinuntergebeugt.
Er hatte bald genug von diesem Spiel, war aber nicht fähig, mir das klarzumachen. So verfiel er auf ein neues Spiel. Es ging genauso wie "Hoppe Reiter", hatte aber einen anderen Text: "Eine kleine Dickmadam fuhr mit der Eisenbahn, Eisenbahne krachte, Dickmadame lachte, lachte, bis der Schaffner kam und se mit zur Wache nahm. Uff de Wache war se frech, batsch, da hat se eene wech!" Und bei "batsch" verpasste er mir eine derartige Ohrfeige, dass ich von seinen Knien abstürzte. Auf mein empörtes Heulen sagte er kühl: "So is det, wenn man nich jenuch kriejen kann!"
Von nun an war ich nicht mehr freiwillig bereit, lieb und nett und freundlich zu Alfred zu sein. Das kam erst Jahre später wieder in Frage, als es niemanden mehr gab, der zu mir lieb und nett und freundlich war, also in meinem achten Lebensjahr.
Nach einem seiner Besuche bei uns, der so lange dauerte, dass ich schon längst im Bett lag, zog ich ihn beim Abschiedsküsschen fest an mich. Er steckte seine Hand unter meine Zudecke und streichelte mich auf nie gekannte Art. Staunend ließ ich es mir gefallen und das Abschiedsküsschen wurde immer länger. Gerda fragte aus dem Korridor: "Wat machste denn da so lange, Coco?" Alfred antwortete begeistert: "Det Kind hier braucht Vataliebe!"
Ich verachtete ihn dafür, denn ich wusste sehr wohl, dass das, was er mit mir tat, nicht das Geringste mit Vaterliebe zu tun hatte, obwohl ich nie Vaterliebe empfangen hatte. Ich begehrte seine Zärtlichkeit jedoch immer wieder, bis zu jenem Tag, wo er es mit mir wie mit einer richtigen Frau tun wollte. Erst von da an suchte nicht ich seine Nähe, sondern er die meine, und ich wusste nicht, wie ich mich dem entziehen könnte. Ich war in der größten Verlegenheit und wagte nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden, denn den Intimbereich zu berühren oder gar berühren zu lassen, galt als die größte Sauerei auf Erden.
Doch zurück zu 1948. Alfred hatte sich bald in Idas Herz geschmeichelt durch Geschenke und gutes Benehmen. Auch lud er uns mitunter zu einem Ausflug ein. Ich erinnere mich u.a. an eine "Herrentagsfahrt" auf einem mit Birkengrün und Wiesenblumen geschmückten Kremser, der von zwei auf Hochglanz gestriegelten Reitpferden gezogen worden war. Mir fiel sofort auf, dass sie viel ansehnlicher waren als die Brauerei-Pferde. Walter L. sagte missbilligend: "So wat macht nur n Kriech möchlich - der Kremsa wird von zwee Reitpferde jezooren!"
In der Zeit, wo wir auf die Nachzügler warteten, streichelte er die majestätischen Tiere und flüsterte ihnen Koseworte zu. Alfred sagte obenhin: "Na und? Die bring uns ooch hin, wo wir wolln!" Walter L. brummte: "Jaja, Kunst jeht nach Brot!", und vergewisserte sich beim Gespannlenker, ob die Rassepferde noch Rennen liefen. Der Zügelhalter erwiderte: "Wo denn, Männeken?“
Ich zuckte zusammen. Wird der jähzornige Nachbar sich diese Anrede gefallen lassen oder gab es jetzt eine Prügelei? Aber Walter L. nahm die respektlose Bezeichnung gar nicht zur Kenntnis, sondern schmuste hingebungsvoll mit den Pferden. Ihr Besitzer sprach weiter: „Die jroßen Rennplätze sin kaputt, die Mänätscha hat der Kriech jefressn, ick kann jetz mit die Pferde nur noch Kremsa fahn, bin schon froh, det se den Kriech übalebt ham so wie ick. Aba . . ."
Er trat näher zu Walter L. und senkte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. Ich wusste, dass ich mich aus den Geheimnissen der Erwachsenen herauszuhalten hatte, weil ich kleines Kind sie ja nicht verstehen kann. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, um nicht den Anschein des Horchens zu erwecken, vernahm aber doch, dass die Stute ein Fohlen geworfen hatte, das durchaus Chancen auf einen Sieg hätte, wenn nur ein Rennen stattfinden würde.
Ich weiß nicht, wohin die Fahrt ging, aber ich weiß, dass sie sehr lange dauerte, dass außer uns und der Familie L. noch andere Leute auf dem Wagen saßen, dass alle sehr fröhlich waren und das Bier und den Schnaps gleich aus der Flasche tranken. Das einzige für mich Erfreuliche auf diesem total überfüllten Fahrzeug war, dass die Leute, die sich zumeist hier erst kennen lernten, alle die selben Lieder sangen.
Am Zielort angekommen, ein Ausflugslokal am Stadtrand, machten wir es uns an einem der wackeligen Gartentische bequem und aßen unsere Bouletten und Würstchen; das war billiger, als wenn wir dort etwas zu Essen bestellt hätten. Der Kellner monierte unser mitgebrachtes Essen, Alfred verwies auf das Schild am Eingang: "Hier können Familien Kaffee kochen" und gab unsere Getränkebestellung auf. Es dauerte eine Weile, ehe der Kellner wieder an unseren Tisch trat. Das Lokal war sehr gut besucht, die drei Kellner hatten alle Hände voll zu tun.
Nachdem Alfred "Prosit!" gesagt hatte, setzte jeder an unserem Tisch das vor ihm stehende Glas an die Lippen. Ich lernte: In einer Gaststätte wird kein Tischgebet gesprochen, "Prosit" genügt. Irma trank ihr Bierglas in einem Zuge leer. Ida sprach tadelnd: "Ej, ej, vajiß deinn Nahm nich!" Irma wischte den Schaum von den Lippen und fragte heiter (in der Annahme, dass es jetzt einen Witz zu hören gibt): "Wieso? Wie heiß ick denn?"
Ida wiegte bedenklich den Kopf: "Haste also schon vajessn. Haste denn wenichstns dein Außweiß mit?" Irma fragte aufsässig: "Zu wat brauch ick hier n Ausweis?" Ida nun: "Haste nich mit? Na, denn bleib ma jetze schön bei uns, wir bring dir denn zu Hause, da kannste dein Nahm denn an de Wohnungsdüre lesn." Irma begriff endlich, dass der Witz auf ihre Kosten ging. Sie stand auf und sagte obenhin: "Ick jeh jetz in n Wald, Pilze schießn." Man machte sie darauf aufmerksam, dass es so früh im Jahr noch keine Pilze gibt, dass sie auch kein "Gewehr" bei sich hat u.v.a.m. Sie winkte lächelnd ab und entschwand.
Für Waltraud und mich war je ein riesiges Glas "Berliner Weiße mit Schuss" bestellt worden. Ich konnte das schwere Glas kaum zu Munde führen. Waltraud sagte nach dem Kosten: "Ih, is det bitta!" Darauf ließ Alfred den Kellner noch einmal mit dem Himbeersaft kommen. Auch ich meldete lautstark meinen Anspruch an, trank das Glas aber nur zur Hälfte leer, dann wurde mir schwummrig.
Ich ging mir die nähere Umgebung anschauen, während die Erwachsenen heiter plauderten. Ich blieb in Sichtweite, damit ich nicht etwa den Abmarsch verpasse. Gerda hatte vor Fahrtantritt gesagt: "Wenn de nich aatich bist, lassn wa dir im Wald, denn fressn dir die Hexn uff!" Endlich fuhren wir heim. Es war so spät geworden, daß ich auf dem Wagen einschlief. Dafür wurde ich natürlich ausgelacht. Damals war ich vier Jahre alt.
Ein andermal fuhren wir an einen großen See, wahrscheinlich an den Müggelsee, wobei wir auch eine Dampferfahrt unternahmen, die bei einem Gartenlokal endete. Wieder bekam ich ein großes Glas "Weiße mit Schuss". Diesmal trank ich vorsichtiger; ich wusste, dass mein Glas stehen bleiben würde, bis ich es geleert hatte, auch wenn noch so viele Wespen darin ertrunken waren.
Ich erinnerte mich an Irmas Freiheit (sie war diesmal nicht dabei) und sagte, dass ich in dem zum Lokal gehörigen Buddelkasten spielen gehe. Man sagte gönnerhaft zu mir: "Ja, jeh du man buddeln!"
Ich kehrte in regelmäßigen Abständen an den Tisch zurück und beobachtete, dass die Stimmung dort immer höher stieg, dass also noch lange nicht an die Heimfahrt gedacht wurde. Nach Einbruch der Dunkelheit stand nach meiner Rückkehr vom Tisch ein Junge im Buddelkasten, der zu mir sagte: "Den Spielplatz hat mein Vata für die Urlauber uffjebaut, aba ick möchte ooch mal hier spieln. Ihr fahrt sowieso mit dem neechstn Dampfa ab, det is neemlich der Letzte."
Ich war tief beeindruckt von der Tatsache, dass ein Junge, der mich um mehr als Haupteslänge überragte, im Buddelkasten spielen wollte und stellte mir die Wunderwerke vor, die er errichten könnte: Eine Burg von Meterhöhe oder eine Stadt mit vielen Brücken und Tunneln, den ganzen Buddelkasten ausfüllend. Ich beneidete ihn und bot meine Dienste an. Aber er sagte, dass seine Freunde jeden Moment kommen und sich sehr wundern würden, ein kleines Mädchen vorzufinden.
So entschloss ich mich, ans Ufer zu gehen, wo vorher die Kinder von den anderen Tischen standen. Ich sah den Wellen zu, wie sie an den Strand leckten, wie sie die Schwebstoffe im Wasser bewegten sowie Blätter und andere Pflanzenteile. Ich fand diese Bewegungen faszinierend. Ich hätte stundenlang auf die Wellen schauen können. Sie regten meine Phantasie an und ich erdachte mir flugs mehrere herrliche Seeabenteuer, vertiefte mich in meine Phantasiewelt und vergaß die Realität. Der Einbruch der Dunkelheit verschärfte meine Phantasie noch. Ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, spielten die großen Jungs im Buddelkasten auch eine Rolle in meinen Seeabenteuern. Sie errichteten keine phantastischen Bauwerke, sondern bewarfen sich mit Sand. Ihre Schreie waren die meiner tapferen Matrosen.
Unter dem Dampferanlegesteg war ein langes Stück fester Boden, hier konnte man praktisch in den See hineinlaufen. Schritt für Schritt ging ich langsam diese Landzunge entlang, und versank immer mehr ins Träumen. Plötzlich fühlte ich mich heftig an den Haaren gepackt. Es war Alfred, der mich anbrüllte: "Du blödet Kamel, wat fällt dir ein, so weit weg zu loofn, det wir dir nich mehr sehn? Wir dachtn schon, du bist asoffn!"
Ich war zu erschrocken, um zu weinen, und ich fühlte mich unendlich schuldig. An den Tisch zurückgekehrt, wurde er als der strahlende Held gefeiert, der das "verlorene Kalb" zurückbrachte und ich wurde von allen Seiten beschimpft. Es wurde eine neue Runde bestellt. Wir verpassten den letzten Dampfer. Da noch einige Wanderer unser Schicksal teilten, telefonierte der Gastwirt nach einer Fähre.
Auf dem Heimweg machte ich mich so klein und unauffällig wie irgend möglich. Ich sagte erst wieder am Anlegesteg etwas, und das kam so: Unter den Fahrgästen war ein Buckliger, der eine "Teufelsgeige", ein Krückstock war mit einer Saite bespannt und mit vielen Klingeln und Hupen bestückt, mit sich führte und zu unser aller Unterhaltung darauf spielte. Herzhaft wurde über seine Grimassen und über die schrillen Töne gelacht, und immer wieder verlangte man neue Melodien zu hören und steckte ihm Geldscheine zu. Beim Absteigen vom Dampfer ließ er das sonderbare Instrument in den See fallen. Erschrocken rief ich aus: "Nu is et wech!" Es tat mir sehr leid, dass der Mann das Gerät seines Broterwerbs verloren hatte. Alfred tröstete mich: "Det macht der jedet Jaah. Neechstet Jaah bastelt a sich n neuet." Nun sah auch ich die Sache heiter. Am nächsten Tag noch tobte Ida: "Dir nehm wa det neechstema nich mit uff de Dampfafaat!" Aber diese war die letzte.
In der nächsten Zeit erwies sich Alfred als sehr tüchtig. Er bot an, unsere Wohnung zu renovieren, wir könnten solange bei Gerda schlafen, so hätte er freie Hand und wäre schneller fertig. Die Küche bekam ein flaschengrünes Paneel, darüber strahlendes Weiß, auch die Decke erhielt dieses Weiß, es war nun viel heller in der Küche. Der Flur bekam den billigsten Anstrich, der möglich war in der damals modernen Wickeltechnik. Hierzu wurde ein Lappen in Farbe getaucht und zusammengeknüllt. Rollte man den Lappen über die Wand, entstand ein skurriles Muster, das auf mich sehr Phantasie anregend wirkte. Wenn ich mich einsam fühlte, brauchte mich jetzt nur in den Flur zu stellen und auf die Flecken zu starren, bis ich Gesichter und Gestalten erblickte, mit denen ich mich unterhalten konnte.
Die Stube war mit einer grässlichen Tapete beklebt worden - große, bunte Blumensträuße, von einem goldenen Rautenmuster eingefasst. Einen dieser Sträuße hätte ich schön gefunden, aber vier Wände voll? Das war mir zuviel. Ich schüttelte den Kopf. Niemand bemerkte es, also wurde ich nicht befragt und musste nicht sagen, wie überladen die Stube mir erschien.
Alfred sagte nach Idas Befallensbekundung, dass es gar nicht so leicht war, die Tapete "auf Muster" zu kleben, und dass er sehr viel wegwerfen musste. Er musste sogar noch zwei Rollen Tapete nachkaufen und war froh, gleich im ersten Geschäft das gesuchte Muster zu bekommen, sonst hätten wir noch einen Tag länger bei Gerda schlafen müssen. Die kupfernen Gardinenstangen hatte er durch moderne Holzleisten ersetzt, die Übergardine aus schwerem Samt durch einen Deko-Stoff, so wirkte auch die Stube heller als zuvor. Aber ich trauerte um den romantischen Samt mit seiner Jugendstil-Verzierung, wenn er auch an einigen Stellen abgeschabt war. Die Kupferstangen brachten beim Altstoffhandel noch ein paar Markstücke ein, so war Ida überaus zufrieden mit der Renovierung.
Zur Verschönerung des Schlafzimmers kaufte Alfred 1950 ein Gemälde, das Gerdas "Engelsreigen" ersetzte. Auf dem "Engelsreigen" waren acht blumenbekränzte Mädchen in losen, luftigen, pastellfarbenen Gewändern zu sehen, die auf einer blühenden Wiese im Sonnenlicht tanzten. Er wurde verheizt. Das neue Gemälde zeigte eine Waldlichtung, auf der Räuber beim Schmaus saßen. Am rechten Bildrand waren die ausgeraubten Leute abgebildet: Zwei ermordete Edelmänner unterschiedlichen Alters und zwei geschändete Frauen mit entblößten Unterleibern. Eine wandte ihren Blick klagend gen Himmel, die andere hatte den Kopf tief gesenkt. Dieses Bild gefiel allen, nur Waltraud und mir nicht. Wir waren ja auch nur "dumme Jörn".
Alfred besaß ein altes Grammophon mit Trichter und Kurbel. Wenn man eine Platte aufgelegt hatte, musste man tüchtig die Kurbel drehen, damit sich der Teller in Bewegung setzt. Dieses fabelhafte Gerät zog mich magisch an. Doch kaum war ich in seiner Nähe, wurde ich auch schon angeherrscht, dass meine Pfoten an dem Apparat nichts zu suchen haben. Oft wurde das Grammophon bei Familienfeiern in Gang gesetzt. Da konnte ich, wenn der Alkoholspiegel eine gewisse Höhe erreichte, ganz aus der Nähe zusehen, wie die Scheibe sich drehte, wie die Platten gewechselt wurden und wie die Nadel in der Rille sprang. Ich fand es aufregend, dass die Töne in der Rille saßen. Die Melodien rauschten an mir vorüber, ich habe mir nur wenige gemerkt, "Caprifischer" z.B., ich weiß nur noch, dass die Texte durch das Laufgeräusch der Platten kaum zu verstehen waren.
Als ich lesen konnte, habe ich mir heimlich alle Platten angesehen und bemerkt, dass auf vielen ein heulender Hund abgebildet war. Das war mir völlig unverständlich, aber ich fand es lustig. Ich fragte nicht mehr: "Warum?", ich war zu oft abgewiesen worden. Ich las die Aufschriften auf den Platten. Ein Titel erschien mir äußerst sonderbar: "Chattanooga Choo Choo". Es war gerade zu der Zeit, als wir in der Schule über die Worte mit den doppelten Vokalen sprachen, daher blieb dieses fremdartige Wortgebilde bei mir haften. Ich bat Alfred, mir die Platte vorzuspielen, aber er sagte: "Der Apparat is schon zu alt." Da bat ich ein paar Tage später Gerda, und sie antwortete: "Wozu willst de denn die olle Neejamusik hörn?"
Kurz darauf kauften sie sich einen modernen Plattenspieler, wo nicht mehr eine ca. 2cm lange Nadel durch die Rille sprang, sondern auf einer sehr dünnen und flachen Rille ein Saphir dahin glitt. Es mussten neue Platten angeschafft werden, die alten waren unbrauchbar. Auf den neuen Platten war auch einer der ältesten Titel von Peter Kraus zu hören: "Auf der Insel Phillallilla, dort im Märchenland, am weißen Palmenstrand, ein junges Mädchen stand, sie wollte den einen, aber sonst keinen, in der blauen Mondnacht wiedersehn, und nicht mehr von ihm gehn, er sang so schöhön. Er sang sein akhula, khula, khula Liebe, die schenk ich dir, mai Daahling heut Nacht, wenn der Mond uns bewahacht! Akhula, khula, khula Beeebi, du weißt ja ga nich wie klücklich khula Liebe macht, kja, kja, kja!"
Was habe ich mich über dieses Lied geärgert! Es klang, als würde der Sänger jeden Moment kotzen. Und das sollte ein Liebeslied sein? Alfred konnte kaum genug bekommen von diesem "kja, kja, kja". Ich war enttäuscht. Grenzenlos enttäuscht.
Den "Chattanooga Choo Choo" hörte ich fünfundzwanzig Jahre später im Radio. Ich erkannte ihn an der Übersetzung ins Deutsche: "Verzeihen Sie, mein Freund, ist das der Chattanuga Chu Chu . . ." (von der Freundin meiner Mutter hatte ich gelernt, dass im englischen das doppel "o" wie "u" gesprochen wird) und ich erinnerte mich, dass zu diesem Lied bei unseren Familienfeiern die unglaublichsten Verrenkungen gemacht wurden.
1953 hatte Alfred endlich das Geld für ein Auto zusammen. Die Familie hatte es sich buchstäblich vom Munde abgespart. Ich weiß nicht, um welchen Typ es sich handelte, ob es ein "Trabant" oder gar ein "Wartburg" war. Autos sind für mich Luxusgegenstände. Alfred und Gerda besuchten uns eines Tages, und aus ihren strahlenden Gesichtern war zu ersehen, dass sie eine freudige Mitteilung zu machen hatten. Ida sollte raten, worum es sich handelte. Sie tippte entzückt zuerst auf eine Schwangerschaft, denn sie hätte sehr gern ein weiteres Enkelkind - diesmal sogar aus einer rechtskräftigen Ehe! gehabt, dann wich das Entzücken und sie vermutete eine besser bezahlte Arbeitsstelle und zuletzt einen Lottogewinn, denn Alfred spielte jede Woche Fußballtoto.
Es war alles falsch geraten. Alfred führte uns auf den Balkon, wo er uns mit großem Stolz sein funkelnagelneues Auto zeigte. Nun lud er uns ein, mit hinunter zu kommen und das Prachtstück aus der Nähe zu sehen.
Ich lief allen voraus, ich wollte die erste sein, die das Glück mit Alfred teilte. Ich stürzte auf das Auto zu, streichelte es und jubelte: "Du schönet neuet Auto, du!" Im Nu war Alfred mit langen Sätzen auf mich zugesprungen, riss mich am Oberarm zur Seite und brüllte: "Wirßte woll deine Mistpfoten von det Auto nehm, du Trampel!"
Es nützte mir nichts, zu sagen, dass ich die Hände vorhin erst gewaschen hatte. In den folgenden Tagen verhöhnten mich meine Schulkameraden ob der blauen Flecke, die ich durch Alfreds hartem Griff davongetragen hatte.
Ich erinnere mich nicht daran, jemals in dem Auto gesessen zu haben. Die "Testfahrt" fand mit Ida, Gerda und Waltraud statt. Wenn ich etwa doch dabei gewesen war, so ist mir jegliche Erinnerung daran entschwunden. Ich weiß nur noch, dass ich das Auto nicht hätte anfassen dürfen. Autos sind nicht für Kinder. Und schon lange nicht für Mädchen. Autos waren in Zukunft für mich "Tabu". Ich kann mir bis zum heutigen Tag bestenfalls die Farbe, sehr selten aber die Marke eines Autos merken.
Im Sommer 1952 durfte ich mit Alfred und Gerda eine Urlaubsreise nach Buckow, Märkische Schweiz, unternehmen. Die Reise war schon im Vorjahr von Alfred geplant und bezahlt worden. Er hatte Gerdas Einverständnis vorausgesetzt und das Ganze für eine nette Überraschung gehalten. Aber Gerda hatte für ihn auch eine nette Überraschung, nämlich eine Erholungskur für Waltraud, ebenfalls gleich bezahlt. Dass sie ausgerechnet zur selben Zeit stattfand, konnte Gerda nicht ahnen, so kam ich in den Genuss.
Wochen vor Fahrtantritt wurde ich dazu angehalten, ganz besonders artig zu sein, weil sie mich sonst nicht mitnehmen würden. Ich durfte mir auch nicht das allergeringste zuschulden kommen lassen; das war der reine Stress und kostete mich große Selbstbeherrschung. Ich unterdrückte meinen Spieltrieb, folgte jeder Anweisung und bemühte mich, niemals ungefragt den Mund aufzumachen.
Einmal war ich aber doch auf die Straße gegangen, um zu sehen, ob die "Knallerbsen" schon reif waren. Beim Griff in die Sträucher stach mich eine Wespe in die Hand. Natürlich wuchs mir eine dicke Beule. Gerda sagte: "Na, wenn det nich heile is, bevor wir faan, denn kannste nich mitkomm!"
Ich freute mich riesig auf die Fahrt, sie war eine herrliche Abwechslung. Ich tat alles, um die Schwellung abklingen zu lassen. Ich wusste, dass dies meine letzte Ferienreise sein wird. Waltraud hatte kürzlich zu ihrer Mutter gesagt, dass sie nicht mehr mit mir zusammen ins Kinderferienlager geschickt werden möchte, und Gerda hatte ihr geantwortet meiner Gegenwart nicht achtend, denn kleine Kinder verstehen ja nichts, dass sie derartiges nicht mehr zu befürchten habe, sie wird ja nun vierzehn, da ist sie für ein Kinderferienlager zu alt. Ohne Waltraud hätte Ida mich nie auf Reisen gehen lassen.
Das Schönste in Buckow waren die Spaziergänge. Ich genoss die Natur und die reine Luft. Ich hielt mich fern von Alfred, weil er fast immer rauchte beim Spazierengehen. Nach meinem Empfinden verbreitete er Gestank. Gewöhnlich führten die Spaziergänge zu einem Lokal, wo wir zu Mittag aßen. Zu Hause hatte Gerda sich vergewissert, dass ich mit Messer und Gabel essen konnte. Hier achtete sie nun streng darauf, dass ich diese Werkzeuge wirklich ordnungsgemäß benutzte, wodurch die Mahlzeit länger ausfiel als nötig.
Ich aß, weil ich sollte, und nichts schmeckte mir; erst recht nicht das Sonntagsessen: Es gab Aal grün, das Teuerste, was das Lokal zu bieten hatte. Mir war der Fisch zu schlangenähnlich, zu tranig und zu fett, die Haut zu hart, die Soße zu scharf, und ich konnte nicht verstehen, dass das etwas "Gutes zu Essen" sein sollte. Auch ekelte ich mich heftig vor seiner grünen Gräte. Schimpfend aß Alfred meinen Aal auf. Wieder einmal war ich "das blöde Gör".
Auf einem der schönen Spaziergänge bemerkten wir etliche Waldvögel. Ich lauschte verzückt ihrem Zwitschern und bewunderte ihre Flugkünste. Versonnen sagte ich letztendlich: "Ach ja, Vooorel müsste man sein!" Gerda prustete: "Reicht det nich, det du een HAST?"
Alfred hatte einen Fotoapparat mit auf die Reise genommen. Eines der auf den Spaziergängen geschossenen Fotos besitze ich noch. Ich freute mich damals darüber, dass wir uns auf einer Treppe befanden, da konnte ich mich ein paar Stufen höher stellen als Alfred. Nach seinen intimen Zärtlichkeiten betrachtete ich mich als seine Nebenfrau und wollte ebenso groß scheinen wie er . . .
Wir wohnten in einer Privatpension bei einer Familie mit zwei Kindern, Tochter und Sohn, sie waren zwei bzw. vier Jahre älter als ich. Als wir dort ankamen, wurden die Kinder von ihrer Mutter beauftragt, mit mir zu spielen und mir die Umgebung zu zeigen. Ich war nur zwei mal mit ihnen zusammen, am ersten Tag, wo sie mich tatsächlich durch den Ort führten, und an einem Regentag, wo sie keine Lust zum Stromern hatten.
Sie fragten mich über Berlin aus, und es stellte sich heraus, dass sie aus Erzählungen anderer Urlauber mehr über meine Heimatstadt wussten als ich. Aber ich war ja erst sechs Jahre alt, da verziehen sie mir gnädig die Unkenntnis.
Wir verbrachten fast den ganzen Tag miteinander, Gerda und Alfred waren nämlich zu einem "Erwachsenenvergnügen" in einen Nachbarort gefahren. Irgendwann musste ich meine Blase entleeren. Ich wusste nicht, wie man aus diesem Teil des Hauses zum WC kommt. Die Kinder antworteten: "Det is n janz schön langer Weech bis zum Klo. Wenn wir mal müssen, jehn wa uff de Wassaleitung."
Das kannte ich auch von den Kindern der Familie L.. Damit meine Hose trocken blieb, ließ ich mir von ihnen auf den Ausguss helfen. Am Abend stellte Gerda fest: "Mensch, du hast ja n janz schwarzn Aasch!" Ich dachte, dass sie mich wieder einmal veräppeln wollte und lachte sie aus. Sie wurde zornig: "Hör uff zu kichan, azeehl ma lieba, wo de dir so mißtich jemacht hast, du altet Ferkel!"
Nun besah ich mein Hinterteil und stellte fest, dass sich tatsächlich ein breiter schwarzer Streifen darauf befand. Er konnte nur vom Ausguss stammen. Ich berichtete wahrheitsgemäß über den Vorfall. Gerda wusch mich und Alfred warf am anderen Tag der Wirtin vor, einen furchtbar dreckigen Haushalt zu haben und auch sehr schlecht erzogene Kinder. Die Kinder bekamen Hiebe dafür, dass sie mir nicht den Weg zur Toilette gezeigt hatten und ich begegnete ihnen nie wieder.
Ein paar Tage später fuhren Gerda und Alfred wieder zu einem "Erwachsenenvergnügen". Sie setzten voraus, dass ich meinen Tag auch alleine gestalten könnte. Ich nickte heftig: "Ja, ick weeß, wat ick dürf, ick paß uff mir uff, ick mach keene Deemlichkeitn!"
Aber ich fühlte mich dann doch sehr allein und wusste nicht, was ich tun sollte. Ins Zimmer konnte ich nicht, Alfred hatte den Schlüssel bei der Wirtin abgegeben, damit sie das Zimmer nach unserem Fortgehen reinigen konnte. Ich kannte den Weg zum Spielplatz doch nicht so ganz genau und fürchtete auch, dort Kindern zu begegnen, die "angestammtes Recht" auf den Spielplatz hatten und schloss mich letztendlich - nachdem ich eine Weile verloren auf der Treppe saß - dem Opa der Wirtsfamilie an, der zum Heuen ging.
Er war etwas jünger als Ida, ich hoffte, viel von ihm lernen zu können. Ich lief munter neben ihm her und fragte ihn über alles aus, was es zu sehen gab. Er konnte sehr gut erzählen von der Geschichte des Ortes und von seinen Einwohnern. Ich lernte an jenem Tag sehr vieles. Meine Fragen wurden ihm nicht über, oder er beherrschte sich, mir das zu sagen.
Wir lachten viel miteinander über Wortspiele und erzählten uns Witze. Es machte mich glücklich, ihn zum Lachen zu bringen, noch glücklicher aber war ich darüber, dass er sich Mühe gab, mich zum Lachen zu bringen.
Auf der Wiese angekommen, sagte er mir, wieweit ich mich dort bewegen darf und ich hielt mich an diese Grenzen. Ich setzte mich ins Gras, spielte mit den Halmen und mit den kleinen blasslila Blümchen, die dort blühten. Ich beobachtete auch hier die kleinen Tierchen, die auf jeder beliebigen Wiese leben und freute mich des Sonnenscheins.
Die Wiese war von einer Seite von Häusern begrenzt, links und rechts von Wald, und an der den Häusern gegenüberliegenden Seite von einem kleinen See. Ich fragte den Opa, ob ich mir den See ansehen darf. Er vergewisserte sich, dass ich ganz bestimmt nicht in das Wasser hineingehen wollte und gestattete mir dann, an den See zu gehen. Er war von dunkler Färbung und lag ganz ruhig. Nur in der Mitte kräuselte der Wind das Wasser ein wenig.
Der See erschien mir wie ein düsterer Schlund. Einen Meter vom Ufer entfernt schaukelte ein rostiger Nachen. Ich wollte wissen, wem er gehört und warum er nicht instand gesetzt wird. Der Opa beantwortete abermals alle meine Fragen geduldig und ausführlich. Ich war sehr begeistert von ihm und sagte ihm, dass ich ihn sehr, sehr lieb hätte. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er sich mir nun sexuell genähert hätte; ich hätte ihn gewähren lassen, das ist der Gang der Welt: "Die Mädchen sind zum Lieben da". Ich war ein Mädchen und wollte geliebt werden. Aber er lächelte: "Ick habe eine umfangreiche Familie. Meine Töchter und meine Söhne haben mir so viele Enkel bescheert, dass ick damit alle Hände voll zu tun habe. Ick kann dich nich in mein Herz uffnehm, du bleibst für mich ein Urlauberkind, ein liebet, nettet Urlauberkind."
Abends berichtete ich begeistert von dem "lieben Opa". Gerda und Alfred sagten entsetzt: "Mensch, du kannst doch n fremdn Mann nich bis ufft Hemde ausfraren! Wat denkst du dir bloß in dein blödn Jeist! Un denn ooch noch "Opa" saaren! Det is doch nich DEIN Opa!"
Ich suchte mich wenigstens in dem letzten Punkt zu verteidigen: "Aba zu Oma saaren doch ooch alle Oma!" - "Det is wat janz wat andret!", hieß es nun, und: "Jenade dir Jott, wenn de noch mal zu den Altn jehst!"
Ich begegnete ihm nur einmal noch im Hausflur, wo er mir einen Gruß zuwinkte, und ich war froh, als der Tag der Abreise da war. Auch Gerda und Alfred sagten: "Na, Jottseidank jeht et nu wieda nach Hause! Zu Hause is et doch am schönstn!" Ich fragte mich, wozu wir verreist waren.
Ich war sieben Jahre alt, als Alfred mich zu einem Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft "Herta BFC" mitnahm. Ich freute mich riesig, denn wir fuhren quer durch die Stadt zu einem Ort, den ich sonst nie kennen gelernt hätte. Da gab es mit Sicherheit viel Neues zu sehen!
Wir mussten mehrmals umsteigen. Während der Fahrt machte ich ihn auf jedes auffällige Bauwerk aufmerksam und fragte: "Wat is n det for n Haus?" Anfangs versuchte er noch, logische Antworten zu finden, dann aber sagte er unwirsch: "Jeh mir doch nich so schrecklich uff de Nerven, Mensch!" Übrigens erhielt ich von ihm generell die abweisendsten Antworten in meinem Leben. Von diesem Erwachsenen lernte ich entschieden weniger als von der von ihm verachteten Waltraud.
Beim Umsteigen hüpfte ich ausgelassen neben ihm her, bis er mich anherrschte: "Mein Jott, kannst de dir denn übahaupt nich benehm?" Ich wusste nicht, inwiefern ich mich danebenbenahm. Aber vielleicht hüpfte man nicht auf der Straße, wenn man an der Hand eines Mannes ging, der einen begehrte? Ich nahm die Lehre an und hüpfte nie wieder in seiner Gegenwart.
Das Fußballspiel interessierte mich schon nach wenigen Minuten nicht mehr. Es war Alfred nicht gelungen, mir die Spielregeln zu erklären. Fußball stellte sich mir so als eine Männerdomäne dar, wo Frauen nichts zu suchen haben, bestenfalls als schmückendes Beiwerk, und auch das nur unter Vorbehalt.
Ich begriff nur, dass es ein sehr wichtiges Spiel war, so nahm ich mich zusammen und versuchte, dem Geschehen zu folgen. Das war nicht leicht, denn die Spieler trugen alle weiße Trikots. Sie waren nur an den Hosen zu unterscheiden; die eine Mannschaft trug schwarze und die andere blaue. Da es ein sehr dunkles Blau war, musste man schon sehr genau hinsehen. Es war für mich unfassbar, dass sich dort auf dem gepflegten Rasen so viele erwachsene Männer um einen Ball rauften!
Alfred und alle anderen Besucher verfolgten das Spiel sehr aufmerksam und spendeten Beifall, wenn ein Schuss besonders gut gelungen war. Was ein guter Schuss ist, wusste ich somit, und klatschte dann auch, als ein Spieler den Ball über den ganzen Platz schoss. Aber es war ein Spieler der gegnerischen Mannschaft, und ich wurde nun von dem Fanclub der "Blau-weißen Herta" angefeindet. Einer der Fans sagte tadelnd zu Alfred: "Is ja janz niedlich, die Kleene, aba ob se wirklich hier herjehört?"
Nun verbot Onkel Alfred mir jegliche Reaktion: "Wenn de nischt von det Schpiel vaschtehst, denn kannst de ooch nich klatschen, klar?!"
Ich blickte nun nicht mehr auf den Rasen, sondern sah mir die Zuschauer an. Es waren fast ausschließlich Männer, zumeist unangenehme Typen mit rohen Gesichtszügen. Ich hatte das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein. Ich sehnte das Ende des Spieles herbei. Aber nach einer mir endlos scheinenden Zeit war erstmal nur Pause.
Da ich großen Durst hatte, bat ich Onkel Alfred, mir eine Brause zu kaufen. Ich sah ein leichtgeschürztes Mädchen mit einem Bauchladen herumlaufen und Getränke feilbieten. Er antwortete mir in einem Tonfall, als wäre ich völlig blöd: "Wat denkst du denn, wo wir hier sind?! Ick hab doch keen Westjeld!"
Ich hatte nicht vergessen, dass wir uns im Westteil der Stadt befanden. Am Eingang des Fußballstadions hatte er mir einen Lutscher mit Lakritzgeschmack gekauft, den ich gar nicht haben wollte; ich mag keine Lakritze, ich finde ihren Geschmack ekelerregend, und ich ließ den Lutscher nach wenigen Metern fallen. Da er mir den Lutscher aufgedrängt hatte, obwohl ich deutlich zu verstehen gab, dass ich so etwas nicht esse, dachte ich, dass er viel Geld mitgenommen habe.
Nun winkte er aber doch die Verkäuferin herbei, kaufte sich eine Coca Cola und gab mir einen Schluck ab. Das warme, süße Zeug verursachte mir noch größeren Durst. So ergab ich mich in mein Schicksal. Ich verdrängte den Durst und setzte mich für die zweite Halbzeit auf die Erde, wo ich mit Sand und Steinchen spielte, die Zigarettenkippen warf ich eine Stufe tiefer.
Ich blickte nur dann kurz auf das Spielfeld, wenn die Fans enthusiastisch sangen: "Blau-weiße Herta . . ." und andere Fußballslogans, bis Alfred sagte: "Komm, wir jehn jetz, det Schpiel is jleich zu Ende, un wenn jetz noch n Wunda jeschieht, denn schteht det morjen in ne Zeitung, los, wir beeiln uns, det wa zum Ausjang komm, wenn se alle jehn, denn wern wa dotjetrampelt!"
Die Idee, früher zu gehen, hatten noch einige andere; es herrschte ein heilloses Gedränge am Ausgang, wir kamen mit Mühe und Not hinaus. Auf der Heimfahrt stauchte Alfred mich noch einmal dafür zusammen, dass ich für die falsche Mannschaft geklatscht hatte; nun sagte ich ihm meine Meinung, dass Leistung Leistung ist und also honoriert werden sollte. Er nannte mich dafür einen unverbesserlichen Phantasten, einen von jener Sorte, die der Welt mehr schaden als nützen.
Seine Unfreundlichkeit kränkte mich zutiefst. Und mir wurde erst sehr spät klar, dass er mich nicht auf den Fußballplatz mitgenommen hatte, um mir eine Freude zu machen oder um mich etwas zu lehren, sondern nur, um sein ungehöriges Interesse an mir zu vertuschen. Ida und Gerda glaubten nun nämlich, dass er mich wirklich gern hat und mir die Welt zeigt. Sie hatten nichts dagegen, dass er mit mir allein war. Sie kamen nicht auf die Idee, dass er mir an die Wäsche gehen könnte.
Jedenfalls war Alfred der Meinung, dass jeder, der Kinder in die Welt setzt, verantwortungslos handelt. Weil diese Kinder nur leiden würden. Sie würden leiden an der Gesellschaft, an diversen Krankheiten, an ihren eigenen Vorstellungen.
Deshalb hätte er jedem Manne gern befohlen: "Zeuge nicht!" Und jeder Frau: "Gebäre nicht!" Mit dieser Einstellung blieb ihm nur Sex mit Minderjährigen. Hätte er sich fortgepflanzt, was wäre seinen Nachkommen geblieben?
Alfred war kein Vatertyp, Gerda nicht die geborene Mutter. Wenn sie von Alfred schwanger wurde, hat sie von Grete L. abtreiben lassen. Ich weiß nicht, wie oft und will es auch nicht wissen. Der Sexualtrieb ist natürlich, wenn er auch noch so sehr von der Religion verdammt wird. Alfred wollte den Niedergang der Menschheit, aber nicht auf seinen Trieb verzichten. Er war der dritte Mann, den ich Nachkriegskind in voller Lebensgröße kennen lernte. Ich belächelte seine Ideologie, aber er streichelte mich. Und ich genoss es. Und ich wusste, dass es ungehörig war. Aber es streichelte mich doch sonst niemand, nicht einmal mit Worten.
Nach Onkel Brunos Tod waren Männer für mich ein Wunderwerk der Natur. Ich wusste, dass sie für die Fortpflanzung unbedingt notwendig sind, damit Frauen Kinder zur Welt bringen. Die Männer verfügen dann darüber. Mich schreckte der Gedanke, dass es vielleicht nicht mehr lange dauert, bis Kinderpornos salonreif werden. Es verlangt den Männern danach, also werden sie es erreichen. Damals war ich acht Jahre alt.
Die Moabiter
Idas Ziehsohn und Neffe, Bruno S., war im Krieg ausgebombt worden. Die Familie fand Unterkunft in so genannten Nissenhütten in Berlin-Moabit, daher wurden sie von da an "die Moabiter" genannt. Regelmäßig besuchte Ida sie. Diese Besuche waren für mich eine gesuchte Abwechslung, aber nicht gerade die reinste Freude.
Wir fuhren mit der Straßenbahnlinie 3 bis zur Endstation "Bornholmer Straße", wo wir eilends über die "Millionenbrücke" liefen, um die Anschlussbahn im Westen zu erreichen. Das war für mich eine ziemliche Strapaze. Auf der Brücke war es so eng, dass kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten. Ida kam mit mir an der Hand nicht so schnell vorwärts, wie manch ein rücksichtsloser Jüngerer es gerne gehabt hätte, so wurden wir oft unsanft angestoßen, zumal wir auch stets umfangreiches Gepäck mit uns führten (Geschenke für "die Moabiter" sowie Kochtöpfe und andere Dinge, die Bruno reparieren sollte).
Dann fuhren wir noch eine ganze Weile mit der Straßenbahn, bis wir am Ziel waren. Die Straßenbahnfahrt wurde für mich bald langweilig; immer nur auf Ruinen zu gucken ist nicht gerade erbaulich für ein kleines Kind. Ich fragte mehrmals ungeduldig: "Wenn sinn wa denn nu endlich da?" Ida antwortete: "Bald." Ich wurde richtiggehend wütend, wenn sich herausstellte, dass "bald" erst nach zehn Stationen war! Konnte sie denn nicht die Wahrheit sagen? Für mich war "bald" schlimmstenfalls die dritte Station, eine Fahrt über zehn Stationen, auf ihrem Schoß sitzend, ohne von ihr unterhalten zu werden, war eine Zumutung für mich. Ich sollte stillsitzen und abwarten, während draußen die Stadt an mir vorbeizog, ohne dass ich jemals erfragen durfte: "Warum ist dieses Haus höher? Warum hat jenes Haus breitere Fenster? Warum sind in dieser Straße alle Häuser ganz geblieben? Wohnen hier andere Menschen, als wir es sind?"
Ich war drei Jahre alt, als wir einmal einen schweren Sturm in Moabit erlebten. Er kündigte sich mit Blitz und Donner an, der Himmel verdüsterte sich, und Tante Lotte sagte: "Schnell, helft ma alle mit, die Wäsche und die Jartenmöbel rinzuholn!" Ich brauchte dabei natürlich nicht mitzutun, ich war ja noch viel zu klein und allen nur im Wege. Als alles Brauchbare im Haus war, blieb die Tür noch einen Moment offen, denn der Letzte, der hereinkam, hatte keine Hand frei, um sie zu schließen. Ich stand auf der Schwelle, hielt mich am Türrahmen fest und beobachtete das nie gesehene Unwetter. Plötzlich warf der Wind die Tür zu und klemmte meine Finger ein. Ich war so erschrocken, dass ich nicht einmal schreien konnte. Ich trug die schmerzende Hand zu Onkel Bruno, der sofort sah, was geschehen war. Er pustete auf meine geschwollenen Finger und verband sie mit weichem Mull. Seine Fürsorge war unerhört wohltuend für mich. Die Hand blieb tagelang im Verband. Danach konnte ich beobachten, wie sich von drei Fingern die Nägel lösten. Der Nagel des Ringfingers wuchs in zwei Hälften nach, aber auch dagegen hatte unser Hausarzt ein Mittel parat. Erst seit 1991, wo wir das "minderwertige" DDR-Essen nicht mehr bekommen und dafür das "gute" Westessen haben, spaltet sich der Nagel wieder . . .
Das einzig Wichtige in Moabit war für mich Onkel Bruno. Er war lange Zeit der einzige Mann, den ich kannte, und entsprechend liebte ich ihn. Sobald ich seiner ansichtig wurde, flog ich ihm an den Hals und konnte nicht genug davon bekommen, von seinen kräftigen Armen hochgeworfen und wieder aufgefangen zu werden. Ich jauchzte dabei und küsste und herzte ihn, wie ich nur irgend konnte und kümmerte mich nicht im Geringsten darum, dass seine Kinder mit langen Gesichtern zusahen. Er war MEIN ONKEL. Er war nach meiner Meinung dazu verpflichtet, mich lieb zu haben. Und seine Kinder hatten ihn ja täglich, aber ich hatte ihn nur ein paar Minuten. Dennoch waren sie arg böse mit mir, dass ich mir erlaubte, ihren Vater so zu überfallen. Versteht sich, dass sie mir alles zufleiß taten, was sich unauffällig tun ließ. Auch seine Frau rügte mein Benehmen. Sie war eine ernste, resolute Person, häufig sehr streng mit ihren Kindern. So streng, dass ich zu der Überzeugung kam, dass es ganz bestimmt besser ist, von einer OMA erzogen zu werden, als von einer Mutter.
An einem warmen Frühlingstag im Jahre 1948 - ich war also gerade vier Jahre alt - ging Ida mit mir und Grete L. zum Friedhof, das Grab ihres Mannes zu gießen. Grete L. hatte sich erboten, gegen ein geringes Entgelt diese Pflicht für den Sommer zu übernehmen und sollte nun erfahren, wo es sich befindet. Zwischen den alten verwilderten Gräbern hatten Singvögel ihre kleinen Nester gebaut, und immer wieder hüpfte solch ein Vöglein vor uns her, um uns von seinem Nest abzulenken.
Ich lief den Vögeln nach, um sie zu betrachten. Ida sagte: "Die Vöjel sin ville zu schnelle, die krichste nich!" und ehe ich noch sagen konnte, dass ich sie gar nicht fangen will, erklärte Grete L.: "Du musst wartn, bis eena janz schdille sitzt, denn kannste ihm Salz uff n Schwanz schtreun, un denn kannstn fang!" Ich blickte fragend zu Ida. Sie verkniff sich das Lachen und nickte. Die Vorstellung, einen Vogel auf der Hand sitzen zu haben und ihn ganz in Ruhe betrachten zu können, reizte mich sehr. Doch ich gab zu bedenken: "So n Vorel sitzt janz beschdimmt nich schdille!" Grete L. hatte inzwischen ihren Gedankengang weitergesponnen und sagte: "Det is bei die Männa ooch so, wenn de deen Salz uff n Schwanz schdreust, denn haste se for alle Zeit jefang un kannst mit se machn, wat de willst." Nun lachte ich: "Männa ham doch keene Schwänze!" Die beiden Frauen runzelten die Stirnen: "Un wat for welche! Det wirste schpeeta schon noch sehn!"
Wenige Tage danach fuhren wir wieder nach Moabit. Kaum dass ich meinen geliebten Onkel Bruno sah, fragte ich ihn: "Du hast doch keen Schwanz, wa, Onkel Bruno, du bist doch keen Teufl oda irjend n Tier, du kannst doch ja keen Schwanz ham, wa?" Er blickte mich irritiert an, gab keine Antwort und ließ mich stehen. Nun fiel die ganze Familie über mich her, was ich mir einbilde, so ein blödes Zeug zu reden und ob ich wohl den Verstand verloren hätte? Es gelang mir nicht, die Sachlage zu erklären. Ich glaube, an jenem Tag hatte ich mir ein für alle mal sämtliche Sympathie verscherzt.
Einmal war ich, ich weiß nicht mehr aus welchem Grund, für mindestens zwei Tage zu Besuch bei Tante Lotte in ihrer neuen Wohnung. Wenige Meter von ihrem Wohnhaus entfernt befand sich ein Park mit einem Kinderspielplatz, der mir wie ein kleines Paradies erschien. Tante Lotte verließ mit mir am anderen Tag die Wohnung, um einkaufen zu gehen. Aber sie hatte irgendetwas in der Wohnung vergessen. Sie befahl mir, vor der Haustür stehen zu bleiben und auf sie zu warten. Ich wartete lange. Eine "halbe Ewigkeit". Und genau gegenüber wusste ich einen Buddelkasten und einen blanken Kletterbaum (ein irgendwo gefällter Baum mit vielen starken Ästen war entrindet und fest in der Erde verankert worden). Einer meiner Großcousins kam an mir vorüber. Ich fragte: "Dürf ick uff den Spielplatz? Findt Deine Mutter mir denn da?" - "Jewiß", antwortete er, "da kannste ruhich hinjehn, det is n Kindaschpielplatz, da schpieln wa alle!" So folgte ich ruhigen Gewissens meinem Drange und spielte einige Zeit in dem riesigen Buddelkasten, bis Tante Lotte mich sehr zornig aufgriff. In ihrer Wohnung bekam ich Prügel für meinen Ungehorsam. Ich weiß nicht, wie lange ich auf sie gewartet hatte. Wie lange kann man ein kleines Kind vor der Haustür warten lassen, wenn gegenüber ein Spielplatz lockt? Die Sonne lachte mich an, es war das allerbeste Buddelkastenwetter, und weshalb sollte ich Tante Lotte zum Einkaufen begleiten? Sie kam ohne mich unnützes Ding gewiss besser zurecht!
Ich liebte Onkel Brunos nervige, geschickte Hände. Es war ein Spaß, ihm bei der Arbeit zuzuschauen, namentlich, wenn er aus meinen alten Halbschuhen Sandalen für mich schnitt. Derartiges wurde 1943 - 50 von fast allen Kindern getragen, und wenn ich solches Schuhwerk an anderen Kinderfüßen sah, dachte ich glücklich: "Da jibts noch andre liebe Onkels!". Am liebsten wäre ich den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen, aber dafür hatte er natürlich kein Verständnis. Er schickte mich hinaus zu seinen Kindern spielen. Nur - sie spielten nicht gern mit mir, denn ich kannte viele ihrer Spiele nicht und passte altersmäßig auch nicht zu ihnen. So spielten wir Verstecken. Ich wurde immer sehr schnell gefunden, hatte selber aber kaum eine Chance, die anderen zu finden, weil ich mich an das Verbot hielt, die Gartenwege zu verlassen.
Bruno hatte "goldene Hände", wie Ida immer sagte. Schnell und geschickt reparierte er Kochtöpfe mit Aluminiumpfropfen, ganz gleich, wie groß der Topf war oder an welcher Stelle er das Loch hatte, rasch war ein Pfropfen eingesetzt und der Topf hielt wieder "hundert Jahre".
Ich habe das Talent, alles zu verdrängen, was mir Kummer macht. So habe ich mir nicht gemerkt, wie viele Kinder Onkel Bruno hatte, wie viele davon Jungen oder Mädchen waren oder wie sie hießen. Bei mir ist nur hängen geblieben, dass einer seiner Söhne genau wie mein großer Bruder Manfred hieß und eine seiner Töchter genau wie ich Christa. Sie wurde nicht "Krille" gerufen, bestenfalls "Christel" und sie war furchtbar sauer darüber, dass wir beide den selben Namen hatten. Das war - glaube ich - der Hauptgrund, weshalb sie mich nicht leiden konnte. Was konnte ich dafür, dass ich so hieß? Sie ärgerte mich jedenfalls, wo sie nur konnte.
Aber möglicherweise habe ich das auch nur schief in Erinnerung. Die Wahrheit ist, dass ich mich - gerade ob der Namensgleichheit - an sie klammerte und sie mit all den unbeantworteten Fragen überschüttete. Ich hatte inzwischen beobachtet, dass Kinder sich ihre Fragen manchmal untereinander selbst beantworten und im stillen Einvernehmen handeln können und ich wollte gern dazugehören. Christa S. aus Moabit war in einen festen Familienkreis eingeschlossen. Ihr Vater war Idas Ziehsohn. Ida war somit gewissermaßen ihre Großmutter. Waltraud war Idas Enkelin durch Adoption. Die beiden waren sich gleich. Durch "Familienbande". Ich war nur die Tochter des Bruders von Ida. Obendrein aus zweiter Ehe. Ich bin bei Christa total abgestunken. Sie hatte etwas gegen unsere Namensgleichheit und ganz gewiss war sie dagegen, nun auch noch Verantwortung für eine "Cousine" zu übernehmen, wo ihr doch so oft ihre Geschwister anvertraut wurden. In langen Diskussionen wurde unser Verwandtschaftsgrad "geklärt". Ich wusste, dass Christa mehrere Geschwister hatte, dass diese Familie bei Ida den Vorrang hatte und fühlte mich unendlich hilflos.
Ida liebte Bruno sehr, doch ich erinnere mich an keine seiner Geburtstagsfeiern. Das kann daran liegen, dass die Nachkriegsjahre nicht unbedingt zum Feiern einluden, und ich daher die Besuche in Moabit als jedem dem anderen gleich einstufte. Vielleicht waren wir auch zu den Geburtstagen seiner Frau und seiner Kinder anwesend. Ich weiß es nicht, ich war zu jung. Es gab auch eine Feier, als Bruno gestorben war. Dessen bin ich mir sicher. Aber ich habe alles vergessen, was damit zusammenhing. Ich hatte einen Freund verloren und meine Trauer war unendlich. Nun gab es niemanden mehr, der mich in die Luft warf und mich "Würstchen" nannte, niemanden, der mich an seine Männerbrust drückte und mir zärtlich übers Haar strich.
Die einzige Familienfeier bei "den Moabitern", an welche ich mich lebhaft erinnere, war Lottes Hochzeit. Tante Lotte heiratete wieder. Einen "wildfremden" Mann. Sie hatte meinen geliebten Onkel Bruno vergessen und heiratete wieder.
Ich war inzwischen neun Jahre alt, und "wusste", dass das Leben weitergeht, dass "eine Frau nicht ohne Mann auskommt", dass Kinder einen Vater brauchen (das wagte ich in Frage zu stellen - wieso brauchen Kinder einen Vater, ich lebte doch auch ohne, und Waltraud hatte den Stiefvater erfolgreich abgestoßen! - aber es war für Ida der Hauptgrund der Eheschließung, also akzeptierte ich es).
Auf dieser Hochzeitsfeier wurde das frischgebackene Ehepaar u.a. durch Darbietungen der Kinder geehrt. Der Älteste brachte den damaligen Tagesschlager "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs sieben, wo ist meine Braut geblieben" mit mimischen Einlagen dar (das gefiel mir sehr gut), danach kam ein von Christa und einem ihrer Brüder dargebotenes Couplet: "Oma, hops mal . . ."
Ich lachte herzhaft darüber, es war ein Scherz, aber eine halbe Stunde später kamen sie auf mich zu: "Wehe, wenn du deine Oma hopsen lässt, du altet Stinktier, du!" Ich wusste nicht, was sie von mir wollten. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, Ida hopsen zu lassen, ich wusste, dass sie das nicht konnte, ich führte sie sicher um alle Pfützen und sonstige Unwegsamkeiten herum und machte auch andere Leute auf Gefahrenquellen aufmerksam. Wer will schon seinen nächsten und liebsten Angehörigen im Schlamassel sitzen sehen? Ich vergaß den Liedtext sehr schnell, da ich ihn als anstößig empfand.
Später wurde auf dieser Hochzeit Tanzmusik gespielt. Wenn ich mich recht erinnere, zu Anfang von der Combo, in der Alfred mitwirkte, danach von Radio und Plattenspieler. Alle tanzten. Mit mir wollte keiner tanzen. Ich wurde letztendlich an einen um fünf Jahre jüngeren Knaben delegiert, den ich im Nachhinein um Verzeihung bitte für meine schroffe Abweisung. Ich war so verärgert, dass ich mir nicht merkte, um wen es sich handelte.
Einige Zeit kamen "die Moabiter" mit Freunden und Bekannten zu uns, damit Ida sie zu den HO-Läden führte. Dort konnten sie billig einkaufen. Die Mark stand eins zu vier, manchmal gar eins zu sechs, so konnten Westberliner im Osten sehr billig einkaufen. Aber Ida gefiel es nicht, dass fremde Menschen durch sie einen Vorteil bekommen sollten. Sie verbat sich nach einigen Monaten diese "Bettelbesuche". Sie war der Meinung, dass es den "Westlern" ohnehin schon viel besser ging als uns. Nun wurden die Besuche aus dem Westen sehr selten.
Einmal besuchte uns einer der größeren Söhne von Onkel Bruno mit einem ausgewachsenen Schäferhund. Ich war schon zehn oder elf Jahre alt, hatte also schon lange keine Angst mehr vor großen Hunden, aber wie dieser "Rex" nun plötzlich in unserer Küche vor mir stand, mir die Vorderpfoten auf die Schultern legte und mich "küsste", war ich doch sehr erschrocken. Die Bekanntschaft kam zu unvermittelt! Während Ida hämisch lachte über meinen Schreckensschrei, "erklärte" mein Großcousin seinem Hunde, dass er nicht jedes Kind zu knutschen hat. Später habe ich das schöne Tier gern gestreichelt, verhinderte jedoch den Begrüßungskuss.
Ich blickte sehr gern in seine bernsteingelben Augen, sie schienen mir die wahre Demut auszudrücken, und mir wurde der Sinn eines an der L. schen Wand hängenden Spruches klar: "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere". Dennoch hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, mir ein eigenes Haustier zu wünschen. So ein Tier will nämlich auch fressen. Und dafür war bei uns das Geld zu knapp. Der Kater von Gerda hatte zu fressen, "was die Kelle klickt". Genau wie ich.
Idas letzter Besuch in Westberlin fand zu Christas Einsegnungsfeier statt. Gleich nach der Begrüßung bewunderte Christa Waltrauds Chiffontuch. Die waren damals gerade ganz hoch in Mode. Dann sah sie auch an meinem Hals ein solches Tuch und erblasste vor Neid.
Als es den Kindern auf der Feier langweilig wurde, beschlossen sie, ein paar Comik-Hefte bei einem Kumpel abzuholen. Waltraud und ich durften mitgehen. Ich fand meinen Mantel nicht gleich an der überladenen Flurgarderobe und konnte ihn nur flüchtig überstreifen. Als wir zurückkehrten, sah ich auf dem Hof ein Chiffontuch liegen. Ich rief: "Det sieht aus wie meins! Wer det wohl valoorn hat?" Ich wollte mich danach bücken, aber Christa sagte: "Lass den Dreck liejen! Wir ham t eilich!" Nach ein paar Schritten sagte sie: "Jeht ma schon vor, ick hab wat vajessn!"
Als wir uns für die Heimfahrt anzogen, war mein Chiffontuch nicht mehr in meinem Mantelärmel. Mir wurde klar, dass jenes Tuch, welches ich im Hof liegen sah, meines war. Ich lief hinunter - es war weg. Christa meinte: „Da hätteste bessa uffpassen müssen.“
Nach Idas Tod habe ich jahrzehntelang nichts mehr von den Moabitern gehört. Erst 1994, als auch ich einen Telefonanschluß hatte, habe ich Christa angerufen, um mit ihr zu schwatzen. Sie war noch genau so widerwärtig, wie ich sie in Erinnerung hatte und ich brach den Kontakt wieder ab.
Weihnachten 49 erlauschte ich, dass Ida seinerzeit Irma beauftragt hatte, mich spazieren zu fahren. Irma war auch begeistert mit mir losgezogen, aber die Nachbarn fragten: "Nanu, Irma, so jung und schon Mutti?" Die Vermutung der Nachbarn, eine ledige Mutter wie Gerda zu sein, war ihr so peinlich, dass sie nie wieder mit mir spazieren fuhr.
Als ich sie bewusst wahrnahm, war sie fast zwanzig Jahre alt und springlebendig. Oft hörte ich sie Lieder pfeifen, was Ida mit saurer Miene folgendermaßen kommentierte: "Bei Meedschn, die feifn, un Hühnan, die kreehn, da soll man beizeitn den Hals umdreehn!"
Irma trug ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar stets kurzgeschnitten, und sie bevorzugte Hosen als Bekleidung. Das wurde ebenfalls von Ida nicht gutgeheißen. Auch ihre Blusen und Pullover hatten einen leicht männlichen Akzent.
Sie lernte nach Schulabschluss Schlächtermamsell und arbeitete, solange es möglich war, bei einem Schlächter. Dann kehrte der Krieg zu seinem Ursprung zurück, der Schlächter musste schließen, und Irma wurde Flakhelferin, wo sie sich als sehr tüchtig und mutig erwies. Sie hat viele Brandbomben unschädlich gemacht und betrachtete den Krieg in jugendlichem Leichtsinn gewissermaßen als ein Abenteuer. Von den männlichen Flakhelfern lernte sie das Rauchen und wie man sich die Zigaretten selber dreht. Noch Ende der Fünfziger Jahre drehte sie sich ihre Zigaretten selbst, anfangs aus aufgelesenen Kippen. Auch ich habe ihr viele Kippen gebracht, wofür ich von Ida gescholten wurde, später aus gekauftem Tabak. Sie meinte: "Wenn man den Tabak selbst in die Hand nimmt, weiß man, dass man kein Unkraut raucht." Sie besaß bald außer dem ledernen Tabaksbeutel auch eine kleine "Zigarettenmaschine", wo man den Tabak nur noch lose auf das Blättchen streute und alles andere ging wie von selbst.
Irma wusste - genau wie Gerda - um ihrer beider Herkunft, nannte Gerda dennoch oft zärtlich "Schwesterchen". Irma war - obwohl die Jüngere von den beiden - Gerdas Beschützerin. Vielleicht, weil sie so groß und kräftig, burschikos und draufgängerisch war; sie konnte es durchaus mit einem Jungen aufnehmen. Und weil sie Gerda wirklich sehr gern hatte.
DEGUFA war nach dem Krieg mit eine der ersten Fabriken in Berlin, in der die Arbeit wieder aufgenommen wurde, und Gerda und Irma wechselten nach ihrer schlecht bezahlten Arbeit in der Gärtnerei zu dieser Firma über. Hier bekamen sie außer gutem Lohn auch noch die Schwerstarbeiter-Lebensmittelkarte; und wenn man clever genug war, konnte man auch Kohlen für den Winter beiseite schaffen. Ganz zu schweigen von Einzieh-Gummi und Einweckringen. Das waren gefragte Dinge auf dem Schwarzmarkt. So litt Familie Seele ein klein wenig weniger Not als viele andere Berliner Familien.
Einmal brachte Irma eine Gummiblase mit - ca 30cm im Durchmesser. Ich Fünfjährige durfte damit spielen. Ich hatte schon gesehen, wie Kinder mit Bällen spielen, nun versuchte ich, die Blase auftippen zu lassen. Sie tat es, und ich schlug kräftiger zu, um zu sehen, wie hoch die Blase wohl springen würde. Aber sie platzte und sauste mit lautem Pfeifen in unserer Küche herum - glücklicherweise, ohne Schaden anzurichten. Ich brüllte und weinte vor Schreck, und hoffte, dass nichts entzwei ging. Auch fürchtete ich, dass ich bestraft werden würde, weil die Blase kaputt war. Aber ich wurde nur ausgelacht, weil ich mich so erschrocken hatte.
Ein andermal brachte sie "Gummi-Seifenblasen" mit, eine Gummi-Lösung, aus der man mit Hilfe eines Strohhalms Ballons produzieren konnte, die wie Seifenblasen schwebten, aber wesentlich haltbarer waren. Man konnte sie mehrmals antippen, ohne dass sie platzten.
In den Nachkriegsjahren war Irma heiter und guten Mutes. Über viele ihrer lockeren Sprüche kann ich heute noch schmunzeln, auch wenn manches davon wahrscheinlich Nazi-Jargon war. Sie benutzte die Sprüche in den unglaublichsten Situationen, die hier wiederzugeben zu weit führen würde: "Wenn du denkst, du hastn, huppt er aus m Kastn!" - "Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist!" - "Det jeht einm durch Mark und Pfennich! (statt durch Mark und Bein)" - "Hasche Haschisch in de Taschen, hasche immer waschu naschen!" - "Da stehst de sprachlos vis a vis, möchte bloß mal wissen, wer dieser Sawie war?" - "Hilfe! Mord! Im Wäschekorb! Rettung is nich nötich." - "Hunde, wollt ihr ewich leben?" - "So wird s jemacht, wer nich schterm will, der wird jeschlacht!" - "Auf, auf, schprach der Fuchs zum Hasn, hörst de nich die Jeeja blasn?" - "Wer frisch den Schtier bei n Hörnan packt, bekommt wat Festet inne Hand." - "Lieba arm dran als Arm ab." - "Wo sich Herz und Magen laben, will die Nase auch was haben!" - "Bei Frost und Regenwetter kann man die Faulen nicht von den Fleißigen unterscheiden, da rennen sie alle!"
Wenn Waltraud vor dem Spiegel stand und sich umsah, ob die Strumpfnähte richtig sitzen - 1950 waren Strümpfe mit Naht obligatorisch - sagte Irma lachend: "Du kannst dir drehn, wie de willst, der Arsch bleibt hinten!" Und wenn jemand sehr lange mit dem Frisieren vor dem Spiegel zubrachte, dann sagte sie: "Jib dir keene Mühe, Kleene, aus ne Eule wird doch keen Paradiesvogel!" Begegnete sie auf der Straße einer alten Bekannten, mit der sie sich verzankt hatte, begrüßte sie sie freudestrahlend: "Jut siehste aus, wie lange bist n schon tot?"
Wenn sie mich dabei erwischte, dass ich in der Nase bohrte, pflegte sie freundlich zu sagen: "Brich den Bohrer nich ab, dein Papa macht dir keen neuen." Das hielt mich eher zu gutem Benehmen an, als wenn Ida mir in der selben Situation auf die Finger schlug. Von Irma lernte ich auch, dass und wie man mit Messer und Gabel isst, und erst durch sie akzeptierte ich, dass man den Ellenbogen nicht auf die Tischplatte stützt.
Wenn Waltraud und ich burschikos irgendetwas forderten, dann sagte sie zu uns: "Zwei Schlüsselchen öffnen Tür und Tor, zwei kleine, niedliche, blanke, sie kommen in jeder Sprache vor und heißen "Ich bitt" und "Ich danke!" Waltraud mokierte sich: "Det heißt doch bittE un nich so abjehackt bitt!" Ich entgegnete: "So kann man t sich aba bessa merkn!", denn ich war als Siebenjährige noch nicht in der Lage, ihr zu erklären, dass der Reim durch die von der Rechtschreibung abweichende Formulierung einen besonderen Rhythmus bekam. Nun war ich wieder "die Doofe", weil ich mir das Richtige anhand etwas Falschem beser merken konnte.
Wir Kinder sagten normalerweise: "Ick nimm . . ." Irma korrigierte dann energisch: "Det heeßt ick nehme! Ick nehme, du nimmst, er, sie, es nimmt, wir nehmen, ihr nehmt, sie nehmen! Nehmen is jenauso wichtich wie jeben, und darum heißt et ooch nich ick jib, sondern ick jebe!" Da hatte sie aber gegen Idas Sprechweise geredet. Erst, als ich in der Schule die Bestätigung für Irmas Behauptung erfuhr, nahm ich ihre Lehre an; und wenn ich sonst noch an ein schwieriges Wort geriet, fragte ich sie nach der Bedeutung oder Schreibweise. So auch nach dem Wort "uralt". Es begegnete mir auf einem Plakat in dem Spirituosengeschäft, in welches mich Irma oft nach einer Flasche "Halb und halb Schimmelgespann" schickte. Auf dem Plakat stand: "Wenn einem Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach uralt wert". Von "Ural" wusste ich, dass es eine weit entfernte Gegend ist. "Asbach" definierte ich eindeutig als ein Getränk - weil es das Wort "Bach" enthielt - das uralt. Aber wie ist uralen? Krabbelt es im Hals wie Himbeerbrause? Oder war es eiskalt auf der Zunge? Gleich hinter dem Ural begann doch dieses furchtbar kalte Sibierjen! (So hatte Waltraud gesagt.) Es dauerte eine Weile, ehe Irma begriff, was gemeint war, dann lachte sie schallend und klärte mich auf. Das Wort "uralt" wurde zwar benutzt in unserer Familie, aber man ließ mich in dem Glauben, dass es von "Uhr" hergeleitet wurde, was ich gern glaubte, denn unsere Uhr war "uralt". Und als ich lesen lernte, sagte die Lehrerin, dass wir die Buchstaben im Zusammenhang aussprechen sollen; das Wort "abartig" z.B. hätte ich "a bartig" gelesen und überlegt, was für eine Sorte Bart gemeint ist.
Irma war mein gesuchter Ratgeber, bis ich die Freundin meiner Mutter kennen lernte. Von ihr wird später noch ausführlich die Rede sein.
Ich freute mich immer, wenn ich Irma nach Hause kommen hörte. Dann lief ich zur Wohnungstür, nahm sie bei der Hand und zerrte sie in die Küche, wo sie mir die Witze aus der von Ida abonnierten "Berliner Zeitung" vorlesen musste. Und als ich selber lesen konnte, musste sie mir erklären, was an manchen Witzen lustig sein sollte. Da gab es z.B. die Rubrik: "Die Anekdote". Da war zuoberst ein Pelikan abgezeichnet, der scheinbar lachte. Ich kannte dieses Tier nicht und war der Meinung, dass es Anekdote genannt wird. Das Tier hatte einen gewaltigen, halboffenen Schnabel, der war fast so groß wie das gesamte Tier, es erschien mir daher sehr gespenstisch; und weil die Überschrift in zwei Hälften geteilt war, glaubte ich, dass das Tier nicht richtig lebt und auch nicht richtig tot ist, nur anek - tot. Diese Anekdoten verstand ich nur selten, weil man zu ihrem Verständnis gewisse Vorkenntnisse benötigte. Woher sollte ich sie haben, wo doch weder Ida, noch Gerda, von Familie L. ganz zu schweigen, jemals über Berliner Berühmtheiten aus Kunst und Wissenschaft redeten?
Irma behauptete immer, nicht viel Zeit zu haben, doch sie beantwortete meine Fragen so ausführlich und wahrheitsgetreu sie konnte und schob mich nicht zur Seite. Sie war auch imstande, auf eine Frage mit einem klaren: "Das weiß ich nicht!" zu antworten. Dieses Eingeständnis gab mir mehr Kraft und Mut, als wenn auch sie mich an meine Schullehrer oder gar auf "später" verwiesen hätte.
Sie zeigte mir, wie man mit Abziehbildern umgeht, wie man aus Kastanien kleine Körbchen und Puppenwagen schnitzt und wie man aus Eicheln Tabakspfeifen und kleine Männlein bastelt. Sie schenkte mir so nebenbei, also nicht, weil ich Geburtstag hatte oder sonst irgendein Feiertag war, Flaschenteufelchen und ein Kaleidoskop, an beidem hatte ich sehr viel Spaß. Als ich in Grete L.s Anwesenheit in das Kaleidoskop blickte, lästerte sie: "Siehst aus wie ne Blöde! Wat jibt et denn in det Ding zu seehn? Det sind doch man bloß bunte Papierkrümel und andra Dreck, du Dussel! Bloß die Krümel schpiejeln sich da! Du selba kannst nich in den Schpiejel kieken, dafor is et zu dusta in det Ding." Ich versuchte nicht, ihr die märchenhafte Schönheit dieser Spiegelungen zu erklären. Sie sah mich an, als wäre ich ein ekliger Käfer.
Im Winter 49 zeigte Irma Waltraud und mir, wie man Schattenspiele gestaltet. Bald konnten wir kleine und große Hunde, Schwäne, Pferde, Hühner und Hähne und sogar Affen und Giraffen an der Wand erscheinen lassen, woran wir sehr viel Spaß hatten.
Als sie 21 Jahre alt war, hatte sie einen sehr hartnäckigen Verehrer aus dem Westteil der Stadt. Er hieß Heinz und war etwa 10 Jahre älter als sie. Sie sagte ihm immer wieder, dass sie sich nicht an ihn binden würde. Er ignorierte jede Abweisung und machte ihr viele Geschenke, Blumen, Perlonstrümpfe (die sie sogleich an Gerda weiterreichte), Parfüm und vieles andere, auch einen großen Radioapparat. Irma lud mich sonntags häufig ein, den RIAS-Kinderfunk zu hören, aber diese Sendung entsprach nicht meinem Geschmack. Es erschien mir alles so gekünstelt und unnatürlich, besonders die hochdeutsch sprechenden Kinder. Kein mir bekannter Mensch sprach Hochdeutsch! (Ich ging damals noch nicht zur Schule.) Der RIAS-Kinderfunk war daher für mich nur ein Auswuchs der "Brotlosen Kunst". Aber es beglückte mich, zu wissen, dass man sich die Mühe machte, Sendungen eigens für Kinder zu gestalten.
Besagter Heinz jedenfalls ließ von seinen Bemühungen um Irma erst im Jahre 1952 ab, als sie ihm ausgangs eines seiner Besuche vor unserer Haustür klipp und klar sagte, dass sie sich nur zu Frauen hingezogen fühlte und er schon aus diesem Grund keine Chance bei ihr hatte. Er entgegnete, dass er sie gerade deshalb so reizend findet. Irma nannte ihn daraufhin einen fiesen, perversen Spanner, ohrfeigte ihn und ließ ihn auf der Straße stehen. Ida schlug nach diesem Bericht die Hände in echter Verzweiflung über dem Kopf zusammen und jammerte: "Den Dussel hättest du heiratn könn, denn weerste doch een for allemal vasorcht jewesen, du deemlijet Kamel!" Irma entgegnete stolz: "Ick vasorch ma alleene, det is so sicha wie jewiss! Außadem muss heutzudaare ne Frau nich unbedingt heiratn. Die Gleichberechtigung ermöglicht jedem n jesichertet Auskomm, det is jetz Sozjalismus!" Diese Worte machten mir den Sozialismus sehr sympathisch. Auch ich wollte später nicht - ähnlich wie Grete L. - angewiesen sein, darauf zu warten, dass mir mein Ehemann gnädig das Wirtschaftsgeld gibt, mit dem ich dann auf Biegen und Brechen die Familie zu ernähren hätte. Mit Blick auf das L.sche Familienleben empfand ich die Ehe als eine allseits befürwortete moderne Form der Sklaverei. Ich war - achtjährig - fest entschlossen, niemals zu heiraten.
Ich hatte diesen Heinz auch kennen gelernt. In meiner Erinnerung sehe ich einen eher unscheinbaren jungen Mann vor mir. Er war so zierlich, dass er nahezu feminin wirkte. Ich halte es für möglich, dass er Irma wirklich geliebt hat, wie wäre sonst seine jahrelange Anhänglichkeit zu erklären? Es gibt Männer, die sich nur in Lesben verlieben, ebenso wie es Frauen gibt, die sich nur in Schwule verlieben (sie sind bereits mehrfach literarisch belegt). Doch ehe diese Randgruppen gesellschaftlich anerkannt werden, muss noch sehr viel Toleranz unter den Menschen wachsen.
Für längere Zeit hatte Irma eine Freundin namens Rita. Das war eine energiegeladene Person mit leuchtend blauen Augen und reichem schwarzem Haar. Sie wohnte ein paar Monate bei Irma. Sie war sehr resolut und unternehmungslustig. Sie ernährte sich vom Verkauf eines von ihr produzierten Bügelfaltenfestigers. Sie hatte sich diese Erfindung patentieren lassen. Sie bestand aus einem Stift, der einem Radiergummi ähnlich sah, mit dem man - - - "sachte über die Bügelfalte streicht, danach das Bügeleisen wie gewohnt benutzt, und schon sitzt die Bügelfalte wie genäht! Äußerst strapazierfähig! Nie wieder zerknitterte Hosen! Sie können jede Arbeit verrichten, sich noch so oft bücken, mit der Freundin in der Wiese liegen und wer weiß was für Dummheiten machen, Ihre Hose bleibt der Stolz des Besitzers, knitterfrei bis zur nächsten Wäsche! Und dann wieder: Sachte mit dem Stift über die Falte . . ." So offerierte sie ihren Artikel. Sie stand auf den Wochenmärkten und schrie sich die Lunge aus dem Leib. An jedem Tag verkaufte sie einige Stifte, denn ihre heitere Art sprach die Leute an.
Einmal nahm sie mich mit, um die Ingredienzien für ihre Stifte einzukaufen. Sie brauchte dazu ein ganz bestimmtes Paraffin, das es nicht überall gab. Wir klapperten die einschlägigen Geschäfte ab und hatten überall Pech, nirgendwo hatte man diesen Artikel noch vorrätig. Endlich sagte uns eine Ladenbesitzerin: "Der det Zeuch produziert hat, is doot. Det Zeuch kriejen Se nirrjens mehr, Sie müssen sich schon an een anderet Zeuch jewöhn!" Aber das hatte Rita schon versucht. Jedes andere Paraffin ließ die Masse kraus werden und die Stifte zerbröselten. Sie probierte in unserer Küche etliche Tage andere Zusammensetzungen der Masse aus, bis sie eine gute Mischung gefunden hatte. Gerade zur rechten Zeit, denn Ida sagte unvermittelt: "Nu is det aba ma jenuch mit den Jeschdank in meine Küche!" und Rita beeilte sich, alles aufzuräumen und zu säubern.
Im selben Jahr nahm sie mich mit auf den Weihnachtsmarkt. Dort war ich nie zuvor, und ich hatte ihn mir so richtig märchenhaft vorgestellt. Weihnachten treffen alle Märchen zusammen. Märchen sind Träume, Weihnachten ist ein alljährlich wiederkehrendes Wunder. Ich hoffte, daß uns auf dem Weihnachtsmarkt irgendein Wunder begegnen würde, dem ich dann zurufen könnte: "Hier bin ich, was darf ich zu deiner Vollendung tun?" Stattdessen traf ich auf das jedem bekannte heillose Gedränge. Rita schützte mich mit ihrem Körper vor Anrempelungen und führte mich zu einem Karussell, wo ich eine Runde mitfahren durfte. Sie setzte mich zu ein paar Kindern in die Gondel, was mir sehr unbehaglich war, denn jene waren gut bekannt miteinander und fühlten sich durch mich gestört, was sie mich durch "unabsichtliche" Tritte und Püffe spüren ließen. Ich war froh, als die Fahrt zu Ende war. Rita wunderte sich, dass ich nicht noch einmal fahren wollte und freute sich, auf diese Weise Geld zu sparen.
Angeregt durch die vielen Wohlgerüche des Weihnachtsmarktes bekam ich Appetit. Ich fragte, ob sie etwas zu Essen kaufen würde? Sie kaufte einen kandierten Apfel. Derartiges hatte ich nie zuvor gegessen. Es war ein großer Apfel. So groß, dass ich ihn nicht anbeißen konnte. Da machte Rita mir den Anfang. Der Apfel war essigsauer, mir zieht sich heute noch alles zusammen, wenn ich an diesen Apfel denke! Die rote Glasur war messerscharf und schnitt mir in den Gaumen. Ich konnte nicht verstehen, dass das eine beliebte Leckerei sein sollte, wie konnte man nur so etwas essen? Obendrein bekam man ganz klebrige Finger davon, klebrige Lippen und Nase! Namentlich letztere fing gar arg an zu frieren, nachdem sich der Zucker nicht abwischen ließ. Wir gingen also völlig unamüsiert nach Hause, denn auch Rita hatte nicht das gesuchte ganz besondere Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern finden können. (zwanzig Jahre später habe ich noch einmal einen kandierten Apfel probiert und endgültig befunden: Bonbon gehört nicht auf einen Apfel, er isst sich besser ohne Bonbon und Bonbon lutscht sich besser ohne Apfel. Ich habe meinen Kindern nie einen kandierten Apfel gekauft.)
Auf dem Heimweg wurden wir von einer dunkelhäutigen Frau unbestimmbaren Alters angesprochen. Einige Löckchen ihres tiefschwarzen Haares lugten unter ihrem riesigen, mit dichten, langen Seidenfransen verzierten, verwegen gebundenen Kopftuchs hervor, das auch den Blick auf große goldene Ohrringe freigab. Diese Ohrringe gehören zu dem Erstaunlichsten, das ich in meinen frühen Kindertagen sah. Da waren nicht nur die halbmondförmigen Kreolen, sondern auch feine Kettchen, an denen blaue, grüne und rote Prismen selbst den geringsten Sonnenstrahl in vielfarbige Blitze verwandelten. Die Frau vermutete in uns Mutter und Tochter. Sie hatte Kleider unter ihrem weiten Mantel verborgen und zeigte uns eines, das mir gepasst hätte. Es war ein Trachtenkostüm aus schwarzem Tuch, aufwendig in südeuropäischer Art mit Perlen und Goldstickerei verziert. Es gefiel mir sehr gut, besonders die blendendweiße Bluse mit dem zarten Spitzenkragen. Sie klagte uns ihr Leid, dass der Verkauf der Kleider ihrer verstorbenen Tochter ihr einziger Broterwerb sei. Schon deshalb hätte ich ihr das Kleid abgekauft. Aber Rita war sich nicht sicher, ob sie die vierzig Mark von Ida wiederbekommen würde, und ich bestätigte ebenso lauthals wie wahrheitsgetreu: "Oma hat keen Jeld!" Obwohl Rita klarstellte, dass sie nicht meine Mutter ist, folgte uns die Frau noch eine ganze Weile in der Hoffnung, dass ich Rita doch noch zu dem Kauf überrede und ging im Preis sogar auf fünfundzwanzig Mark hinunter. Letztendlich verfluchte sie uns in einem sonderbaren Kauderwelsch und gipfelte in der Behauptung, dass ich zeitlebens niemals ein so schönes Kleid auch nur berühren werde, geschweige denn tragen, denn so ein schönes Kleid würde ich nie wieder bekommen, das könne sie als Zigeunerin garantieren. Als wir sie endlich los waren, knurrte Rita: "Sowat! Vakooft die die Kleider ihrer verstormnen Tochter! Wer s gloobt, wird seelich! Davon kann se doch nich leehm! Die wollte uns bloß det Jeld aus de Tasche locken!" Diese Ansicht wurde von Ida und Grete L. geteilt. Auch lobten sie mich, dass ich auf das Kleid verzichtete, denn Ida hatte wirklich kein Geld für Kleider, und wenn sie noch so preiswert und gut waren und von mir noch so sehr begehrt wurden.
Einzig der Fluch der Zigeunerin, dass ich nie ein so schönes besticktes Kostüm besitzen werde, wurde von Ida und Grete L. ernst genommen. Aber ich wusste schon, dass Grete L. Luftblasen redete, wenn sie die Augen auf eine bestimmte Weise aufriss, und lachte innerlich über ihre Auffassung.
Sieben Jahre später schenkte mir der geschiedene Mann der Freundin meiner Mutter (später Onkel Erich genannt) ein russisches Folklore-Kostüm. Es war zwar nicht wie das Zigeunerkostüm mit Gold und Perlen bestickt, aber es hat mir genauso gut gefallen.
Heute - wo ich diese Erinnerungen aufrufe - weiß ich, dass mir in dieser Zigeunerin tatsächlich ein Wunder begegnet war. Sie war Überlebende des Holocaust, von welchem ich damals nichts ahnte. Und ich habe nichts für sie getan. Und ich wurde dafür gelobt. Unglaublich.
Das Weihnachtsfest 49 wurde mit Familie L. gemeinsam gefeiert. Damals war gerade ein Schlager in Mode, der lautete: "Rita war 18 und jung, Rita war 18 und schön, nie hatte sie einem Mann tief in die Augen gesehn . . ." Dies sang man nun lautstark mit hämischen Seitenblicken auf Irmas Freundin Rita. Ich wusste inzwischen (durch den Blick in Herrn L.s und Alfreds Augen), dass es gar nicht so absolut erhebend ist, "einem Mann tief in die Augen zu sehn" und war der Meinung, dass Rita überhaupt nichts verpasste, und sagte leise zu ihr: "Mensch, sind diiie doof!" Irma und Rita sahen sich verdutzt an, dann lachten sie, und mich beschlich das Gefühl, mich selbst ins Abseits gestellt zu haben. Doch ich stand dazu. Irma und Rita waren mir wesentlich lieber als Herr L. oder Alfred. Und ich urteile heute noch genauso.
Danach hatte Irma eine Freundin, die gewiss zehn Jahre älter war als sie. Sie hatte kurze, strubbelige, mittelblonde Locken, die ihr wirr vom Kopf abstanden, und sie war meistens grell geschminkt. Sie besaß einen ebenso strubbeligen kleinen Hund unbestimmbarer Rasse, dem sie gern den Bauch in seiner vollen Länge streichelte. Der Hund war das so gewöhnt, dass er sich vor jedem, der ihn streicheln wollte, sofort auf den Rücken warf. Mir war es unangenehm, ihn zwischen den Hinterbeinen zu streicheln, aber sein Frauchen sagte auffordernd zu mir: "Mach et man ruhich, det hat der jenau so jerne wie jeda andre, ob Mensch oda Tier, alle wolln se jenau DA jeschtreichelt werdn!" Ich teilte ihre Meinung nicht. Es traf auf mich nicht zu. Ich ließ mich zwar von Alfred "genau DA" streicheln, aber es war mir unangenehm. Das Begehren der Erwachsenen erstaunte mich. Ich ließ es ebenso über mich ergehen, wie Ida und andere Erwachsene "die neue Zeit" hinnahmen.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr war ich der festen Überzeugung, dass Irmas Bekanntschaften ganz normale Freundinnen waren, Freundinnen, wie sie jede Frau hat. So wäre es auch geblieben, wenn mich Waltraud nicht aufgeklärt hätte: "Die Irma is schwul." Nun dämmerte es mir, dass die Freundinnen einander liebten, dass sie zärtlich zu einander waren, dass sie genau die sexuelle Erfüllung miteinander fanden, die Alfred bei mir suchte. Ich dachte: "Wat det nich allet so jibt!" und freute mich, dass Irma immer Freundinnen hatte, die heitere, lebenslustige Menschen waren, sodass auch sie stets heiter und energiegeladen war.
Ein beliebter selbst erfundener Filmtitel von Gerda lautete: „Der rasende Pfortz auf der Gardinenstange". Weil ich all zu gern die Kinokindervorstellungen besuchte, wollte ich oft schon vorher wissen, wie der Film heißt. Irma wusste mehr als alle, also fragte ich sie an einem Sonntagmorgen, wie der heutige Film heißt. Sie sagte, sie wisse es nicht. Ich glaubte ihr nicht, sondern unterstellte, dass sie mich veräppelt. Zwischendurch reichte Ida uns Kindern das Frühstück. Es bestand aus Schmalzstullen, wobei auch zwei Kanten vakant waren. Waltraud erschien nach dem ersten Bissen der mir zugedachte als schmackhafter, weil er tiefer eingeschnitten war. Wir tauschten. Dann stellte sie fest, dass mein Brot viel härter war als ihres, und sie wollte ihren Kanten zurück. Nun sagte Irma ernst: Der heutige Film heißt "Die Jagd nach dem Schmalzkanten". Ich betrachtete das als Antwort auf meine Frage.
Auf dem Filmplakat stand: "Anna Ith". Ich ging noch nicht zur Schule. Fragte jemand nach dem Titel des heutigen Films, sagte ich strahlend: Es gibt heute "Die Jagd nach dem Schmalzkanten" und hielt alle für doof, die sagten, dass der Film "Anna Iht" heißt. Dieser Film über eine Heldenjungfrau beschäftigte mich sehr lange. Ich war froh, dass es nicht um einen Schmalzkanten ging. Waltraud hatte mir nicht Einhalt geboten. Sie grinste nur. Sie konnte lesen, sie hätte mir den wahren Filmtitel nennen können!
Um 1950 fragte Irma Waltraud und mich: "Ihr esst doch jerne Bücklinge, wa? Könnt a habn. Wie viele wollt ihr?" Ich erwiderte begeistert: "Eeen schaff ick janz beschtimmt!", ohne lange darüber nachzudenken, wie sie wohl an den raren Artikel herangekommen war; sie besaß ja öfter mal etwas Besonderes. Irma sagte: "Ihr könnt soo viele haben, wie ihr nur wollt!" Nun sagte ich: "Denn will ick dreie!", denn dann hätte ich noch einen für morgen und könnte auch noch der Oma einen abgeben. Irma verneigte sich dreimal vor mir, wobei sie feierlich sagte: "Ein Bückling, zwei Bücklinge, drei Bücklinge, bitte schön!" Ich erkannte erheitert, dass Worte mitunter eine doppelte Bedeutung haben, und lachte herzhaft. Waltraud war auf das Spiel nicht eingegangen, für sie war es ganz einfach nur "Blödsinn".
Dann hielt Irma ihre Zeigefinger steil in die Höhe und fragte: "Wisst ihr, was das ist? Das sind Mohrüben. Und was sind Mohrüben? Polizeifinger. Und was machen Polizeifinger? Das!" Und dann kitzelte sie uns an den Rippen, dass wir vor Wonne kreischten.
Damals versuchte sie sogar, mir auf meine Bitte hin das Pfeifen und Mundharmonikaspielen beizubringen, aber ich begriff nach ihren Erklärungen und selbst nach ihrem Eingriff in meinen Mund noch immer nicht die Stellung der Zunge bei diesen Unternehmungen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren konnte ich dann plötzlich wie von selbst Melodien pfeifen, aber eine Mundharmonika habe ich nie wieder angefasst.
Eine ihrer Freundinnen hatte ihr einen kleinen eingerahmten Spruch geschenkt, er war dargestellt wie ein kleines Zimmer, d.h. es standen richtige kleine Möbel an den Seiten und auf der Wand stand: "Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken!" Über diesen Spruch habe ich jahrelang philosophiert: "Ist es etwa angenehm, wenn die Krümel im Bett pieken? Oder ist der Spruch eine Warnung?" Ich kam zu keinem Ende. Irma erklärte mir diesen Spruch als Scherz und ich fand mal wieder nicht die Stelle zum Lachen.
Genauso ging es mir auch mit einem Lieblingsspielzeug von ihr. Es handelte sich dabei um zwei kleine Hunde aus Plaste, die einen Magnetkern enthielten, sodass sich bei Annäherung der Tiere aneinander die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen festklebte. Die Tiere rasten förmlich aufeinander zu, der eine vorwärts, der andere rückwärts. Darüber konnte Irma mit ihren Freundinnen stundenlang kichern. Ich hatte auf der Straße gesehen, dass alle Hunde sich so verhalten, jeder Hund schnuppert am Hinterteil des anderen. Ich weiß noch heute nicht, was es darüber zu lachen gibt.
Damals unterhielt ich mich mit Onkel Erich darüber, und er erzählte mir eine Sage zu diesem Thema, dass nämlich nach einem Kongress der Tiere der Hund mit einem Brief zum König geschickt wurde. Er trug ihn in der Schnauze, damit er schnell laufen konnte. Dann musste er ein Gewässer überqueren, und er klemmte sich den Brief unter den Schwanz, damit er beim Schwimmen besser atmen konnte. Er dachte nicht daran, dass sein Schwanz beim Schwimmen steil in die Luft ragt, so ging der Brief verloren. Seit jenem Tag beschnuppern sich die Hunde auf diese Weise, um herauszufinden, wo der Brief geblieben ist.
Übrigens bezeichnete Irma sich selbst gern als "Intelligenzbestie".
1952 hatte sie eine Freundin, die englisch sprach. Wenn Irma angetrunken war, ließ sie uns an ihrem neuen Wissen teilhaben; das war lustig, denn sie übermittelte uns das Englische anhand der Ähnlichkeit mit dem Deutschen. Viele Worte kommen im Englischen und im Deutschen vor, jedoch häufig mit ganz anderem Sinn. So lernte ich von ihr den Buchtitel "The poor People of London" in der fehlerhaften Übersetzung "Alle Londoner sind nur Piepels". Natürlich sagte sie uns auch, wie die richtige Übersetzung heißt. Abschließend bemerkte sie: "Seht a, det sind so typische Eselsbrücken. Wenn man sich irrjendwat nich richtich merken kann, baut man sich ne Eselsbrücke. Jeda Esel braucht ne Brücke!"
Jene Freundin hatte ihrerseits eine Engländerin zur Freundin, die nur wenig deutsch sprach. Einmal berichtete Irma uns über eine Unterhaltung in der Wohnung dieser Freundin. Irma hatte recht schwungvoll ihre Meinung über ein aktuelles Thema verlauten lassen und theatralisch mit den Worten geschlossen: "Irr ick ma oda irr ick ma nich? Ick irr ma nich!" worauf die Engländerin leise, aber fest in das allgemeine nachdenkliche Schweigen hinein sagte: "Du doch Irma!" Ein liebenswerter Irrtum.
Wenn Irma sich in unserer Küche mit Waltraud und mir auf eine längere Unterhaltung eingelassen hatte, drehte sie sich häufig mitten im Satz um mit der scherzhaften Bemerkung: "Ihr haltet mich bloß von der Arbeit ab!", dabei war sie doch diejenige, die das Gespräch begonnen hatte! Wir lachten und wandten uns anderen Dingen zu.
1950 wechselte Irma von DEGUFA zur BVG über. Hier hatte sie den Vorteil der Dienstkleidung, die ihrem Modegeschmack sehr entgegenkam. Und hier war es auch möglich, den Verdienst durch nicht abgerechnete Fahrscheine etwas aufzubessern. Die leeren Fahrscheinblöcke schenkte sie uns Kindern. Wir bastelten daraus Möbel für unsere Puppenstuben. Wenn der Neid der Familie L. nicht gewesen wäre, hätte ich nie geglaubt, dass Irma Diebstahl begangen hatte. Denn laut Ida war alles richtig, was Erwachsene tun.
Auf all ihren Arbeitsstellen war sie anstellig und fleißig. Da sie auch sehr sparsam war, konnte sie sich bald ein Fahrrad kaufen, um nicht mehr auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Anfangs stellte sie ihr Fahrrad in den Korridor, aber das passte der Ida nicht, Irma musste es in ihre Stube stellen, wo es ihr arg im Wege war. 1951 wurde von Alfred und Herrn L. der defekte Badeofen nebst Wanne aus unserem Badezimmer entfernt; und dort konnte Irmas Fahrrad nun stehen, ohne jemanden zu stören. Jedes Mal, wenn ich daran vorüber kam, amüsierte es mich, dass das Fahrrad die Aufschrift "Diamant" trug. Irma pflegte das Rad so, dass es auch wirklich wie ein Diamant blitzte.
Als die Motorroller auf den Markt kamen, kaufte sie einen "Sperber". Damit kam sie schneller zu ihren Ausflugszielen und konnte jemanden auf dem Rücksitz transportieren. Der "Sperber" wurde anfangs im Hausflur abgestellt, das duldete nun wieder die Hausverwaltung nicht. So stellte sie ihr Gefährt auf den Hof, dort war genügend Platz.
Kurz nach meinem achten Geburtstag bemerkte ich, dass Irma eine Zigarettenschachtel in der Küche vergessen hatte. Ich war wieder einmal ganz allein in der Wohnung und hatte Langeweile, so steckte ich mir eine Zigarette an. Ich hatte oft genug beobachtet, wie es gemacht wird und hatte keine Schwierigkeit damit. Der heiße Rauch biss mir in Zunge und Hals. Ich bemühte mich, das zu genießen, denn ich wusste durch die Reden der Erwachsenen, dass Tabak ein Genussmittel ist. Ich konnte den Genuss nicht nachvollziehen, rauchte die Zigarette aber gänzlich auf. Nun wusste ich, wie es schmeckt und konnte zeitlebens darauf verzichten.
Manchmal neckte Irma mich im Vorübergehen mit kurzen Worten, die aber nie so verletzend waren, wie ich es von allen anderen gewöhnt war. Da sie keine Antwort abwartete, konnte ich nun schmollen oder vergessen. Oft tat ich beides. In jedem Fall aber vergaß ich es, denn Irma war eine lustige Person und hatte nur Spaß gemacht. Nur eine negative Bemerkung hat mich nachdrücklich beeinflusst: Ich stand vor dem Spiegel und probierte erstmals in meinem Leben aus eigenem Antrieb eine neue Frisur. Irma durchschritt den Flur und ich fragte sie: "Seh ick so bessa aus?" sie erwiderte ohne mich anzusehen: "Du mit deine Schweinelocken!" So war mir kurz und schmerzhaft jegliche Eitelkeit für alle Zeit vergangen.
Eine andere Freundin von Irma hieß Helga. Sie war ein klein wenig größer als Irma, stets tadellos gekleidet und frisiert, eine richtige Dame mit dezentem Make-Up und gezupften Augenbrauen. Ich bat sie, mir einen Vers in mein Poesie-Album zu schreiben. Aber sie hatte eine derartige "Doktorschrift", dass ich sie nicht entziffern konnte. Ich bat sie, mir vorzulesen, was sie geschrieben hatte. Stattdessen schrieb sie auf die nächste Seite: "Da Christa das nicht lesen kann, fang ich noch mal von vorne an." und wiederholte den Text in derselben Krakelschrift. Nie habe ich erfahren, was sie mir für einen Spruch ins Album geschrieben hatte!
Wenn ich Irma bat, mir ein Märchen zu erzählen, begann sie zu singen: "Rotköppchen hübsch und fein ging in den Wald allein, da kam der böse Wolf und fraß es auf!"
Sie erzählte lieber Witze, z.B. diesen: Zur Jahrhundertwende lebte in Berlin eine Mutter mit drei Töchtern, die alle einen Sprachfehler hatten, sie konnten weder "g" noch "s" aussprechen. Jedes Jahr schärfte sie ihren inzwischen erwachsenen Töchtern ein, den Mund zu halten, wenn sie beim Tanz einen jungen Mann kennen lernen, damit er nicht schon vor der Hochzeit merkt, was er sich einhandelt. Eines Tages beherzigten die Mädchen das und kehrten alle mit einem netten jungen Kavalier an den Tisch zurück. Aber die Berliner Tanzsäle waren auch damals nicht so richtig sauber, und eines der Mädchen erblickt eine Spinne an der Wand. Entsetzt schrie sie auf: "Eine Pinne! Eine Pinne!" Die zweite flüsterte ihr ebenso entsetzt zu: "Bit du dille! Bit du dille! (Bist du stille)" Die dritte aber sagte sehr vergnügt: "Na, ein Dück, det it dit nit dedaat habe! (Na, ein Glück, dass ich das nicht gesagt habe)" Oder diesen: Klein-Erna fragt: "Mutti, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, aber den kennst du doch!" - "Nein, ein Roler, Mama." Die Mutter schickt das Kind zum Vater. "Papa, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, nicht wahr?" - "Nein, ein Roler." - "Ja, woher hast du denn das Wort? Vielleicht ergibt sich der Sinn ja aus dem Satzzusammenhang." - "Von den Kindern auf der Straße, die singen immer: "Tittiroler sind lustig . " Titti kenn ich, aber was ist ein Roler?"
Ida verbot mir, in Irmas Zimmer zu gehen, ganz gleich, ob sie zu Hause war oder nicht. Aber die wenigen Blicke, die ich in ihr Zimmer werfen konnte, lassen mich verkünden, dass es stets ordentlich und sauber war, ebenso wie ihre Kleidung und Wäsche. Selten sah ich, dass sie Wäsche wusch, das erledigte wahrscheinlich ihre jeweilige Freundin für sie.
Auch sah ich sie selten eine Mahlzeit zubereiten. Sie aß meist auf ihrer Arbeitsstelle zu Mittag. Was sie zum Abendbrot benötigte, hatte sie in ihrer Stube. Und wenn sie hin und wieder ihre Freundinnen am Wochenende eingeladen hatte und für sie kochte, verließ Ida demonstrativ mit mir die Küche, um "die Sauerei nich mit ansehn zu müssn". Aber Irma beeilte sich mit der Kocherei und hinterließ die Küche nach Möglichkeit sauberer, als sie sie vorgefunden hatte. Einmal wollte sie zusammen mit einer Freundin Kohlrouladen kochen. Sie trugen heiter alles zum Tisch, was sie benötigten, und kamen dann in Schwierigkeiten: Kocht man zuerst die Kartoffeln oder den Kohl? Kocht man den Kohl überhaupt, oder wickelt man ihn roh um das Fleisch? Irma fragte mit tiefem Erstaunen in der Stimme: "Ja, hast du denn noch niemals Kohlrouladen gekocht?" - "Nein.", entgegnete die Freundin tief beschämt. "Na, ick ooch nich!", lachte Irma tröstend. Soviel ich weiß, gelang ihnen die Mahlzeit dann doch.
Einmal stand ich neugierig in der Küche, um zu sehen, was Irma ihren Freundinnen wohl vorsetzen würde. Es sollte u.a. einen Obstsalat geben. Auf dem Küchentisch stand eine große Tüte mit Äpfeln. Ich hatte schon mehrere Monate keinen Apfel mehr gegessen und fragte lüstern: "Tante Irma, bleibt da vielleicht n Appel übrich?" Gutgelaunt antwortete sie: "Kannst dir jleich een neem." Ich griff in die Tüte, ohne hineinzusehen und hatte ein Prachtstück von Apfel in der Hand, das ich mit großer Lust sogleich herzhaft anbiss. Aber so hatte Irma es nicht gemeint, sie hatte "gleich" gesagt und nicht "auf der Stelle". Sie schüttete die Tüte aus und sah, dass ich den einzigen großen Apfel erwischt hatte, die anderen waren nicht halb so schön. Nun war sie böse mit mir, ihre gute Laune war dahin. Jetzt sagte sie nicht mehr: "Du sollst nich leehm wie n Hund", sondern wies mich aus der Küche.
Selbst Irma, die so tolerant und gebildet war, stimmte eines Tages in den allgemeinen Chorus gegen meine Mutter ein mit der Bemerkung: "Deine Mutter kann keene Witze azeeln, die vasaut imma die Poänkte." Das hat mir sehr wehgetan. Nach aller anderen üblen Nachrede sollte ich nun auch noch hinnehmen, dass meine Mutter keine Witze erzählen konnte. Heute vermute ich, dass Irma nicht akzeptierte, dass es unterschiedliche Arten von Humor gibt, denn ich habe meine Mutter als sehr humorvollen Menschen kennen gelernt und viel mit ihr gelacht.
Während Irmas Tätigkeit bei der BVG ließ sie sich für den Dienst bei der Volkspolizei anwerben. Hier lebte sie förmlich auf. Sie war mit Leib und Seele dabei, die Arbeit machte ihr sichtlich Spaß. Ihre Anstellung bei der Polizei war leider nur von kurzer Dauer. Sie verliebte sich sehr heftig in eine Kollegin und lernte von ihr nicht nur alle Genüsse der lesbischen Liebe kennen, sondern auch den Alkoholmissbrauch. Es war nur eine Frage der Zeit, dass man sie beide betrunken im Dienst erwischte. Das darauf folgende Disziplinarverfahren gipfelte darin, dass Irma aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Aber nicht das war das Schlimmste, sondern die Reaktion der geliebten Freundin. Sie gab Irma die Schuld an allem und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dieser Schicksalsschlag hat Irma sehr schwer getroffen. Sie trank eine große Flasche Schnaps leer, zog ihr hübschestes Nachthemd an, legte sich auf ihr Bett, stellte eine Schüssel daneben und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Gefühl für Ordnung und Sauberkeit war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie selbst in dieser tragischen Situation bestrebt war, keine hässliche Pfütze zu machen.
Irgendwie hatte Ida jedoch gespürt, dass mit Irma etwas nicht stimmte. Sie wollte mit ihr reden, fand aber die Tür verschlossen. Es war das erste mal, dass Irmas Tür verschlossen war. Ida schlug Krach. Anhand der Reaktion - absolute Stille - erkannte sie, dass schnelle Hilfe geboten war. Sie holte Herrn L. herunter, damit er die Zimmertür aufbricht. Als sie sah, was geschehen war, schickte sie rasch nach unserem Hausarzt, der auch sofort kam und die Blutung stoppte. Irma wurde gerettet - und sie war nicht froh darüber. Das wurde allgemein ignoriert. Das Leben geht weiter! Der Arzt übergab eine Packung Beruhigungstabletten. Ida schickte mich mit diesen Tabletten zu Irma und trug mir auf, ihr zu sagen, dass sie nicht so blöd sein soll, die Dinger alle auf einmal zu nehmen. Ich könnte mich heute noch dafür ohrfeigen, dass ich diesen Auftrag wortwörtlich und in Idas Gestus erfüllte! Irma hatte mehr Mitgefühl verdient; zumal Ida mit ihr auch nicht die bei Mädchen sonst üblichen Scherereien hatte. Irma hatte stets für die Familie mitgesorgt in den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren. Das aber war nun alles vergessen. In Idas Augen war sie abartig und verabscheuungswürdig.
Seit jener Zeit war Irma verschlossen und in sich gekehrt. Ihr heiteres Wesen hatte sich gänzlich verloren. Sie trank jetzt regelmäßig und kam meist nur zum Schlafen nach Hause. Sie fand zwar immer wieder eine Freundin, aber keine Beziehung hielt für längere Zeit.
Wenn sie auf ihre Trinkgewohnheiten angesprochen wurde, antwortete sie je nach Laune: "Prost, Pulle, wie süß ist dein Loch!" oder: "Doof frisst, Intelligenz säuft!" Diesen Satz wendete ich - dreißigjährig - in erweiterter Form auf mich selber an: "Ick bin doof und versuche manchmal, intellijent zu sein."
Ich war etwa zehn Jahre alt, als Irma mich ein klitzekleines Gläschen Likör probieren lassen wollte. Ich warf den Kopf zurück und sagte stolz eines der zehn Gebote der "Jungen Pioniere" auf: "Junge Pioniere trinken keinen Alkohol!" und ging ihr aus dem Weg. Darüber war sie regelrecht erbost. Ich war nicht in der Lage, auf sie einzugehen. Sie war als "absonderlich" verschrien, und ich wollte "normal" sein.
Häufig kam es vor, dass sie an Tagen von Familienfeiern schon halb betrunken war, bevor Alkohol an die Gäste ausgeschenkt wurde. Dann sagte Ida giftig zu ihr: "Konnts de wieda nich de Zeit abwaaten, wa, hast de wieda vorjefeiat, wa?" Sie verließ dann das Haus und blieb der Feier fern. Sie wollte wahrscheinlich nicht zu einer Familie gehören, die keine war.
Das Leben ging also weiter, Irma aber hatte sich merklich verändert. Sie war nicht mehr so leicht ansprechbar für mich und auch hart anderen gegenüber. Als auf einer Familienfeier einmal Japan als "Land des Lächelns" bezeichnet wurde, sagte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln: "Ja, ja, die Japse! Die haam den Booren raus, imma nur lächeln!"
Immer wollte ich sie für ein Gespräch gewinnen. Als ich z.B. einmal einen leichten Husten hatte und auch sie hustete, sagte ich scherzhaft zu ihr: "Du hast ma anjeschdeckt!" Sie erwiderte unwirsch: "Ja, ja, du hast n Rauchahustn! Ick un dir anjeschdeckt!"
An einem Sonnabend sagte ich übermütig zu ihr: "Morjen is Sonntach, da MUSS die Sonne scheinn! Det beschtimme ick!" Sie hatte wahrscheinlich wieder getrunken, jedenfalls erkannte sie den Widersinn dieser Bemerkung nicht und sagte fuchtig: "Du hast hier jarrnischt zu beschtimm, merk dir det!"
Da ich Irma als Kreuzworträtselfan kannte, ging ich - achtjährig - einmal mit einem Rätsel aus meiner ABC-Zeitung zu ihr. Ich war sehr stolz darüber, schon einige Lösungen in das Rätsel eingetragen zu haben, aber die anderen wollten nicht mehr hineinpassen. Sie warf einen kurzen Blick auf das Rätsel und keifte: "Det haste ja allet janz falsch jemacht! Die Antwort uff "Vaterland" heißt "Heimat" und nich "Deutschland", du Dussel, denkste denn, dass alle Menschen uff de Welt Deutsche sind? Jeda hat doch sein eijenet Vataland! Du hast det janze Reetsel vaschmiert! Man schreibt doch die Wörta bloß in die weißn Kästchn rin un nich drübawech!" Ich hatte die hellblauen Blindfelder nicht als solche erkannt und erst jetzt erfahren, welche Funktion sie haben. Ich hatte nun auf schmerzliche Weise etliches von Irma gelernt und ging nie wieder mit einem Kreuzworträtsel zu ihr.
Zwei Jahre später hatte sie in der Küche ein großes Rätsel aus der Wochenendbeilage der "Berliner Zeitung" liegen lassen. Ich hatte ihr beim Raten zugesehen und bemerkt, dass ihr mittendrin ein langes Wort fehlte. Es wurde nach dem "Erfinder" der Magdeburger Halbkugeln gefragt. Über ihn hatte ich gerade etwas in einem Bibliotheksbuch gelesen, und ich schrieb rasch seinen Namen in das Rätsel. Irma entdeckte bei ihrer Rückkunft sogleich meine krakeligen Buchstaben und wollte mir die Zeitung um die Ohren schlagen, weil sie nicht glauben wollte, dass der Name richtig war. Ich hatte zwar nicht mehr mein Bibliotheksbuch zum Beweis, aber die nachfolgenden Begriffe passten akkurat in das Rätsel. So erwarb ich mir kurzzeitig Irmas Achtung, worauf ich sehr stolz war.
1958 hatte ich von Onkel Erich ein russisches Küchenlied gelernt und sang es recht häufig. Es handelte von dem russischen Helden Stenka Rasin. Es kam in dem Lied eine Zeile vor, die mit den Worten: "Stenka hört es . . ." begann. Als ich wieder einmal das Lied lautstark in unserer Küche sang, kam Irma aus ihrer Stube und sagte verweisend: "Pass bloß uff, eh, Schtenka hört det!"
Zu jener Zeit begann ich, mir eine politische Meinung zu bilden und redete eines Tages auch mit Irma darüber. Ich erklärte in diesem Zusammenhang: "Wir alle, alle Menschen dieses Schtaates, sind kleine und größere Rädchen; jeda hat an seihm Platze seine Uffjabe zu erfüllen, niemand ist unwichtich!" Irma hatte mit schiefem Mund zugehört und sagte nun: "Fang bloß nich an zu eiern, du schubst sonst den janzen Schdaat aus n Angeln, un denn wirst de rausjeschmissn!" Ich ignorierte ihre Abwertung und bestätigte: "Jenauso is et!"
Manchmal fanden heitere Abende in ihrem Zimmer statt, dazu lud sie einen gewissen Freundinnenkreis ein. Zuerst gab es ein gutes Essen, danach diverse Getränke und mehrstimmige Gesänge. Eine der Freundinnen spielte Gitarre, eine andere Mundharmonika. Da ich die Lieder durch die Wand hindurch hörte, sind mir heute noch zwei davon geläufig: "Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr. Du brauchst kein Hutsalon und auch kein Abendkleid, dann wär der Weg zum Standesamt nicht mehr so weit! Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr!" Von dem anderen weiß ich nur noch, dass es aus mehreren Liedern zusammengesetzt war, die nahtlos ineinander übergingen, wodurch sich ein heiteres Kauderwelsch ergab. Es endete mit den Worten: "Dann hol ich mir einen - - - runter vom Holunderbaum - - - das Ganze war ja nur ein Traum." Jeder Absatz gehörte zu einem anderen Lied, wie an der Melodie zu erkennen war.
Bei DEGUFA arbeitete auch ein Schwarzer; er war als Besatzungssoldat aus Amerika gekommen und hatte eine Berlinerin geheiratet. Er war 1954 ca. fünfzig Jahre alt und wohnte ganz in unserer Nähe, jedenfalls sahen wir ihn häufig, wenn er zur Nachmittagsschicht ging oder von der Frühschicht kam. Familie L. mokierte sich häufig über sein gebrochenes Deutsch, und sie nannten ihn abfällig "det Mohrchen". Als Irma einmal zufällig bei einem derartigen Kaffeeklatsch in unsere Küche kam, fuhr sie energisch dazwischen: "Der heißt nicht "Mohrchen", sondern Abdulla N Taguru!" worauf Grete L. höhnisch erwiderte: "Du bist selba so n Guru!" Ich war stark beeindruckt, dass Irma diesen Mann verteidigte, ohne einen Vorteil davon zu haben. Er hatte niemandem etwas getan. Grete L. hatte kein Recht, abfällig über ihn zu reden.
Die letzte Freundin, mit der Irma längere Zeit befreundet war, hieß Heidi. Sie war der Irma in gewisser Weise sehr ähnlich, trug fast immer Hosen, hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht, dunkelblonde, kurze Locken und große braune Augen. Sie hing wie eine Klette an Irma und war furchtbar eifersüchtig, sogar darauf, dass Irma mit Waltraud und mir in einer Wohnung lebte. Dabei sprach Irma kaum noch mit uns. Die beiden zankten sich oft und lautstark miteinander, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Aber immer wieder vertrugen sie sich miteinander, wobei Heidi in der Regel die Verzeihung Suchende war.
Meine Jugendweihe wurde in Irmas Zimmer gefeiert, weil dort alle Gäste an den Tisch passten, ohne dass viel umgeräumt werden musste. Als Gäste erschienen Gerda, Waltraud, Onkel Erich, für einen kurzen Moment Grete L., besagte Heidi und natürlich Irma und Ida. Es gab Kaffee und Kuchen. Die Stimmung war miserabel. Es war keine Feier, sondern eine Qual für alle Anwesenden. Schweigend wurde der Kuchen vertilgt. Was hätte ich Vierzehnjährige unternehmen sollen? Als der Tisch abgeräumt wurde, sah ich, wie Irma Heidis Brust streichelte. Damit hätte sie meiner Meinung nach warten können, bis sie mit ihrer Freundin allein war. Solange hatte wenigstens ich noch meine Jugendweihe feiern wollen, jetzt war auch für mich der Tag gelaufen. Ich fühlte mich durch dieses Streicheln verletzt und entwürdigt.
Als Ida tot und beerdigt war und ich zu meiner Mutter zog, hat Irma mir meine gesamte Habe auf ihrem Motorroller transportiert, wofür ich ihr sehr dankbar bin, denn so war alles an einem Vormittag zu bewältigen. Wir fuhren dreimal zwischen den Wohnungen hin und her; wenn ich alles hätte tragen müssen, hätte ich mindestens doppelt so oft gehen müssen, allein dreimal mit den vielen Büchern, die ich inzwischen besaß.
Doch ich kam nie auf die Idee, sie zu besuchen; ja, ich ging nie in die Nähe meines einstigen Heims, ich mied es wie die Pest. Irma besuchte auch mich nicht. Ich wäre auch sehr erstaunt über ihren Besuch gewesen und hätte nichts mit ihr reden können. Aber ich hätte mich gefreut. Mit einem Besuch bei mir hätte sie auch meine Mutter anerkannt, es war ja ihre Wohnung, in der ich nun lebte. Irma hat jedenfalls Waltraud besucht, wie ich viele Jahre später erfuhr. Idas Familie waren ihre Adoptivkinder. Sie akzeptierten und mochten einander. Ida war meine Tante, ich ein Kind aus ihres Bruders zweiter Ehe, da hört Familie auf. Oder?
Ich traf Irma noch einmal zufällig 1962 in der Kaufhalle. Sie war betrunken und wir grüßten uns nur im Vorübergehen. Ein paar Monate später erfuhr ich, dass sie verstorben war und ihrem Sarg nur Gerda und Grete L. gefolgt waren.
Irma war einer der wertvollsten Menschen in meiner Kindheit.
Onkel Alfred
1948 heiratete Gerda einen gewissen Alfred G. Nun hieß sie nicht mehr Gerda S., sondern Gerda G.. Er versprach, Waltraud zu adoptieren, aber das kostete Geld und die Mühe, die Adoption bei den Ämtern zu beantragen und durchzusetzen. Das waren die tatsächlichen Gründe für die Nichteinhaltung des vor der Hochzeit gegebenen Versprechens. Alfred schob die Unstimmigkeiten zwischen ihm und der Stieftochter vor.
Waltraud durchschaute mit dem raschen Verstand des Kindes das Wesen dieses Mannes. Ihr Widerstand gegen ihn resultierte nicht nur daraus, dass sie mit ihm die Mutter teilen musste, die ohnehin kaum Zeit für sie hatte. Sie hat ihn zeitlebens nie als Vater angesehen. Er gab das Bemühen, die Kleine für sich zu gewinnen, bald auf und sie bekam schon nach kurzer Zeit nur böse Worte und harte Strafen.
Sie blieb bei ihrer Oma, obwohl die Familie G. längst eine schöne große Wohnung in Pankow hatte. Erst, als sie schon zwölf Jahre alt war, gestattete Alfred, dass sie zur Mutter zurückkehrte. Weil Waltraud nun nämlich weibliche Rundungen annahm, an denen er sich gern erfreut hätte. Da Waltraud ihm keine Annäherung gestattete, musste sie zwei Jahre später wieder zu Ida zurück.
Ich sah Alfred bei unserer ersten Begegnung ebenfalls sehr skeptisch an. Er erschien mir irgendwie düster, irgendwie schleimig, etwa so wie der negative Held eines Märchenfilms. Er lächelte mich an, d.h., er setzte eine freundlich scheinende Miene auf, kniff mir in die Wange, was ich noch nie leiden konnte; ich halte diese Form des Umgangs mit einem Kind für eine Missachtung der kindlichen Persönlichkeit, und hob mich auf seinen Arm. Dafür verzieh ich ihm das Kneifen; ich liebte es sehr, wenn mich jemand auf seinen Arm hob, ganz gleich, wer es war.
Nachdem der Bräutigam der Familie - einschließlich Grete L. - vorgestellt worden war, fragte anderntags Ida: "Wo haste denn deen kennjelernt?"
Gerda (glücklich lächelnd): "Uff n Danzbohn."
Ida und Grete L. (empört): "Wat, uff n Danzbohn?! Aba sowat heirat man doch nich!"
Gerda (verteidigend): "Der is nich so eena, der schpielt in die Danzkapelle!"
Ida (heftig gestikulierend): "Na, det is ja noch schlimma! Eena von de brotlose Kunst! Von wat soll der dir denn aneean, Mensch? Wißte denn dein Leehm lang drockne Brotrindn futtan?"
Gerda (weinerlich): "Der schpielt doch man bloß aahms un am Wochnende in die Kapelle, der aabeit doch in ne Zijarettnfabrik int Büro!"
Ida: (vollkommen besänftigt) "Ach sooo . . ."
Grete L. (gierig): "Denn kricht a doch beschdimmt ooch ma n paa Zijarettn umsonst, wa?
Gerda (erfreut): "Det is mööchlich. Danach ha ick noch ja nich jefraacht. Na, sowat fraacht man ja ooch nich jleich uff n erstn Tach, wat soll n der Mensch sonst von mir denkn!"
Trotz der Aussicht auf kostenlose Zigaretten redeten alle auf Gerda ein: "Meechen, übaleech dir det, ob de deen heiratst, det scheint jetz allet eitel Sonnnschein, aba in n paa Jahre sieht det allet andas aus, denn wißte det villeicht bereun, det de ausjerechnet deen jeheirat hast!" Gerda verteidigte ihre Eroberung mit der Blindheit der Frischverliebten. Ida sagte letztendlich mit einem tiefen Seufzer: "N Reisndn soll man nich uffhaltn. Jerda, det is dein Leem. Mach, wat de willst, aba komm mir nich nachher an un saare, det wir dir nich jewarnt hättn!" Ich hörte bei alldem zu und war gespannt, was dabei herauskommen würde.
Ich dachte so bei mir: "Wat, der komische kleene dünne Mann soll meine hübsche Tante Jerda heiratn? Der - mit seinn unanjenehm birnförmijen Kopp un die ölijen, dünnn kurzn Haare dadruff? Der - mit seine dünnn schiefn Lippn un den dünnn kurzn Hals mit den schpitzn Kehlkopp? Der - mit die niedrije Schtirn un die Haknneese? Der - mit seine dürren Spinnnfinga? Mensch, der sieht ja eem Tier eehnlicha als eem Menschen! Der is janz beschdimmt nich so lieb wie Onkl Bruno!"
Ich wunderte mich, dass die Eheschließung nicht untersagt wurde, nachdem alle dagegen waren. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach, mir war eingeprägt worden, dass alles seine Richtigkeit hat, was Erwachsene tun, und wenn es noch so sehr der Logik widerspricht.
Kurz nachdem Alfred der Ida vorgestellt worden war, hatte er Gerda noch einmal zu einem Tanzvergnügen mitgenommen. Spät in der Nacht kamen sie mit großem Trara in unsere Wohnung. Gerda war so betrunken, dass sie ihm nicht die Adresse ihrer kleinen Wohnung angeben konnte. Er brachte sie also zu uns nach Hause.
Da Gerda einen Schlüssel hatte, mussten sie nicht klingeln. Aber dann begannen die Schwierigkeiten - Alfed sah, dass alle Betten belegt waren und wusste nicht, wohin mit Gerda. Da er von ihr nur ein trunkenes Kichern zur Antwort bekam, zog er die Papiertute und die Knarre aus der Tasche, die für uns Kinder als Geschenke mitgebracht worden waren und weckte uns alle auf mit den disharmonischen Tönen. Ida schimpfte, ich weinte überlaut, und Waltraud hockte verängstigt auf dem Bett.
Irma, die ebenfalls von dem mitternächtlichen Lärm aufgeweckt worden war, kam aus ihrem Zimmer, nahm Waltraud und mich in ihre Arme, tröstete uns, und Ida ging mit Alfred in die Küche, nachdem er uns die Lärminstrumente zugesteckt hatte, wo sie ihn ob der Ruhestörung harsch zurechtwies und ihm erklärte, dass Gerda eine eigene Wohnung hat und wo sich selbige befindet. Gerda bekam unterdessen den zu einem Besäufnis gehörenden "Moralischen" und Irma bemühte sich nun um sie.
Ich betrachtete das alles mit großem Staunen und hoffte, dass der "böse Onkel" sich nie wieder bei uns blicken lassen würde. Meine diesbezügliche Bemerkung am anderen Tag wurde von Ida empört abgewiesen: "Der Alfred wird die Jerda HEIRATEN, du dummet Jör, der WIRD wieda komm, un du wirst jefällichst janz lieb un nett un freundlich zu ihm sein, merk dir det een for allemal!"
Er kam wieder, und er stellte sich weiterhin freundlich. Da ich freundlich, lieb und nett zu ihm sein sollte, kletterte ich auf seinen Schoß. Er machte mit mir "Hoppe Reiter", was ich sehr genoss. So sehr, dass ich nicht genug bekommen konnte, denn nie zuvor hatte mich jemand so hoch hüpfen lassen und danach so tief hinuntergebeugt.
Er hatte bald genug von diesem Spiel, war aber nicht fähig, mir das klarzumachen. So verfiel er auf ein neues Spiel. Es ging genauso wie "Hoppe Reiter", hatte aber einen anderen Text: "Eine kleine Dickmadam fuhr mit der Eisenbahn, Eisenbahne krachte, Dickmadame lachte, lachte, bis der Schaffner kam und se mit zur Wache nahm. Uff de Wache war se frech, batsch, da hat se eene wech!" Und bei "batsch" verpasste er mir eine derartige Ohrfeige, dass ich von seinen Knien abstürzte. Auf mein empörtes Heulen sagte er kühl: "So is det, wenn man nich jenuch kriejen kann!"
Von nun an war ich nicht mehr freiwillig bereit, lieb und nett und freundlich zu Alfred zu sein. Das kam erst Jahre später wieder in Frage, als es niemanden mehr gab, der zu mir lieb und nett und freundlich war, also in meinem achten Lebensjahr.
Nach einem seiner Besuche bei uns, der so lange dauerte, dass ich schon längst im Bett lag, zog ich ihn beim Abschiedsküsschen fest an mich. Er steckte seine Hand unter meine Zudecke und streichelte mich auf nie gekannte Art. Staunend ließ ich es mir gefallen und das Abschiedsküsschen wurde immer länger. Gerda fragte aus dem Korridor: "Wat machste denn da so lange, Coco?" Alfred antwortete begeistert: "Det Kind hier braucht Vataliebe!"
Ich verachtete ihn dafür, denn ich wusste sehr wohl, dass das, was er mit mir tat, nicht das Geringste mit Vaterliebe zu tun hatte, obwohl ich nie Vaterliebe empfangen hatte. Ich begehrte seine Zärtlichkeit jedoch immer wieder, bis zu jenem Tag, wo er es mit mir wie mit einer richtigen Frau tun wollte. Erst von da an suchte nicht ich seine Nähe, sondern er die meine, und ich wusste nicht, wie ich mich dem entziehen könnte. Ich war in der größten Verlegenheit und wagte nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden, denn den Intimbereich zu berühren oder gar berühren zu lassen, galt als die größte Sauerei auf Erden.
Doch zurück zu 1948. Alfred hatte sich bald in Idas Herz geschmeichelt durch Geschenke und gutes Benehmen. Auch lud er uns mitunter zu einem Ausflug ein. Ich erinnere mich u.a. an eine "Herrentagsfahrt" auf einem mit Birkengrün und Wiesenblumen geschmückten Kremser, der von zwei auf Hochglanz gestriegelten Reitpferden gezogen worden war. Mir fiel sofort auf, dass sie viel ansehnlicher waren als die Brauerei-Pferde. Walter L. sagte missbilligend: "So wat macht nur n Kriech möchlich - der Kremsa wird von zwee Reitpferde jezooren!"
In der Zeit, wo wir auf die Nachzügler warteten, streichelte er die majestätischen Tiere und flüsterte ihnen Koseworte zu. Alfred sagte obenhin: "Na und? Die bring uns ooch hin, wo wir wolln!" Walter L. brummte: "Jaja, Kunst jeht nach Brot!", und vergewisserte sich beim Gespannlenker, ob die Rassepferde noch Rennen liefen. Der Zügelhalter erwiderte: "Wo denn, Männeken?“
Ich zuckte zusammen. Wird der jähzornige Nachbar sich diese Anrede gefallen lassen oder gab es jetzt eine Prügelei? Aber Walter L. nahm die respektlose Bezeichnung gar nicht zur Kenntnis, sondern schmuste hingebungsvoll mit den Pferden. Ihr Besitzer sprach weiter: „Die jroßen Rennplätze sin kaputt, die Mänätscha hat der Kriech jefressn, ick kann jetz mit die Pferde nur noch Kremsa fahn, bin schon froh, det se den Kriech übalebt ham so wie ick. Aba . . ."
Er trat näher zu Walter L. und senkte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. Ich wusste, dass ich mich aus den Geheimnissen der Erwachsenen herauszuhalten hatte, weil ich kleines Kind sie ja nicht verstehen kann. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, um nicht den Anschein des Horchens zu erwecken, vernahm aber doch, dass die Stute ein Fohlen geworfen hatte, das durchaus Chancen auf einen Sieg hätte, wenn nur ein Rennen stattfinden würde.
Ich weiß nicht, wohin die Fahrt ging, aber ich weiß, dass sie sehr lange dauerte, dass außer uns und der Familie L. noch andere Leute auf dem Wagen saßen, dass alle sehr fröhlich waren und das Bier und den Schnaps gleich aus der Flasche tranken. Das einzige für mich Erfreuliche auf diesem total überfüllten Fahrzeug war, dass die Leute, die sich zumeist hier erst kennen lernten, alle die selben Lieder sangen.
Am Zielort angekommen, ein Ausflugslokal am Stadtrand, machten wir es uns an einem der wackeligen Gartentische bequem und aßen unsere Bouletten und Würstchen; das war billiger, als wenn wir dort etwas zu Essen bestellt hätten. Der Kellner monierte unser mitgebrachtes Essen, Alfred verwies auf das Schild am Eingang: "Hier können Familien Kaffee kochen" und gab unsere Getränkebestellung auf. Es dauerte eine Weile, ehe der Kellner wieder an unseren Tisch trat. Das Lokal war sehr gut besucht, die drei Kellner hatten alle Hände voll zu tun.
Nachdem Alfred "Prosit!" gesagt hatte, setzte jeder an unserem Tisch das vor ihm stehende Glas an die Lippen. Ich lernte: In einer Gaststätte wird kein Tischgebet gesprochen, "Prosit" genügt. Irma trank ihr Bierglas in einem Zuge leer. Ida sprach tadelnd: "Ej, ej, vajiß deinn Nahm nich!" Irma wischte den Schaum von den Lippen und fragte heiter (in der Annahme, dass es jetzt einen Witz zu hören gibt): "Wieso? Wie heiß ick denn?"
Ida wiegte bedenklich den Kopf: "Haste also schon vajessn. Haste denn wenichstns dein Außweiß mit?" Irma fragte aufsässig: "Zu wat brauch ick hier n Ausweis?" Ida nun: "Haste nich mit? Na, denn bleib ma jetze schön bei uns, wir bring dir denn zu Hause, da kannste dein Nahm denn an de Wohnungsdüre lesn." Irma begriff endlich, dass der Witz auf ihre Kosten ging. Sie stand auf und sagte obenhin: "Ick jeh jetz in n Wald, Pilze schießn." Man machte sie darauf aufmerksam, dass es so früh im Jahr noch keine Pilze gibt, dass sie auch kein "Gewehr" bei sich hat u.v.a.m. Sie winkte lächelnd ab und entschwand.
Für Waltraud und mich war je ein riesiges Glas "Berliner Weiße mit Schuss" bestellt worden. Ich konnte das schwere Glas kaum zu Munde führen. Waltraud sagte nach dem Kosten: "Ih, is det bitta!" Darauf ließ Alfred den Kellner noch einmal mit dem Himbeersaft kommen. Auch ich meldete lautstark meinen Anspruch an, trank das Glas aber nur zur Hälfte leer, dann wurde mir schwummrig.
Ich ging mir die nähere Umgebung anschauen, während die Erwachsenen heiter plauderten. Ich blieb in Sichtweite, damit ich nicht etwa den Abmarsch verpasse. Gerda hatte vor Fahrtantritt gesagt: "Wenn de nich aatich bist, lassn wa dir im Wald, denn fressn dir die Hexn uff!" Endlich fuhren wir heim. Es war so spät geworden, daß ich auf dem Wagen einschlief. Dafür wurde ich natürlich ausgelacht. Damals war ich vier Jahre alt.
Ein andermal fuhren wir an einen großen See, wahrscheinlich an den Müggelsee, wobei wir auch eine Dampferfahrt unternahmen, die bei einem Gartenlokal endete. Wieder bekam ich ein großes Glas "Weiße mit Schuss". Diesmal trank ich vorsichtiger; ich wusste, dass mein Glas stehen bleiben würde, bis ich es geleert hatte, auch wenn noch so viele Wespen darin ertrunken waren.
Ich erinnerte mich an Irmas Freiheit (sie war diesmal nicht dabei) und sagte, dass ich in dem zum Lokal gehörigen Buddelkasten spielen gehe. Man sagte gönnerhaft zu mir: "Ja, jeh du man buddeln!"
Ich kehrte in regelmäßigen Abständen an den Tisch zurück und beobachtete, dass die Stimmung dort immer höher stieg, dass also noch lange nicht an die Heimfahrt gedacht wurde. Nach Einbruch der Dunkelheit stand nach meiner Rückkehr vom Tisch ein Junge im Buddelkasten, der zu mir sagte: "Den Spielplatz hat mein Vata für die Urlauber uffjebaut, aba ick möchte ooch mal hier spieln. Ihr fahrt sowieso mit dem neechstn Dampfa ab, det is neemlich der Letzte."
Ich war tief beeindruckt von der Tatsache, dass ein Junge, der mich um mehr als Haupteslänge überragte, im Buddelkasten spielen wollte und stellte mir die Wunderwerke vor, die er errichten könnte: Eine Burg von Meterhöhe oder eine Stadt mit vielen Brücken und Tunneln, den ganzen Buddelkasten ausfüllend. Ich beneidete ihn und bot meine Dienste an. Aber er sagte, dass seine Freunde jeden Moment kommen und sich sehr wundern würden, ein kleines Mädchen vorzufinden.
So entschloss ich mich, ans Ufer zu gehen, wo vorher die Kinder von den anderen Tischen standen. Ich sah den Wellen zu, wie sie an den Strand leckten, wie sie die Schwebstoffe im Wasser bewegten sowie Blätter und andere Pflanzenteile. Ich fand diese Bewegungen faszinierend. Ich hätte stundenlang auf die Wellen schauen können. Sie regten meine Phantasie an und ich erdachte mir flugs mehrere herrliche Seeabenteuer, vertiefte mich in meine Phantasiewelt und vergaß die Realität. Der Einbruch der Dunkelheit verschärfte meine Phantasie noch. Ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, spielten die großen Jungs im Buddelkasten auch eine Rolle in meinen Seeabenteuern. Sie errichteten keine phantastischen Bauwerke, sondern bewarfen sich mit Sand. Ihre Schreie waren die meiner tapferen Matrosen.
Unter dem Dampferanlegesteg war ein langes Stück fester Boden, hier konnte man praktisch in den See hineinlaufen. Schritt für Schritt ging ich langsam diese Landzunge entlang, und versank immer mehr ins Träumen. Plötzlich fühlte ich mich heftig an den Haaren gepackt. Es war Alfred, der mich anbrüllte: "Du blödet Kamel, wat fällt dir ein, so weit weg zu loofn, det wir dir nich mehr sehn? Wir dachtn schon, du bist asoffn!"
Ich war zu erschrocken, um zu weinen, und ich fühlte mich unendlich schuldig. An den Tisch zurückgekehrt, wurde er als der strahlende Held gefeiert, der das "verlorene Kalb" zurückbrachte und ich wurde von allen Seiten beschimpft. Es wurde eine neue Runde bestellt. Wir verpassten den letzten Dampfer. Da noch einige Wanderer unser Schicksal teilten, telefonierte der Gastwirt nach einer Fähre.
Auf dem Heimweg machte ich mich so klein und unauffällig wie irgend möglich. Ich sagte erst wieder am Anlegesteg etwas, und das kam so: Unter den Fahrgästen war ein Buckliger, der eine "Teufelsgeige", ein Krückstock war mit einer Saite bespannt und mit vielen Klingeln und Hupen bestückt, mit sich führte und zu unser aller Unterhaltung darauf spielte. Herzhaft wurde über seine Grimassen und über die schrillen Töne gelacht, und immer wieder verlangte man neue Melodien zu hören und steckte ihm Geldscheine zu. Beim Absteigen vom Dampfer ließ er das sonderbare Instrument in den See fallen. Erschrocken rief ich aus: "Nu is et wech!" Es tat mir sehr leid, dass der Mann das Gerät seines Broterwerbs verloren hatte. Alfred tröstete mich: "Det macht der jedet Jaah. Neechstet Jaah bastelt a sich n neuet." Nun sah auch ich die Sache heiter. Am nächsten Tag noch tobte Ida: "Dir nehm wa det neechstema nich mit uff de Dampfafaat!" Aber diese war die letzte.
In der nächsten Zeit erwies sich Alfred als sehr tüchtig. Er bot an, unsere Wohnung zu renovieren, wir könnten solange bei Gerda schlafen, so hätte er freie Hand und wäre schneller fertig. Die Küche bekam ein flaschengrünes Paneel, darüber strahlendes Weiß, auch die Decke erhielt dieses Weiß, es war nun viel heller in der Küche. Der Flur bekam den billigsten Anstrich, der möglich war in der damals modernen Wickeltechnik. Hierzu wurde ein Lappen in Farbe getaucht und zusammengeknüllt. Rollte man den Lappen über die Wand, entstand ein skurriles Muster, das auf mich sehr Phantasie anregend wirkte. Wenn ich mich einsam fühlte, brauchte mich jetzt nur in den Flur zu stellen und auf die Flecken zu starren, bis ich Gesichter und Gestalten erblickte, mit denen ich mich unterhalten konnte.
Die Stube war mit einer grässlichen Tapete beklebt worden - große, bunte Blumensträuße, von einem goldenen Rautenmuster eingefasst. Einen dieser Sträuße hätte ich schön gefunden, aber vier Wände voll? Das war mir zuviel. Ich schüttelte den Kopf. Niemand bemerkte es, also wurde ich nicht befragt und musste nicht sagen, wie überladen die Stube mir erschien.
Alfred sagte nach Idas Befallensbekundung, dass es gar nicht so leicht war, die Tapete "auf Muster" zu kleben, und dass er sehr viel wegwerfen musste. Er musste sogar noch zwei Rollen Tapete nachkaufen und war froh, gleich im ersten Geschäft das gesuchte Muster zu bekommen, sonst hätten wir noch einen Tag länger bei Gerda schlafen müssen. Die kupfernen Gardinenstangen hatte er durch moderne Holzleisten ersetzt, die Übergardine aus schwerem Samt durch einen Deko-Stoff, so wirkte auch die Stube heller als zuvor. Aber ich trauerte um den romantischen Samt mit seiner Jugendstil-Verzierung, wenn er auch an einigen Stellen abgeschabt war. Die Kupferstangen brachten beim Altstoffhandel noch ein paar Markstücke ein, so war Ida überaus zufrieden mit der Renovierung.
Zur Verschönerung des Schlafzimmers kaufte Alfred 1950 ein Gemälde, das Gerdas "Engelsreigen" ersetzte. Auf dem "Engelsreigen" waren acht blumenbekränzte Mädchen in losen, luftigen, pastellfarbenen Gewändern zu sehen, die auf einer blühenden Wiese im Sonnenlicht tanzten. Er wurde verheizt. Das neue Gemälde zeigte eine Waldlichtung, auf der Räuber beim Schmaus saßen. Am rechten Bildrand waren die ausgeraubten Leute abgebildet: Zwei ermordete Edelmänner unterschiedlichen Alters und zwei geschändete Frauen mit entblößten Unterleibern. Eine wandte ihren Blick klagend gen Himmel, die andere hatte den Kopf tief gesenkt. Dieses Bild gefiel allen, nur Waltraud und mir nicht. Wir waren ja auch nur "dumme Jörn".
Alfred besaß ein altes Grammophon mit Trichter und Kurbel. Wenn man eine Platte aufgelegt hatte, musste man tüchtig die Kurbel drehen, damit sich der Teller in Bewegung setzt. Dieses fabelhafte Gerät zog mich magisch an. Doch kaum war ich in seiner Nähe, wurde ich auch schon angeherrscht, dass meine Pfoten an dem Apparat nichts zu suchen haben. Oft wurde das Grammophon bei Familienfeiern in Gang gesetzt. Da konnte ich, wenn der Alkoholspiegel eine gewisse Höhe erreichte, ganz aus der Nähe zusehen, wie die Scheibe sich drehte, wie die Platten gewechselt wurden und wie die Nadel in der Rille sprang. Ich fand es aufregend, dass die Töne in der Rille saßen. Die Melodien rauschten an mir vorüber, ich habe mir nur wenige gemerkt, "Caprifischer" z.B., ich weiß nur noch, dass die Texte durch das Laufgeräusch der Platten kaum zu verstehen waren.
Als ich lesen konnte, habe ich mir heimlich alle Platten angesehen und bemerkt, dass auf vielen ein heulender Hund abgebildet war. Das war mir völlig unverständlich, aber ich fand es lustig. Ich fragte nicht mehr: "Warum?", ich war zu oft abgewiesen worden. Ich las die Aufschriften auf den Platten. Ein Titel erschien mir äußerst sonderbar: "Chattanooga Choo Choo". Es war gerade zu der Zeit, als wir in der Schule über die Worte mit den doppelten Vokalen sprachen, daher blieb dieses fremdartige Wortgebilde bei mir haften. Ich bat Alfred, mir die Platte vorzuspielen, aber er sagte: "Der Apparat is schon zu alt." Da bat ich ein paar Tage später Gerda, und sie antwortete: "Wozu willst de denn die olle Neejamusik hörn?"
Kurz darauf kauften sie sich einen modernen Plattenspieler, wo nicht mehr eine ca. 2cm lange Nadel durch die Rille sprang, sondern auf einer sehr dünnen und flachen Rille ein Saphir dahin glitt. Es mussten neue Platten angeschafft werden, die alten waren unbrauchbar. Auf den neuen Platten war auch einer der ältesten Titel von Peter Kraus zu hören: "Auf der Insel Phillallilla, dort im Märchenland, am weißen Palmenstrand, ein junges Mädchen stand, sie wollte den einen, aber sonst keinen, in der blauen Mondnacht wiedersehn, und nicht mehr von ihm gehn, er sang so schöhön. Er sang sein akhula, khula, khula Liebe, die schenk ich dir, mai Daahling heut Nacht, wenn der Mond uns bewahacht! Akhula, khula, khula Beeebi, du weißt ja ga nich wie klücklich khula Liebe macht, kja, kja, kja!"
Was habe ich mich über dieses Lied geärgert! Es klang, als würde der Sänger jeden Moment kotzen. Und das sollte ein Liebeslied sein? Alfred konnte kaum genug bekommen von diesem "kja, kja, kja". Ich war enttäuscht. Grenzenlos enttäuscht.
Den "Chattanooga Choo Choo" hörte ich fünfundzwanzig Jahre später im Radio. Ich erkannte ihn an der Übersetzung ins Deutsche: "Verzeihen Sie, mein Freund, ist das der Chattanuga Chu Chu . . ." (von der Freundin meiner Mutter hatte ich gelernt, dass im englischen das doppel "o" wie "u" gesprochen wird) und ich erinnerte mich, dass zu diesem Lied bei unseren Familienfeiern die unglaublichsten Verrenkungen gemacht wurden.
1953 hatte Alfred endlich das Geld für ein Auto zusammen. Die Familie hatte es sich buchstäblich vom Munde abgespart. Ich weiß nicht, um welchen Typ es sich handelte, ob es ein "Trabant" oder gar ein "Wartburg" war. Autos sind für mich Luxusgegenstände. Alfred und Gerda besuchten uns eines Tages, und aus ihren strahlenden Gesichtern war zu ersehen, dass sie eine freudige Mitteilung zu machen hatten. Ida sollte raten, worum es sich handelte. Sie tippte entzückt zuerst auf eine Schwangerschaft, denn sie hätte sehr gern ein weiteres Enkelkind - diesmal sogar aus einer rechtskräftigen Ehe! gehabt, dann wich das Entzücken und sie vermutete eine besser bezahlte Arbeitsstelle und zuletzt einen Lottogewinn, denn Alfred spielte jede Woche Fußballtoto.
Es war alles falsch geraten. Alfred führte uns auf den Balkon, wo er uns mit großem Stolz sein funkelnagelneues Auto zeigte. Nun lud er uns ein, mit hinunter zu kommen und das Prachtstück aus der Nähe zu sehen.
Ich lief allen voraus, ich wollte die erste sein, die das Glück mit Alfred teilte. Ich stürzte auf das Auto zu, streichelte es und jubelte: "Du schönet neuet Auto, du!" Im Nu war Alfred mit langen Sätzen auf mich zugesprungen, riss mich am Oberarm zur Seite und brüllte: "Wirßte woll deine Mistpfoten von det Auto nehm, du Trampel!"
Es nützte mir nichts, zu sagen, dass ich die Hände vorhin erst gewaschen hatte. In den folgenden Tagen verhöhnten mich meine Schulkameraden ob der blauen Flecke, die ich durch Alfreds hartem Griff davongetragen hatte.
Ich erinnere mich nicht daran, jemals in dem Auto gesessen zu haben. Die "Testfahrt" fand mit Ida, Gerda und Waltraud statt. Wenn ich etwa doch dabei gewesen war, so ist mir jegliche Erinnerung daran entschwunden. Ich weiß nur noch, dass ich das Auto nicht hätte anfassen dürfen. Autos sind nicht für Kinder. Und schon lange nicht für Mädchen. Autos waren in Zukunft für mich "Tabu". Ich kann mir bis zum heutigen Tag bestenfalls die Farbe, sehr selten aber die Marke eines Autos merken.
Im Sommer 1952 durfte ich mit Alfred und Gerda eine Urlaubsreise nach Buckow, Märkische Schweiz, unternehmen. Die Reise war schon im Vorjahr von Alfred geplant und bezahlt worden. Er hatte Gerdas Einverständnis vorausgesetzt und das Ganze für eine nette Überraschung gehalten. Aber Gerda hatte für ihn auch eine nette Überraschung, nämlich eine Erholungskur für Waltraud, ebenfalls gleich bezahlt. Dass sie ausgerechnet zur selben Zeit stattfand, konnte Gerda nicht ahnen, so kam ich in den Genuss.
Wochen vor Fahrtantritt wurde ich dazu angehalten, ganz besonders artig zu sein, weil sie mich sonst nicht mitnehmen würden. Ich durfte mir auch nicht das allergeringste zuschulden kommen lassen; das war der reine Stress und kostete mich große Selbstbeherrschung. Ich unterdrückte meinen Spieltrieb, folgte jeder Anweisung und bemühte mich, niemals ungefragt den Mund aufzumachen.
Einmal war ich aber doch auf die Straße gegangen, um zu sehen, ob die "Knallerbsen" schon reif waren. Beim Griff in die Sträucher stach mich eine Wespe in die Hand. Natürlich wuchs mir eine dicke Beule. Gerda sagte: "Na, wenn det nich heile is, bevor wir faan, denn kannste nich mitkomm!"
Ich freute mich riesig auf die Fahrt, sie war eine herrliche Abwechslung. Ich tat alles, um die Schwellung abklingen zu lassen. Ich wusste, dass dies meine letzte Ferienreise sein wird. Waltraud hatte kürzlich zu ihrer Mutter gesagt, dass sie nicht mehr mit mir zusammen ins Kinderferienlager geschickt werden möchte, und Gerda hatte ihr geantwortet meiner Gegenwart nicht achtend, denn kleine Kinder verstehen ja nichts, dass sie derartiges nicht mehr zu befürchten habe, sie wird ja nun vierzehn, da ist sie für ein Kinderferienlager zu alt. Ohne Waltraud hätte Ida mich nie auf Reisen gehen lassen.
Das Schönste in Buckow waren die Spaziergänge. Ich genoss die Natur und die reine Luft. Ich hielt mich fern von Alfred, weil er fast immer rauchte beim Spazierengehen. Nach meinem Empfinden verbreitete er Gestank. Gewöhnlich führten die Spaziergänge zu einem Lokal, wo wir zu Mittag aßen. Zu Hause hatte Gerda sich vergewissert, dass ich mit Messer und Gabel essen konnte. Hier achtete sie nun streng darauf, dass ich diese Werkzeuge wirklich ordnungsgemäß benutzte, wodurch die Mahlzeit länger ausfiel als nötig.
Ich aß, weil ich sollte, und nichts schmeckte mir; erst recht nicht das Sonntagsessen: Es gab Aal grün, das Teuerste, was das Lokal zu bieten hatte. Mir war der Fisch zu schlangenähnlich, zu tranig und zu fett, die Haut zu hart, die Soße zu scharf, und ich konnte nicht verstehen, dass das etwas "Gutes zu Essen" sein sollte. Auch ekelte ich mich heftig vor seiner grünen Gräte. Schimpfend aß Alfred meinen Aal auf. Wieder einmal war ich "das blöde Gör".
Auf einem der schönen Spaziergänge bemerkten wir etliche Waldvögel. Ich lauschte verzückt ihrem Zwitschern und bewunderte ihre Flugkünste. Versonnen sagte ich letztendlich: "Ach ja, Vooorel müsste man sein!" Gerda prustete: "Reicht det nich, det du een HAST?"
Alfred hatte einen Fotoapparat mit auf die Reise genommen. Eines der auf den Spaziergängen geschossenen Fotos besitze ich noch. Ich freute mich damals darüber, dass wir uns auf einer Treppe befanden, da konnte ich mich ein paar Stufen höher stellen als Alfred. Nach seinen intimen Zärtlichkeiten betrachtete ich mich als seine Nebenfrau und wollte ebenso groß scheinen wie er . . .
Wir wohnten in einer Privatpension bei einer Familie mit zwei Kindern, Tochter und Sohn, sie waren zwei bzw. vier Jahre älter als ich. Als wir dort ankamen, wurden die Kinder von ihrer Mutter beauftragt, mit mir zu spielen und mir die Umgebung zu zeigen. Ich war nur zwei mal mit ihnen zusammen, am ersten Tag, wo sie mich tatsächlich durch den Ort führten, und an einem Regentag, wo sie keine Lust zum Stromern hatten.
Sie fragten mich über Berlin aus, und es stellte sich heraus, dass sie aus Erzählungen anderer Urlauber mehr über meine Heimatstadt wussten als ich. Aber ich war ja erst sechs Jahre alt, da verziehen sie mir gnädig die Unkenntnis.
Wir verbrachten fast den ganzen Tag miteinander, Gerda und Alfred waren nämlich zu einem "Erwachsenenvergnügen" in einen Nachbarort gefahren. Irgendwann musste ich meine Blase entleeren. Ich wusste nicht, wie man aus diesem Teil des Hauses zum WC kommt. Die Kinder antworteten: "Det is n janz schön langer Weech bis zum Klo. Wenn wir mal müssen, jehn wa uff de Wassaleitung."
Das kannte ich auch von den Kindern der Familie L.. Damit meine Hose trocken blieb, ließ ich mir von ihnen auf den Ausguss helfen. Am Abend stellte Gerda fest: "Mensch, du hast ja n janz schwarzn Aasch!" Ich dachte, dass sie mich wieder einmal veräppeln wollte und lachte sie aus. Sie wurde zornig: "Hör uff zu kichan, azeehl ma lieba, wo de dir so mißtich jemacht hast, du altet Ferkel!"
Nun besah ich mein Hinterteil und stellte fest, dass sich tatsächlich ein breiter schwarzer Streifen darauf befand. Er konnte nur vom Ausguss stammen. Ich berichtete wahrheitsgemäß über den Vorfall. Gerda wusch mich und Alfred warf am anderen Tag der Wirtin vor, einen furchtbar dreckigen Haushalt zu haben und auch sehr schlecht erzogene Kinder. Die Kinder bekamen Hiebe dafür, dass sie mir nicht den Weg zur Toilette gezeigt hatten und ich begegnete ihnen nie wieder.
Ein paar Tage später fuhren Gerda und Alfred wieder zu einem "Erwachsenenvergnügen". Sie setzten voraus, dass ich meinen Tag auch alleine gestalten könnte. Ich nickte heftig: "Ja, ick weeß, wat ick dürf, ick paß uff mir uff, ick mach keene Deemlichkeitn!"
Aber ich fühlte mich dann doch sehr allein und wusste nicht, was ich tun sollte. Ins Zimmer konnte ich nicht, Alfred hatte den Schlüssel bei der Wirtin abgegeben, damit sie das Zimmer nach unserem Fortgehen reinigen konnte. Ich kannte den Weg zum Spielplatz doch nicht so ganz genau und fürchtete auch, dort Kindern zu begegnen, die "angestammtes Recht" auf den Spielplatz hatten und schloss mich letztendlich - nachdem ich eine Weile verloren auf der Treppe saß - dem Opa der Wirtsfamilie an, der zum Heuen ging.
Er war etwas jünger als Ida, ich hoffte, viel von ihm lernen zu können. Ich lief munter neben ihm her und fragte ihn über alles aus, was es zu sehen gab. Er konnte sehr gut erzählen von der Geschichte des Ortes und von seinen Einwohnern. Ich lernte an jenem Tag sehr vieles. Meine Fragen wurden ihm nicht über, oder er beherrschte sich, mir das zu sagen.
Wir lachten viel miteinander über Wortspiele und erzählten uns Witze. Es machte mich glücklich, ihn zum Lachen zu bringen, noch glücklicher aber war ich darüber, dass er sich Mühe gab, mich zum Lachen zu bringen.
Auf der Wiese angekommen, sagte er mir, wieweit ich mich dort bewegen darf und ich hielt mich an diese Grenzen. Ich setzte mich ins Gras, spielte mit den Halmen und mit den kleinen blasslila Blümchen, die dort blühten. Ich beobachtete auch hier die kleinen Tierchen, die auf jeder beliebigen Wiese leben und freute mich des Sonnenscheins.
Die Wiese war von einer Seite von Häusern begrenzt, links und rechts von Wald, und an der den Häusern gegenüberliegenden Seite von einem kleinen See. Ich fragte den Opa, ob ich mir den See ansehen darf. Er vergewisserte sich, dass ich ganz bestimmt nicht in das Wasser hineingehen wollte und gestattete mir dann, an den See zu gehen. Er war von dunkler Färbung und lag ganz ruhig. Nur in der Mitte kräuselte der Wind das Wasser ein wenig.
Der See erschien mir wie ein düsterer Schlund. Einen Meter vom Ufer entfernt schaukelte ein rostiger Nachen. Ich wollte wissen, wem er gehört und warum er nicht instand gesetzt wird. Der Opa beantwortete abermals alle meine Fragen geduldig und ausführlich. Ich war sehr begeistert von ihm und sagte ihm, dass ich ihn sehr, sehr lieb hätte. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er sich mir nun sexuell genähert hätte; ich hätte ihn gewähren lassen, das ist der Gang der Welt: "Die Mädchen sind zum Lieben da". Ich war ein Mädchen und wollte geliebt werden. Aber er lächelte: "Ick habe eine umfangreiche Familie. Meine Töchter und meine Söhne haben mir so viele Enkel bescheert, dass ick damit alle Hände voll zu tun habe. Ick kann dich nich in mein Herz uffnehm, du bleibst für mich ein Urlauberkind, ein liebet, nettet Urlauberkind."
Abends berichtete ich begeistert von dem "lieben Opa". Gerda und Alfred sagten entsetzt: "Mensch, du kannst doch n fremdn Mann nich bis ufft Hemde ausfraren! Wat denkst du dir bloß in dein blödn Jeist! Un denn ooch noch "Opa" saaren! Det is doch nich DEIN Opa!"
Ich suchte mich wenigstens in dem letzten Punkt zu verteidigen: "Aba zu Oma saaren doch ooch alle Oma!" - "Det is wat janz wat andret!", hieß es nun, und: "Jenade dir Jott, wenn de noch mal zu den Altn jehst!"
Ich begegnete ihm nur einmal noch im Hausflur, wo er mir einen Gruß zuwinkte, und ich war froh, als der Tag der Abreise da war. Auch Gerda und Alfred sagten: "Na, Jottseidank jeht et nu wieda nach Hause! Zu Hause is et doch am schönstn!" Ich fragte mich, wozu wir verreist waren.
Ich war sieben Jahre alt, als Alfred mich zu einem Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft "Herta BFC" mitnahm. Ich freute mich riesig, denn wir fuhren quer durch die Stadt zu einem Ort, den ich sonst nie kennen gelernt hätte. Da gab es mit Sicherheit viel Neues zu sehen!
Wir mussten mehrmals umsteigen. Während der Fahrt machte ich ihn auf jedes auffällige Bauwerk aufmerksam und fragte: "Wat is n det for n Haus?" Anfangs versuchte er noch, logische Antworten zu finden, dann aber sagte er unwirsch: "Jeh mir doch nich so schrecklich uff de Nerven, Mensch!" Übrigens erhielt ich von ihm generell die abweisendsten Antworten in meinem Leben. Von diesem Erwachsenen lernte ich entschieden weniger als von der von ihm verachteten Waltraud.
Beim Umsteigen hüpfte ich ausgelassen neben ihm her, bis er mich anherrschte: "Mein Jott, kannst de dir denn übahaupt nich benehm?" Ich wusste nicht, inwiefern ich mich danebenbenahm. Aber vielleicht hüpfte man nicht auf der Straße, wenn man an der Hand eines Mannes ging, der einen begehrte? Ich nahm die Lehre an und hüpfte nie wieder in seiner Gegenwart.
Das Fußballspiel interessierte mich schon nach wenigen Minuten nicht mehr. Es war Alfred nicht gelungen, mir die Spielregeln zu erklären. Fußball stellte sich mir so als eine Männerdomäne dar, wo Frauen nichts zu suchen haben, bestenfalls als schmückendes Beiwerk, und auch das nur unter Vorbehalt.
Ich begriff nur, dass es ein sehr wichtiges Spiel war, so nahm ich mich zusammen und versuchte, dem Geschehen zu folgen. Das war nicht leicht, denn die Spieler trugen alle weiße Trikots. Sie waren nur an den Hosen zu unterscheiden; die eine Mannschaft trug schwarze und die andere blaue. Da es ein sehr dunkles Blau war, musste man schon sehr genau hinsehen. Es war für mich unfassbar, dass sich dort auf dem gepflegten Rasen so viele erwachsene Männer um einen Ball rauften!
Alfred und alle anderen Besucher verfolgten das Spiel sehr aufmerksam und spendeten Beifall, wenn ein Schuss besonders gut gelungen war. Was ein guter Schuss ist, wusste ich somit, und klatschte dann auch, als ein Spieler den Ball über den ganzen Platz schoss. Aber es war ein Spieler der gegnerischen Mannschaft, und ich wurde nun von dem Fanclub der "Blau-weißen Herta" angefeindet. Einer der Fans sagte tadelnd zu Alfred: "Is ja janz niedlich, die Kleene, aba ob se wirklich hier herjehört?"
Nun verbot Onkel Alfred mir jegliche Reaktion: "Wenn de nischt von det Schpiel vaschtehst, denn kannst de ooch nich klatschen, klar?!"
Ich blickte nun nicht mehr auf den Rasen, sondern sah mir die Zuschauer an. Es waren fast ausschließlich Männer, zumeist unangenehme Typen mit rohen Gesichtszügen. Ich hatte das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein. Ich sehnte das Ende des Spieles herbei. Aber nach einer mir endlos scheinenden Zeit war erstmal nur Pause.
Da ich großen Durst hatte, bat ich Onkel Alfred, mir eine Brause zu kaufen. Ich sah ein leichtgeschürztes Mädchen mit einem Bauchladen herumlaufen und Getränke feilbieten. Er antwortete mir in einem Tonfall, als wäre ich völlig blöd: "Wat denkst du denn, wo wir hier sind?! Ick hab doch keen Westjeld!"
Ich hatte nicht vergessen, dass wir uns im Westteil der Stadt befanden. Am Eingang des Fußballstadions hatte er mir einen Lutscher mit Lakritzgeschmack gekauft, den ich gar nicht haben wollte; ich mag keine Lakritze, ich finde ihren Geschmack ekelerregend, und ich ließ den Lutscher nach wenigen Metern fallen. Da er mir den Lutscher aufgedrängt hatte, obwohl ich deutlich zu verstehen gab, dass ich so etwas nicht esse, dachte ich, dass er viel Geld mitgenommen habe.
Nun winkte er aber doch die Verkäuferin herbei, kaufte sich eine Coca Cola und gab mir einen Schluck ab. Das warme, süße Zeug verursachte mir noch größeren Durst. So ergab ich mich in mein Schicksal. Ich verdrängte den Durst und setzte mich für die zweite Halbzeit auf die Erde, wo ich mit Sand und Steinchen spielte, die Zigarettenkippen warf ich eine Stufe tiefer.
Ich blickte nur dann kurz auf das Spielfeld, wenn die Fans enthusiastisch sangen: "Blau-weiße Herta . . ." und andere Fußballslogans, bis Alfred sagte: "Komm, wir jehn jetz, det Schpiel is jleich zu Ende, un wenn jetz noch n Wunda jeschieht, denn schteht det morjen in ne Zeitung, los, wir beeiln uns, det wa zum Ausjang komm, wenn se alle jehn, denn wern wa dotjetrampelt!"
Die Idee, früher zu gehen, hatten noch einige andere; es herrschte ein heilloses Gedränge am Ausgang, wir kamen mit Mühe und Not hinaus. Auf der Heimfahrt stauchte Alfred mich noch einmal dafür zusammen, dass ich für die falsche Mannschaft geklatscht hatte; nun sagte ich ihm meine Meinung, dass Leistung Leistung ist und also honoriert werden sollte. Er nannte mich dafür einen unverbesserlichen Phantasten, einen von jener Sorte, die der Welt mehr schaden als nützen.
Seine Unfreundlichkeit kränkte mich zutiefst. Und mir wurde erst sehr spät klar, dass er mich nicht auf den Fußballplatz mitgenommen hatte, um mir eine Freude zu machen oder um mich etwas zu lehren, sondern nur, um sein ungehöriges Interesse an mir zu vertuschen. Ida und Gerda glaubten nun nämlich, dass er mich wirklich gern hat und mir die Welt zeigt. Sie hatten nichts dagegen, dass er mit mir allein war. Sie kamen nicht auf die Idee, dass er mir an die Wäsche gehen könnte.
Jedenfalls war Alfred der Meinung, dass jeder, der Kinder in die Welt setzt, verantwortungslos handelt. Weil diese Kinder nur leiden würden. Sie würden leiden an der Gesellschaft, an diversen Krankheiten, an ihren eigenen Vorstellungen.
Deshalb hätte er jedem Manne gern befohlen: "Zeuge nicht!" Und jeder Frau: "Gebäre nicht!" Mit dieser Einstellung blieb ihm nur Sex mit Minderjährigen. Hätte er sich fortgepflanzt, was wäre seinen Nachkommen geblieben?
Alfred war kein Vatertyp, Gerda nicht die geborene Mutter. Wenn sie von Alfred schwanger wurde, hat sie von Grete L. abtreiben lassen. Ich weiß nicht, wie oft und will es auch nicht wissen. Der Sexualtrieb ist natürlich, wenn er auch noch so sehr von der Religion verdammt wird. Alfred wollte den Niedergang der Menschheit, aber nicht auf seinen Trieb verzichten. Er war der dritte Mann, den ich Nachkriegskind in voller Lebensgröße kennen lernte. Ich belächelte seine Ideologie, aber er streichelte mich. Und ich genoss es. Und ich wusste, dass es ungehörig war. Aber es streichelte mich doch sonst niemand, nicht einmal mit Worten.
Nach Onkel Brunos Tod waren Männer für mich ein Wunderwerk der Natur. Ich wusste, dass sie für die Fortpflanzung unbedingt notwendig sind, damit Frauen Kinder zur Welt bringen. Die Männer verfügen dann darüber. Mich schreckte der Gedanke, dass es vielleicht nicht mehr lange dauert, bis Kinderpornos salonreif werden. Es verlangt den Männern danach, also werden sie es erreichen. Damals war ich acht Jahre alt.
Die Moabiter
Idas Ziehsohn und Neffe, Bruno S., war im Krieg ausgebombt worden. Die Familie fand Unterkunft in so genannten Nissenhütten in Berlin-Moabit, daher wurden sie von da an "die Moabiter" genannt. Regelmäßig besuchte Ida sie. Diese Besuche waren für mich eine gesuchte Abwechslung, aber nicht gerade die reinste Freude.
Wir fuhren mit der Straßenbahnlinie 3 bis zur Endstation "Bornholmer Straße", wo wir eilends über die "Millionenbrücke" liefen, um die Anschlussbahn im Westen zu erreichen. Das war für mich eine ziemliche Strapaze. Auf der Brücke war es so eng, dass kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten. Ida kam mit mir an der Hand nicht so schnell vorwärts, wie manch ein rücksichtsloser Jüngerer es gerne gehabt hätte, so wurden wir oft unsanft angestoßen, zumal wir auch stets umfangreiches Gepäck mit uns führten (Geschenke für "die Moabiter" sowie Kochtöpfe und andere Dinge, die Bruno reparieren sollte).
Dann fuhren wir noch eine ganze Weile mit der Straßenbahn, bis wir am Ziel waren. Die Straßenbahnfahrt wurde für mich bald langweilig; immer nur auf Ruinen zu gucken ist nicht gerade erbaulich für ein kleines Kind. Ich fragte mehrmals ungeduldig: "Wenn sinn wa denn nu endlich da?" Ida antwortete: "Bald." Ich wurde richtiggehend wütend, wenn sich herausstellte, dass "bald" erst nach zehn Stationen war! Konnte sie denn nicht die Wahrheit sagen? Für mich war "bald" schlimmstenfalls die dritte Station, eine Fahrt über zehn Stationen, auf ihrem Schoß sitzend, ohne von ihr unterhalten zu werden, war eine Zumutung für mich. Ich sollte stillsitzen und abwarten, während draußen die Stadt an mir vorbeizog, ohne dass ich jemals erfragen durfte: "Warum ist dieses Haus höher? Warum hat jenes Haus breitere Fenster? Warum sind in dieser Straße alle Häuser ganz geblieben? Wohnen hier andere Menschen, als wir es sind?"
Ich war drei Jahre alt, als wir einmal einen schweren Sturm in Moabit erlebten. Er kündigte sich mit Blitz und Donner an, der Himmel verdüsterte sich, und Tante Lotte sagte: "Schnell, helft ma alle mit, die Wäsche und die Jartenmöbel rinzuholn!" Ich brauchte dabei natürlich nicht mitzutun, ich war ja noch viel zu klein und allen nur im Wege. Als alles Brauchbare im Haus war, blieb die Tür noch einen Moment offen, denn der Letzte, der hereinkam, hatte keine Hand frei, um sie zu schließen. Ich stand auf der Schwelle, hielt mich am Türrahmen fest und beobachtete das nie gesehene Unwetter. Plötzlich warf der Wind die Tür zu und klemmte meine Finger ein. Ich war so erschrocken, dass ich nicht einmal schreien konnte. Ich trug die schmerzende Hand zu Onkel Bruno, der sofort sah, was geschehen war. Er pustete auf meine geschwollenen Finger und verband sie mit weichem Mull. Seine Fürsorge war unerhört wohltuend für mich. Die Hand blieb tagelang im Verband. Danach konnte ich beobachten, wie sich von drei Fingern die Nägel lösten. Der Nagel des Ringfingers wuchs in zwei Hälften nach, aber auch dagegen hatte unser Hausarzt ein Mittel parat. Erst seit 1991, wo wir das "minderwertige" DDR-Essen nicht mehr bekommen und dafür das "gute" Westessen haben, spaltet sich der Nagel wieder . . .
Das einzig Wichtige in Moabit war für mich Onkel Bruno. Er war lange Zeit der einzige Mann, den ich kannte, und entsprechend liebte ich ihn. Sobald ich seiner ansichtig wurde, flog ich ihm an den Hals und konnte nicht genug davon bekommen, von seinen kräftigen Armen hochgeworfen und wieder aufgefangen zu werden. Ich jauchzte dabei und küsste und herzte ihn, wie ich nur irgend konnte und kümmerte mich nicht im Geringsten darum, dass seine Kinder mit langen Gesichtern zusahen. Er war MEIN ONKEL. Er war nach meiner Meinung dazu verpflichtet, mich lieb zu haben. Und seine Kinder hatten ihn ja täglich, aber ich hatte ihn nur ein paar Minuten. Dennoch waren sie arg böse mit mir, dass ich mir erlaubte, ihren Vater so zu überfallen. Versteht sich, dass sie mir alles zufleiß taten, was sich unauffällig tun ließ. Auch seine Frau rügte mein Benehmen. Sie war eine ernste, resolute Person, häufig sehr streng mit ihren Kindern. So streng, dass ich zu der Überzeugung kam, dass es ganz bestimmt besser ist, von einer OMA erzogen zu werden, als von einer Mutter.
An einem warmen Frühlingstag im Jahre 1948 - ich war also gerade vier Jahre alt - ging Ida mit mir und Grete L. zum Friedhof, das Grab ihres Mannes zu gießen. Grete L. hatte sich erboten, gegen ein geringes Entgelt diese Pflicht für den Sommer zu übernehmen und sollte nun erfahren, wo es sich befindet. Zwischen den alten verwilderten Gräbern hatten Singvögel ihre kleinen Nester gebaut, und immer wieder hüpfte solch ein Vöglein vor uns her, um uns von seinem Nest abzulenken.
Ich lief den Vögeln nach, um sie zu betrachten. Ida sagte: "Die Vöjel sin ville zu schnelle, die krichste nich!" und ehe ich noch sagen konnte, dass ich sie gar nicht fangen will, erklärte Grete L.: "Du musst wartn, bis eena janz schdille sitzt, denn kannste ihm Salz uff n Schwanz schtreun, un denn kannstn fang!" Ich blickte fragend zu Ida. Sie verkniff sich das Lachen und nickte. Die Vorstellung, einen Vogel auf der Hand sitzen zu haben und ihn ganz in Ruhe betrachten zu können, reizte mich sehr. Doch ich gab zu bedenken: "So n Vorel sitzt janz beschdimmt nich schdille!" Grete L. hatte inzwischen ihren Gedankengang weitergesponnen und sagte: "Det is bei die Männa ooch so, wenn de deen Salz uff n Schwanz schdreust, denn haste se for alle Zeit jefang un kannst mit se machn, wat de willst." Nun lachte ich: "Männa ham doch keene Schwänze!" Die beiden Frauen runzelten die Stirnen: "Un wat for welche! Det wirste schpeeta schon noch sehn!"
Wenige Tage danach fuhren wir wieder nach Moabit. Kaum dass ich meinen geliebten Onkel Bruno sah, fragte ich ihn: "Du hast doch keen Schwanz, wa, Onkel Bruno, du bist doch keen Teufl oda irjend n Tier, du kannst doch ja keen Schwanz ham, wa?" Er blickte mich irritiert an, gab keine Antwort und ließ mich stehen. Nun fiel die ganze Familie über mich her, was ich mir einbilde, so ein blödes Zeug zu reden und ob ich wohl den Verstand verloren hätte? Es gelang mir nicht, die Sachlage zu erklären. Ich glaube, an jenem Tag hatte ich mir ein für alle mal sämtliche Sympathie verscherzt.
Einmal war ich, ich weiß nicht mehr aus welchem Grund, für mindestens zwei Tage zu Besuch bei Tante Lotte in ihrer neuen Wohnung. Wenige Meter von ihrem Wohnhaus entfernt befand sich ein Park mit einem Kinderspielplatz, der mir wie ein kleines Paradies erschien. Tante Lotte verließ mit mir am anderen Tag die Wohnung, um einkaufen zu gehen. Aber sie hatte irgendetwas in der Wohnung vergessen. Sie befahl mir, vor der Haustür stehen zu bleiben und auf sie zu warten. Ich wartete lange. Eine "halbe Ewigkeit". Und genau gegenüber wusste ich einen Buddelkasten und einen blanken Kletterbaum (ein irgendwo gefällter Baum mit vielen starken Ästen war entrindet und fest in der Erde verankert worden). Einer meiner Großcousins kam an mir vorüber. Ich fragte: "Dürf ick uff den Spielplatz? Findt Deine Mutter mir denn da?" - "Jewiß", antwortete er, "da kannste ruhich hinjehn, det is n Kindaschpielplatz, da schpieln wa alle!" So folgte ich ruhigen Gewissens meinem Drange und spielte einige Zeit in dem riesigen Buddelkasten, bis Tante Lotte mich sehr zornig aufgriff. In ihrer Wohnung bekam ich Prügel für meinen Ungehorsam. Ich weiß nicht, wie lange ich auf sie gewartet hatte. Wie lange kann man ein kleines Kind vor der Haustür warten lassen, wenn gegenüber ein Spielplatz lockt? Die Sonne lachte mich an, es war das allerbeste Buddelkastenwetter, und weshalb sollte ich Tante Lotte zum Einkaufen begleiten? Sie kam ohne mich unnützes Ding gewiss besser zurecht!
Ich liebte Onkel Brunos nervige, geschickte Hände. Es war ein Spaß, ihm bei der Arbeit zuzuschauen, namentlich, wenn er aus meinen alten Halbschuhen Sandalen für mich schnitt. Derartiges wurde 1943 - 50 von fast allen Kindern getragen, und wenn ich solches Schuhwerk an anderen Kinderfüßen sah, dachte ich glücklich: "Da jibts noch andre liebe Onkels!". Am liebsten wäre ich den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen, aber dafür hatte er natürlich kein Verständnis. Er schickte mich hinaus zu seinen Kindern spielen. Nur - sie spielten nicht gern mit mir, denn ich kannte viele ihrer Spiele nicht und passte altersmäßig auch nicht zu ihnen. So spielten wir Verstecken. Ich wurde immer sehr schnell gefunden, hatte selber aber kaum eine Chance, die anderen zu finden, weil ich mich an das Verbot hielt, die Gartenwege zu verlassen.
Bruno hatte "goldene Hände", wie Ida immer sagte. Schnell und geschickt reparierte er Kochtöpfe mit Aluminiumpfropfen, ganz gleich, wie groß der Topf war oder an welcher Stelle er das Loch hatte, rasch war ein Pfropfen eingesetzt und der Topf hielt wieder "hundert Jahre".
Ich habe das Talent, alles zu verdrängen, was mir Kummer macht. So habe ich mir nicht gemerkt, wie viele Kinder Onkel Bruno hatte, wie viele davon Jungen oder Mädchen waren oder wie sie hießen. Bei mir ist nur hängen geblieben, dass einer seiner Söhne genau wie mein großer Bruder Manfred hieß und eine seiner Töchter genau wie ich Christa. Sie wurde nicht "Krille" gerufen, bestenfalls "Christel" und sie war furchtbar sauer darüber, dass wir beide den selben Namen hatten. Das war - glaube ich - der Hauptgrund, weshalb sie mich nicht leiden konnte. Was konnte ich dafür, dass ich so hieß? Sie ärgerte mich jedenfalls, wo sie nur konnte.
Aber möglicherweise habe ich das auch nur schief in Erinnerung. Die Wahrheit ist, dass ich mich - gerade ob der Namensgleichheit - an sie klammerte und sie mit all den unbeantworteten Fragen überschüttete. Ich hatte inzwischen beobachtet, dass Kinder sich ihre Fragen manchmal untereinander selbst beantworten und im stillen Einvernehmen handeln können und ich wollte gern dazugehören. Christa S. aus Moabit war in einen festen Familienkreis eingeschlossen. Ihr Vater war Idas Ziehsohn. Ida war somit gewissermaßen ihre Großmutter. Waltraud war Idas Enkelin durch Adoption. Die beiden waren sich gleich. Durch "Familienbande". Ich war nur die Tochter des Bruders von Ida. Obendrein aus zweiter Ehe. Ich bin bei Christa total abgestunken. Sie hatte etwas gegen unsere Namensgleichheit und ganz gewiss war sie dagegen, nun auch noch Verantwortung für eine "Cousine" zu übernehmen, wo ihr doch so oft ihre Geschwister anvertraut wurden. In langen Diskussionen wurde unser Verwandtschaftsgrad "geklärt". Ich wusste, dass Christa mehrere Geschwister hatte, dass diese Familie bei Ida den Vorrang hatte und fühlte mich unendlich hilflos.
Ida liebte Bruno sehr, doch ich erinnere mich an keine seiner Geburtstagsfeiern. Das kann daran liegen, dass die Nachkriegsjahre nicht unbedingt zum Feiern einluden, und ich daher die Besuche in Moabit als jedem dem anderen gleich einstufte. Vielleicht waren wir auch zu den Geburtstagen seiner Frau und seiner Kinder anwesend. Ich weiß es nicht, ich war zu jung. Es gab auch eine Feier, als Bruno gestorben war. Dessen bin ich mir sicher. Aber ich habe alles vergessen, was damit zusammenhing. Ich hatte einen Freund verloren und meine Trauer war unendlich. Nun gab es niemanden mehr, der mich in die Luft warf und mich "Würstchen" nannte, niemanden, der mich an seine Männerbrust drückte und mir zärtlich übers Haar strich.
Die einzige Familienfeier bei "den Moabitern", an welche ich mich lebhaft erinnere, war Lottes Hochzeit. Tante Lotte heiratete wieder. Einen "wildfremden" Mann. Sie hatte meinen geliebten Onkel Bruno vergessen und heiratete wieder.
Ich war inzwischen neun Jahre alt, und "wusste", dass das Leben weitergeht, dass "eine Frau nicht ohne Mann auskommt", dass Kinder einen Vater brauchen (das wagte ich in Frage zu stellen - wieso brauchen Kinder einen Vater, ich lebte doch auch ohne, und Waltraud hatte den Stiefvater erfolgreich abgestoßen! - aber es war für Ida der Hauptgrund der Eheschließung, also akzeptierte ich es).
Auf dieser Hochzeitsfeier wurde das frischgebackene Ehepaar u.a. durch Darbietungen der Kinder geehrt. Der Älteste brachte den damaligen Tagesschlager "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs sieben, wo ist meine Braut geblieben" mit mimischen Einlagen dar (das gefiel mir sehr gut), danach kam ein von Christa und einem ihrer Brüder dargebotenes Couplet: "Oma, hops mal . . ."
Ich lachte herzhaft darüber, es war ein Scherz, aber eine halbe Stunde später kamen sie auf mich zu: "Wehe, wenn du deine Oma hopsen lässt, du altet Stinktier, du!" Ich wusste nicht, was sie von mir wollten. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, Ida hopsen zu lassen, ich wusste, dass sie das nicht konnte, ich führte sie sicher um alle Pfützen und sonstige Unwegsamkeiten herum und machte auch andere Leute auf Gefahrenquellen aufmerksam. Wer will schon seinen nächsten und liebsten Angehörigen im Schlamassel sitzen sehen? Ich vergaß den Liedtext sehr schnell, da ich ihn als anstößig empfand.
Später wurde auf dieser Hochzeit Tanzmusik gespielt. Wenn ich mich recht erinnere, zu Anfang von der Combo, in der Alfred mitwirkte, danach von Radio und Plattenspieler. Alle tanzten. Mit mir wollte keiner tanzen. Ich wurde letztendlich an einen um fünf Jahre jüngeren Knaben delegiert, den ich im Nachhinein um Verzeihung bitte für meine schroffe Abweisung. Ich war so verärgert, dass ich mir nicht merkte, um wen es sich handelte.
Einige Zeit kamen "die Moabiter" mit Freunden und Bekannten zu uns, damit Ida sie zu den HO-Läden führte. Dort konnten sie billig einkaufen. Die Mark stand eins zu vier, manchmal gar eins zu sechs, so konnten Westberliner im Osten sehr billig einkaufen. Aber Ida gefiel es nicht, dass fremde Menschen durch sie einen Vorteil bekommen sollten. Sie verbat sich nach einigen Monaten diese "Bettelbesuche". Sie war der Meinung, dass es den "Westlern" ohnehin schon viel besser ging als uns. Nun wurden die Besuche aus dem Westen sehr selten.
Einmal besuchte uns einer der größeren Söhne von Onkel Bruno mit einem ausgewachsenen Schäferhund. Ich war schon zehn oder elf Jahre alt, hatte also schon lange keine Angst mehr vor großen Hunden, aber wie dieser "Rex" nun plötzlich in unserer Küche vor mir stand, mir die Vorderpfoten auf die Schultern legte und mich "küsste", war ich doch sehr erschrocken. Die Bekanntschaft kam zu unvermittelt! Während Ida hämisch lachte über meinen Schreckensschrei, "erklärte" mein Großcousin seinem Hunde, dass er nicht jedes Kind zu knutschen hat. Später habe ich das schöne Tier gern gestreichelt, verhinderte jedoch den Begrüßungskuss.
Ich blickte sehr gern in seine bernsteingelben Augen, sie schienen mir die wahre Demut auszudrücken, und mir wurde der Sinn eines an der L. schen Wand hängenden Spruches klar: "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere". Dennoch hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, mir ein eigenes Haustier zu wünschen. So ein Tier will nämlich auch fressen. Und dafür war bei uns das Geld zu knapp. Der Kater von Gerda hatte zu fressen, "was die Kelle klickt". Genau wie ich.
Idas letzter Besuch in Westberlin fand zu Christas Einsegnungsfeier statt. Gleich nach der Begrüßung bewunderte Christa Waltrauds Chiffontuch. Die waren damals gerade ganz hoch in Mode. Dann sah sie auch an meinem Hals ein solches Tuch und erblasste vor Neid.
Als es den Kindern auf der Feier langweilig wurde, beschlossen sie, ein paar Comik-Hefte bei einem Kumpel abzuholen. Waltraud und ich durften mitgehen. Ich fand meinen Mantel nicht gleich an der überladenen Flurgarderobe und konnte ihn nur flüchtig überstreifen. Als wir zurückkehrten, sah ich auf dem Hof ein Chiffontuch liegen. Ich rief: "Det sieht aus wie meins! Wer det wohl valoorn hat?" Ich wollte mich danach bücken, aber Christa sagte: "Lass den Dreck liejen! Wir ham t eilich!" Nach ein paar Schritten sagte sie: "Jeht ma schon vor, ick hab wat vajessn!"
Als wir uns für die Heimfahrt anzogen, war mein Chiffontuch nicht mehr in meinem Mantelärmel. Mir wurde klar, dass jenes Tuch, welches ich im Hof liegen sah, meines war. Ich lief hinunter - es war weg. Christa meinte: „Da hätteste bessa uffpassen müssen.“
Nach Idas Tod habe ich jahrzehntelang nichts mehr von den Moabitern gehört. Erst 1994, als auch ich einen Telefonanschluß hatte, habe ich Christa angerufen, um mit ihr zu schwatzen. Sie war noch genau so widerwärtig, wie ich sie in Erinnerung hatte und ich brach den Kontakt wieder ab.