Kapitel 4

losvu

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Freitag, 25. Juni 1982, 4.53 h

Es war schon komisch, jemanden, der genauso aussah wie
man selbst, am Küchenfenster stehen und beobachten zu
sehen wie die Nacht langsam grauer Dämmerung weicht. Ich
stehe jeden Morgen kurz vor fünf auf, um mein tägliches
Training - 15 Kilometer laufen und zwanzig Minuten schwim-
men (mehr ließ der 12°C kalte Pazifik nicht zu) - zu absol-
vieren.
"Konntest du nicht mehr schlafen ?"
"Nein", antwortete Rafael. "Warum bist du schon auf ?"
"Ich gehe jetzt laufen."
"Du gehst jetzt laufen", wiederholte er spöttisch.
"Genau."
"Du bist verrückt."
"Schön, dass es dir aufgefallen ist."
Lächelnd schüttelte er den Kopf. "Wartest du auf mich ?",
fragte er dann, "ich gehe mich schnell umziehen."
"Wer ist jetzt verrückt, hm ? Dir ist hoffentlich klar, dass
ich jetzt 15 Kilometer laufe und nicht die Absicht habe,
auf alte Knacker wie dich zu warten."
"Ich bin nur 32 Minuten älter als du !"
"Beeil dich, ich warte nicht ewig."
Als er weg war, nahm ich seinen Platz am Fenster ein.

Falls Sie sich über den Altersunterschied wundern sollten:
Ich bin das vierte Kind von Vierlingen. Die Ärzte hatten
meinen Eltern gesagt, dass sie Drillinge erwarteten. Meine
Eltern hatten daraufhin jeweils drei Mädchen- und drei
Jungennamen ausgesucht. Drei Mädchen hatten sie Emily,
Katherine und Rebecca nennen wollen, drei Jungen Rafael,
Michael und Gabriel.
Silvester 1944 war es soweit gewesen. Die drei wollten
raus. Rafe kam um 23.35 h zur Welt, Michael um 23.41 h
und Gabe um 23.45 h.
Was die Ärzte stutzig gemacht hatte, war, dass Moms
Bauch nach der Geburt nicht in sich zusammengefallen, die
Plazenta nicht abgegangen war und Mom begonnen hatte,
über Schmerzen zu klagen. Als der Arzt sie nochmals un-
tersucht hatte, hatte er lächelnd den Kopf gehoben und zu
Dad gesagt: "Gott meint es gut mit Ihnen, Mr. Craig. Sie
kriegen vier zum Preis von dreien."
"Nein, wirklich ?", hatte Dad lahm geantwortet. Er war
total überrascht gewesen.
Ein paar Minuten später, um 0.07 h Neujahr 1945 kam
ich zur Welt, die ausgeleierte Nabelschnur um den Hals
gewickelt und die Plazenta im Schlepptau. Dad erzählte
mir einmal, dass alle im Kreisssaal meine von drei Gebur-
ten entkräftete Mom angefeuert hätten wie einen Football-
spieler, kurz bevor er den entscheidenden Touchdown für
seine Mannschaft macht. Doch sie hatten ein Problem ge-
habt. Da sie jeweils nur drei Namen ausgesucht hatten und
ich wahrscheinlich einen gigantischen Minderwertigkeits-
komplex davongetragen hätte, wenn sie mich Emily oder
Rebecca genannt hätten, haben sie mich schließlich nach
meinen Großvätern benannt: Clark Christopher.

"Wir können", sagte mein Bruder.
Wir liefen vom Haus aus nach links, am Palace of Fine Arts
vorbei und die Lyon Street an der Ostseite des Presidio hi-
nunter bis zur West Pacific Avenue. Wir folgten ihr auf der
Südseite bis zum Mountain Lake Park und liefen von dort
aus quer durchs Presidio bis nach Fort Point, das sich unter
dem Fuß der Golden Gate-Brücke versteckt. Dann liefen
wir den gesamten Küstenstreifen entlang bis zur Marina
Green, umrundeten sie und liefen zurück zum Strand von
Crissy Field, nicht weit von meinem Haus entfernt. Mein
Bruder plumpste total ausgepumpt in den Sand. 15 Kilo-
meter-Sprints waren nicht Rafes Ding. Er hatte es eher mit
Squash und Basketball.
Es war schön, morgens durch das wie ausgestorbene Pre-
sidio zu laufen und zu sehen, wie der parkartig angelegte
Militärposten in rosa-orangefarbenem Licht erstrahlte. Es
war so friedlich. Und es erinnerte mich daran, wie meine
Mom manchmal früh morgens mit mir hierher gegangen war.
Es machte es mir leichter zu akzeptieren, dass sie tot war,
wenn ich morgens kurz vor sieben hier am Strand saß und
den Sonnenaufgang beobachtete. Ich hatte kurz nach ihrem
Tod mit zwölf Jahren damit angefangen, allein hierher zu ge-
hen.
"Hier waren wir doch vor einer Viertelstunde schon."
"Mom war hier oft früh morgens mit mir."
"Ach ja ? Mit uns hat sie das nie gemacht."
Ich bückte mich, zog Turnschuhe und Socken aus. "Es ist
irgendwie, als sei sie immer noch hier und beobachte den
Sonnenaufgang." Ich zog die Trainingshosen aus. "Ich füh-
le mich ihr nirgends so verbunden wie hier. Halt das für ge-
fühlsduseligen Quatsch, aber so ist es." Zuletzt zog ich mir
das Sweatshirt über den Kopf und stand nun nur noch mit
einer Badehose bekleidet vor ihm.
"Was hast du jetzt wieder vor, Clark ?", fragte mein Bruder
misstrauisch.
Ich konnte mir ein Grinsen gerade noch so verkneifen. "Ich
geh jetzt schwimmen", erklärte ich ganz ernst.
"WAS ?", schrie er so laut, dass man es sicher noch drüben
in Oakland hören konnte. "Bist du wahnsinnig ?"
"Shhhht !", zischte ich, "was fällt dir ein, Rafael ? Sei leise !"
Er wurde noch lauter. "Da drin", er deutete Richtung Was-
ser, "hat es Gezeiten und Strömungen, die dich im Handum-
drehen bis nach Hawaii..."
"...was hast du gegen Hawaii ?..."
"...oder sonstwohin treiben können. Es gibt Haie in der Bucht
und das Wasser ist scheißkalt !"
"Seit 25 Jahren gehe ich regelmäßig frühmorgens schwimmen
und bin nie nach Hawaii geschwemmt worden, obwohl ich kei-
neswegs abgeneigt gewesen wäre. Es hat mich nie ein Hai an-
geknabbert und ich bin nicht erfroren. Also krieg dich wieder
ein, ja ? Passt du darauf auf ?" Ich warf ihm mein Handtuch zu,
das ich den ganzen Lauf über um den Hals hängen gehabt hatte.
"Bin in zwanzig Minuten wieder da", sagte ich und ging zum
Wasser.
"Du bist total bescheuert !", rief er mir nach.
"Ich liebe dich auch !", rief ich zurück.

Eine halbe Stunde später saßen wir wieder in der Küche,
frühstückten und tranken Morgenkaffee. Rafe zeigte dabei
eine bemerkenswerte Gesichtsakrobatik. Ich mochte mei-
nen Kaffee eben stark. Liberty verzog keine Miene. Leigh
Anne trank schwarzen Tee. In anderthalb Stunden würde
die Autopsie stattfinden.
 

Hypoxic

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"Da drin", er deutete Richtung Was-
ser, "hat es Gezeiten und Strömungen, die dich im Handum-
drehen bis nach Hawaii..."
"...was hast du gegen Hawaii ?..."
"...oder sonstwohin treiben können. Es gibt Haie in der Bucht
und das Wasser ist scheißkalt !"
"Seit 25 Jahren gehe ich regelmäßig frühmorgens schwimmen
und bin nie nach Hawaii geschwemmt worden, obwohl ich kei-
neswegs abgeneigt gewesen wäre.

Der Part gefällt mir. ;0)

Dass deine beiden nach dem Motto "Böser Cop - noch böserer Cop" agieren, ist mir aber bisher noch nicht aufgefallen. Ich finde beide bisher ziemlich sympathisch.

Gehts demnächst eigentlich mal weiter?
 



 
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