Kapitel 4 – Das Buch
Günter schlenderte ungefähr eine halbe Stunde durch die Geschäfte, bis er den Laden mit den günstigsten Kartoffeln ausfindig gemacht hatte und kaufte einen kleinen Sack Frühkartoffeln. Die Kartoffeln waren zwar nicht so groß wie sonst und man sah der einen oder anderen auch an, dass sie nicht mehr in der Blüte ihres Lebens stand. Kurz gesagt, sie sahen einfach schrumpelig aus und leichte Ansätze neue Triebe zu entwickeln zeigten sie auch schon. Aber dafür waren sie schließlich im Sonderangebot gewesen, dachte Günter, als er den Sack mit den Kartoffeln auf dem Gepäckträger seines Fahrrades befestigte. Das desolate Aussehen dieser Nachtschattengewächse, so war sich Günter sicher, würde er seiner Frau schon irgendwie erklären können. Er war ja noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen. Er musste heute schließlich Geld sparen, um sich ein Harry Potter Buch leisten zu können.
So und jetzt das Buch, auf zur Buchhandlung, waren seine Gedanken, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr drei Straßen weiter, wo die größte aber auch einzige Buchhandlung der Stadt angesiedelt war. Dort angekommen, stellte er sein Fahrrad ab, verschloss es und nahm seinen Regenschirm vom Lenker. Die schrumpeligen Kartoffeln wird schon keiner klauen, dachte er und schlenderte in Richtung der Schaufenster. Er betrachtete neugierig die Auslage, als er beschloss, erst einmal sein Restgeld zu zählen, denn er wusste nicht genau, wie viel Geld noch übrig war. Er griff in seine Hosentasche und nahm sein kleines Vermögen heraus, drehte sich wieder zum Schaufenster hin, damit man ihn nicht so leicht beobachten konnte und sortierte das Geld grob nach Münzen und Scheinen. Als er mit dem Geld zählen fertig war, kam er zu dem Ergebnis, wenn er heute kein Bier trinken würde und den Rest vom Kartoffelgeld hinzuzählt – natürlich von fünf Euro ausgehend, da er den Rest von den zwanzig Euro seiner Frau auf jeden Fall zurückgeben musste, dann blieben ihm jetzt noch genau siebzehn Euro und zwanzig Cent. – Ob das wohl reichen würde? Er steckte das Geld hastig zurück in seine Hosentasche und ging auf den Eingang des Buchladens zu. Auf dem Weg dorthin entdeckte Günter die Harry Potter Bände im letzten Schaufenster vor der Eingangstür. Er hielt an und staunte Bauklötze, als er die Auslage betrachtete. Er drückte seine Nase fest an die Schaufensterscheibe. Sein Mund öffnete sich weit, fast wie von selbst, als er auf die Bücher starrte, als wollte er sagen: "Das also ist Harry Potter, der große Zauberer, dessen Namen er beschmutzt hatte!" – Fünf Stück an der Zahl, fünf Bände lagen dort, fein säuberlich nebeneinander aufgestellt. Ein Band dicker, als der andere. In welchem wohl am meisten über Eulen stehen würde, dachte Günter bei sich? Ach was, er würde einfach den billigsten nehmen und das war, seiner Erfahrung nach, gewöhnlich der Band mit den wenigsten Seiten. So war es jedenfalls früher immer gewesen, wenn er sich einmal ein Buch gekauft hatte. Dann betrat er die Buchhandlung. Er schaute sich um und schlenderte die Regale entlang. So viele Bücher auf einem Haufen hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Er wusste gar nicht, wo er zuerst anfangen sollte, nach Harry Potter Büchern zu suchen. In der Nähe standen zwar zwei Buchhändlerinnen, die offenbar im Moment nichts zu tun hatten, da sie sich angeregt miteinander unterhielten, aber er traute sich nicht, sie anzusprechen. Er wollte sich einfach ganz schnell den billigsten Harry Potter Band schnappen, an der Kasse bezahlen und dann mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Damit er bei der Suche nicht so auffiel, nahm er mal hier, mal da ein Buch aus einem der Regale, blätterte es kurz durch und stellte es dann wieder zurück, immer Ausschau haltend nach den Harry Potter Büchern. – Wo konnten sie nur stehen?
Eine Buchhändlerin, die auf ihn aufmerksam geworden war, da er schon über zehn Minuten unschlüssig zwischen den Regalen der Buchhandlung umhergelaufen war, beschloss, ihm zu helfen. Günter stand gerade vor einem Regal mit Büchern über Heilpflanzen, was ihm vor lauter Aufregung und Nervosität gar nicht bewusst war und hielt den ersten Band "Heilkräuter im Mittelalter und deren Anwendung von Gregorius Spintusi" in der Hand, als eine freundliche Stimme hinter ihm sagte: "Guten Tag mein Herr, kann ich Ihnen behilflich sein?" Günter erschrak, zuckte zusammen und ließ das Buch fast zu Boden fallen. Er hatte die Buchhändlerin nicht bemerkt. Er drehte sich um und musterte die Frau. Sie war gut zwei Köpfe größer als er selber, trug eine Hornbrille mit Gleitsichtgläsern auf der Nase und sah irgendwie unheimlich aus.
"Ah, ich sehe, Sie interessieren sich für Heilkräuter, mein Lieber."
Dann schob sie ihre Brille ein wenig zur Nasenspitze hin und beugte sich zu ihm runter, und schaute auf das Buch, das er gerade in der Hand hielt und sagte:
"So, so. Heilkräuter im Mittelalter und deren Anwendung. Band 1, von Gregorius Spintusi. – Eine gute Wahl, die Sie da getroffen haben. Ein sehr interessantes Werk, versteht nicht jeder. Liegt schon seit Jahren hier im Regal. – Sind Sie vielleicht Zauberer?", fragte sie ihn neugierig.
"Nein, nein. Zauberer, so ein Quatsch. Hab nur mal so geschaut, einfach so. Suche eigentlich etwas ganz anderes!", stotterte er und legte das Buch hastig wieder zurück in das Regal. Er hatte plötzlich den Eindruck, als wüsste die Buchhändlerin alles über ihn. Jedenfalls bildete er sich das ein. Aber was sollte sie schon über seine Sorgen wissen und die Zaubererwoche würde auch sie nicht lesen, obwohl diese Frau ein wenig wie eine Hexe aussah. Auf jeden Fall hatte sich Günter Hexen immer so ähnlich vorgestellt.
"Schon gut, mein Lieber, warum so nervös? Hier tut Ihnen doch keiner was! Suchen Sie denn etwas bestimmtes?"
Da er sich nicht traute, den Namen Harry Potter auszusprechen antwortete er ihr: "Ich suche ein Buch über Eulen oder so…". Die Buchhändlerin unterbrach ihn und sagte: "Ich habe wahrscheinlich genau das, was Sie suchen. Haben wir heute morgen erst von der Buchmesse hereinbekommen. Das Werk ist auch von Professor Spintusi…".
"Nein, nein.", warf Günter ein, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte hastig in einem Wortschwall: "Harry Potter, Harry Potter, such ich."
"Ah, da kommen wir der Sache ja schon näher. Für ihren Enkel, als Geschenk vermute ich, oder?"
"Ja, ja, für meinen Enkel.", erwiderte Günter. Warum war ihm die Sache mit dem Enkel nicht selbst eingefallen, ärgerte er sich. Dann hätte er die Buchhändlerin direkt ansprechen können und nicht so viel Zeit mit der Sucherei vertrödelt. Wie dumm war er nur gewesen.
"An welchen Band haben Sie denn gedacht? Wir führen alle fünf. Sehr gute Literatur.", sagte sie und schaute Günter fragend an.
"Keine Ahnung, vielleicht den billigsten…?", murmelte er leise.
"Mein lieber Herr", erwiderte die Buchhändlerin etwas ungehalten, fast schon genervt, als wollte sie ihn gleich am Kragen packen und vor die Tür setzen. "Kaufen Sie Ihre Geschenke immer nach dem Preis? Was sind Sie für ein Großvater?"
Günter wurde rot im Gesicht und es trat ein kurzes Schweigen ein.
"Hat Ihr Enkel denn schon einen Harry Potter Band?"
"Ich glaube nicht.", antwortete Günter kleinlaut.
"Na gut, dann fängt ihr Enkel am besten mit dem ersten Teil an.", sagte sie, ging drei Regale weiter, zog einen Harry Potter Band aus dem obersten Regal und kam zurück. Da wäre ich ohne Hilfe sowieso niemals drangekommen, sagte Günter zu sich.
"So, das ist er, der erste Band, Harry Potter und der Stein der Weisen." Sie drehte das Buch kurz um und sprach dann weiter "Vierzehn Euro und fünfzig Cent! – Ist das billig genug für Sie? Und erschrecken Sie bitte nicht an der Kasse, wenn ich das Buch als Geschenk verpacke, dies ist ein Service unseres Hauses und kostet Sie nichts extra.", sagte sie mit einem ironischen Unterton. In diesem Moment wäre Günter am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber, wenn sie nur wüsste, mit wie wenig Taschengeld er in der Woche auskommen musste und das Buch doch nur für sich selber brauchte, da er im Moment in den größten Schwierigkeiten steckte, dann würde sie bestimmt ganz anders reagiert haben, dachte er. Eine letzte Frage musste er der Buchhändlerin aber noch stellen, um ganz sicher zu gehen, egal wie genervt sie war: "Kommen da auch Eulen drin vor?", fragte Günter leise.
"Aber ja, jede Menge und stellen Sie sich vor, die bringen sogar die Post. Reicht Ihnen das?", antwortete sie lakonisch und versuchte, so gut wie es ging, ihre Wut zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie ihn wohl wie eine lästige Küchenschabe zertreten, so war jedenfalls sein Eindruck, da sie ihn nunmehr mit einem Blick ansah, der schon fast bedrohlich wirkte.
"Wollen Sie das Buch nun für Ihren Enkel kaufen, oder nicht?"
"Ja, ja, ich nehme es.", erwiderte er hastig. Die Buchhändlerin wandte sich von ihm ab und ging leicht kopfschüttelnd mit dem Buch in der Hand in Richtung Kasse. Er trottete ihr hinterher und war überglücklich, einen Harry Potter Band erstanden zu haben, in dem auch noch Eulen drin vorkamen, die sogar die Post brachten. Dieser Band würde ihm alle Antworten auf seine Fragen geben, die im innersten seines Herzens brannten. Wenn ihm dies jemand vor einer Woche gesagt hätte, den hätte er nur ausgelacht und für verrückt erklärt. – Er und Harry Potter lesen. – Nun aber war es geschehen und er fühlte sich irgendwie sicherer und er war auch viel besser gelaunt als heute morgen noch. Er war fast in Versuchung, ein Liedchen über seine Lippen kommen zu lassen, als er an der Kasse stand und das Geld für das Buch abzählte. Er konnte sich aber noch gerade so beherrschen. Die Nerven der Buchhändlerin hatte er für heute schon genug strapaziert. Jetzt nur noch bezahlen und dann ab nach Hause. – Nach Hause, die Zeit hatte er total vergessen. Wie spät mochte es sein? Er schaute auf seine Uhr. Es war viertel vor eins. Das Mittagessen! Du darfst nicht zu spät kommen, hämmerte eine Stimme in seinem Kopf auf ihn ein. – Zu spät kommen, zum Mittagessen, bloß das nicht. Aber, wie sollte er es bis ein Uhr nach Hause schaffen? Für die Strecke brauchte er immerhin, da es die meiste Zeit bergauf ging, eine knappe halbe Stunde, wenn es gut lief und keine rote Ampel ihn aufhielt. Er bezahlte hastig, nahm sich die Tüte mit dem Buch und stürmte dann aus der Buchhandlung, schloss sein Fahrrad auf, schwang sich auf den Sattel und haute in die Pedale was das Zeug hielt.
Günter wusste zwar nicht, wie er es geschafft hatte, aber Punkt ein Uhr stand er vor der Haustür. Er war zwar etwas außer Atem, aber er hatte es geschafft, pünktlich zu sein. Er stellte sein Fahrrad in der Garage ab. Die Kartoffeln könnte er auch noch später holen, dann hätte er wenigstens seine Ruhe beim Mittagessen und musste seiner Frau den desolaten Zustand der Nachtschattengewächse erst später erklären. Am besten am Abend, wenn es dunkel war und man die Triebe nicht mehr so gut erkennen konnte, dachte er und nahm seinen Regenschirm, die Tüte mit dem Harry Potter Band und verschloss die Garage. Im Treppenhaus roch es nach Nudelsuppe. Hoffentlich kommt der Geruch nicht aus unserer Wohnung. Als er die Wohnungstür geöffnet hatte, war es traurige Gewissheit. Der Geruch im Treppenhaus kam aus seiner Wohnung. Es gab mal wieder "Schlabberwasser mit Nudeln und Würstchen". Dann hätte er die Kartoffeln auch sofort mit hoch nehmen können, dachte er. Nudelsuppe konnte er nicht ausstehen.
Beim Mittagessen erzählte er seiner Frau, dass er sich von seinem Taschengeld ein Harry Potter Buch gekauft hatte. Seine Frau war begeistert. Nicht über Harry Potter, da sie mit dem Namen genau so wenig anfangen konnte, wie Günter vor einer Woche noch. Nein, sie war einfach froh, dass er sein Geld wenigstens einmal für eine vernünftige Sache ausgegeben hatte und das auch noch für Literatur, wo ihr Mann doch seit Jahren kein Buch mehr aufgeschlagen hatte, waren ihre Gedanken. Sie war richtig stolz auf ihn.
Günter schlenderte ungefähr eine halbe Stunde durch die Geschäfte, bis er den Laden mit den günstigsten Kartoffeln ausfindig gemacht hatte und kaufte einen kleinen Sack Frühkartoffeln. Die Kartoffeln waren zwar nicht so groß wie sonst und man sah der einen oder anderen auch an, dass sie nicht mehr in der Blüte ihres Lebens stand. Kurz gesagt, sie sahen einfach schrumpelig aus und leichte Ansätze neue Triebe zu entwickeln zeigten sie auch schon. Aber dafür waren sie schließlich im Sonderangebot gewesen, dachte Günter, als er den Sack mit den Kartoffeln auf dem Gepäckträger seines Fahrrades befestigte. Das desolate Aussehen dieser Nachtschattengewächse, so war sich Günter sicher, würde er seiner Frau schon irgendwie erklären können. Er war ja noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen. Er musste heute schließlich Geld sparen, um sich ein Harry Potter Buch leisten zu können.
So und jetzt das Buch, auf zur Buchhandlung, waren seine Gedanken, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr drei Straßen weiter, wo die größte aber auch einzige Buchhandlung der Stadt angesiedelt war. Dort angekommen, stellte er sein Fahrrad ab, verschloss es und nahm seinen Regenschirm vom Lenker. Die schrumpeligen Kartoffeln wird schon keiner klauen, dachte er und schlenderte in Richtung der Schaufenster. Er betrachtete neugierig die Auslage, als er beschloss, erst einmal sein Restgeld zu zählen, denn er wusste nicht genau, wie viel Geld noch übrig war. Er griff in seine Hosentasche und nahm sein kleines Vermögen heraus, drehte sich wieder zum Schaufenster hin, damit man ihn nicht so leicht beobachten konnte und sortierte das Geld grob nach Münzen und Scheinen. Als er mit dem Geld zählen fertig war, kam er zu dem Ergebnis, wenn er heute kein Bier trinken würde und den Rest vom Kartoffelgeld hinzuzählt – natürlich von fünf Euro ausgehend, da er den Rest von den zwanzig Euro seiner Frau auf jeden Fall zurückgeben musste, dann blieben ihm jetzt noch genau siebzehn Euro und zwanzig Cent. – Ob das wohl reichen würde? Er steckte das Geld hastig zurück in seine Hosentasche und ging auf den Eingang des Buchladens zu. Auf dem Weg dorthin entdeckte Günter die Harry Potter Bände im letzten Schaufenster vor der Eingangstür. Er hielt an und staunte Bauklötze, als er die Auslage betrachtete. Er drückte seine Nase fest an die Schaufensterscheibe. Sein Mund öffnete sich weit, fast wie von selbst, als er auf die Bücher starrte, als wollte er sagen: "Das also ist Harry Potter, der große Zauberer, dessen Namen er beschmutzt hatte!" – Fünf Stück an der Zahl, fünf Bände lagen dort, fein säuberlich nebeneinander aufgestellt. Ein Band dicker, als der andere. In welchem wohl am meisten über Eulen stehen würde, dachte Günter bei sich? Ach was, er würde einfach den billigsten nehmen und das war, seiner Erfahrung nach, gewöhnlich der Band mit den wenigsten Seiten. So war es jedenfalls früher immer gewesen, wenn er sich einmal ein Buch gekauft hatte. Dann betrat er die Buchhandlung. Er schaute sich um und schlenderte die Regale entlang. So viele Bücher auf einem Haufen hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Er wusste gar nicht, wo er zuerst anfangen sollte, nach Harry Potter Büchern zu suchen. In der Nähe standen zwar zwei Buchhändlerinnen, die offenbar im Moment nichts zu tun hatten, da sie sich angeregt miteinander unterhielten, aber er traute sich nicht, sie anzusprechen. Er wollte sich einfach ganz schnell den billigsten Harry Potter Band schnappen, an der Kasse bezahlen und dann mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Damit er bei der Suche nicht so auffiel, nahm er mal hier, mal da ein Buch aus einem der Regale, blätterte es kurz durch und stellte es dann wieder zurück, immer Ausschau haltend nach den Harry Potter Büchern. – Wo konnten sie nur stehen?
Eine Buchhändlerin, die auf ihn aufmerksam geworden war, da er schon über zehn Minuten unschlüssig zwischen den Regalen der Buchhandlung umhergelaufen war, beschloss, ihm zu helfen. Günter stand gerade vor einem Regal mit Büchern über Heilpflanzen, was ihm vor lauter Aufregung und Nervosität gar nicht bewusst war und hielt den ersten Band "Heilkräuter im Mittelalter und deren Anwendung von Gregorius Spintusi" in der Hand, als eine freundliche Stimme hinter ihm sagte: "Guten Tag mein Herr, kann ich Ihnen behilflich sein?" Günter erschrak, zuckte zusammen und ließ das Buch fast zu Boden fallen. Er hatte die Buchhändlerin nicht bemerkt. Er drehte sich um und musterte die Frau. Sie war gut zwei Köpfe größer als er selber, trug eine Hornbrille mit Gleitsichtgläsern auf der Nase und sah irgendwie unheimlich aus.
"Ah, ich sehe, Sie interessieren sich für Heilkräuter, mein Lieber."
Dann schob sie ihre Brille ein wenig zur Nasenspitze hin und beugte sich zu ihm runter, und schaute auf das Buch, das er gerade in der Hand hielt und sagte:
"So, so. Heilkräuter im Mittelalter und deren Anwendung. Band 1, von Gregorius Spintusi. – Eine gute Wahl, die Sie da getroffen haben. Ein sehr interessantes Werk, versteht nicht jeder. Liegt schon seit Jahren hier im Regal. – Sind Sie vielleicht Zauberer?", fragte sie ihn neugierig.
"Nein, nein. Zauberer, so ein Quatsch. Hab nur mal so geschaut, einfach so. Suche eigentlich etwas ganz anderes!", stotterte er und legte das Buch hastig wieder zurück in das Regal. Er hatte plötzlich den Eindruck, als wüsste die Buchhändlerin alles über ihn. Jedenfalls bildete er sich das ein. Aber was sollte sie schon über seine Sorgen wissen und die Zaubererwoche würde auch sie nicht lesen, obwohl diese Frau ein wenig wie eine Hexe aussah. Auf jeden Fall hatte sich Günter Hexen immer so ähnlich vorgestellt.
"Schon gut, mein Lieber, warum so nervös? Hier tut Ihnen doch keiner was! Suchen Sie denn etwas bestimmtes?"
Da er sich nicht traute, den Namen Harry Potter auszusprechen antwortete er ihr: "Ich suche ein Buch über Eulen oder so…". Die Buchhändlerin unterbrach ihn und sagte: "Ich habe wahrscheinlich genau das, was Sie suchen. Haben wir heute morgen erst von der Buchmesse hereinbekommen. Das Werk ist auch von Professor Spintusi…".
"Nein, nein.", warf Günter ein, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte hastig in einem Wortschwall: "Harry Potter, Harry Potter, such ich."
"Ah, da kommen wir der Sache ja schon näher. Für ihren Enkel, als Geschenk vermute ich, oder?"
"Ja, ja, für meinen Enkel.", erwiderte Günter. Warum war ihm die Sache mit dem Enkel nicht selbst eingefallen, ärgerte er sich. Dann hätte er die Buchhändlerin direkt ansprechen können und nicht so viel Zeit mit der Sucherei vertrödelt. Wie dumm war er nur gewesen.
"An welchen Band haben Sie denn gedacht? Wir führen alle fünf. Sehr gute Literatur.", sagte sie und schaute Günter fragend an.
"Keine Ahnung, vielleicht den billigsten…?", murmelte er leise.
"Mein lieber Herr", erwiderte die Buchhändlerin etwas ungehalten, fast schon genervt, als wollte sie ihn gleich am Kragen packen und vor die Tür setzen. "Kaufen Sie Ihre Geschenke immer nach dem Preis? Was sind Sie für ein Großvater?"
Günter wurde rot im Gesicht und es trat ein kurzes Schweigen ein.
"Hat Ihr Enkel denn schon einen Harry Potter Band?"
"Ich glaube nicht.", antwortete Günter kleinlaut.
"Na gut, dann fängt ihr Enkel am besten mit dem ersten Teil an.", sagte sie, ging drei Regale weiter, zog einen Harry Potter Band aus dem obersten Regal und kam zurück. Da wäre ich ohne Hilfe sowieso niemals drangekommen, sagte Günter zu sich.
"So, das ist er, der erste Band, Harry Potter und der Stein der Weisen." Sie drehte das Buch kurz um und sprach dann weiter "Vierzehn Euro und fünfzig Cent! – Ist das billig genug für Sie? Und erschrecken Sie bitte nicht an der Kasse, wenn ich das Buch als Geschenk verpacke, dies ist ein Service unseres Hauses und kostet Sie nichts extra.", sagte sie mit einem ironischen Unterton. In diesem Moment wäre Günter am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber, wenn sie nur wüsste, mit wie wenig Taschengeld er in der Woche auskommen musste und das Buch doch nur für sich selber brauchte, da er im Moment in den größten Schwierigkeiten steckte, dann würde sie bestimmt ganz anders reagiert haben, dachte er. Eine letzte Frage musste er der Buchhändlerin aber noch stellen, um ganz sicher zu gehen, egal wie genervt sie war: "Kommen da auch Eulen drin vor?", fragte Günter leise.
"Aber ja, jede Menge und stellen Sie sich vor, die bringen sogar die Post. Reicht Ihnen das?", antwortete sie lakonisch und versuchte, so gut wie es ging, ihre Wut zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie ihn wohl wie eine lästige Küchenschabe zertreten, so war jedenfalls sein Eindruck, da sie ihn nunmehr mit einem Blick ansah, der schon fast bedrohlich wirkte.
"Wollen Sie das Buch nun für Ihren Enkel kaufen, oder nicht?"
"Ja, ja, ich nehme es.", erwiderte er hastig. Die Buchhändlerin wandte sich von ihm ab und ging leicht kopfschüttelnd mit dem Buch in der Hand in Richtung Kasse. Er trottete ihr hinterher und war überglücklich, einen Harry Potter Band erstanden zu haben, in dem auch noch Eulen drin vorkamen, die sogar die Post brachten. Dieser Band würde ihm alle Antworten auf seine Fragen geben, die im innersten seines Herzens brannten. Wenn ihm dies jemand vor einer Woche gesagt hätte, den hätte er nur ausgelacht und für verrückt erklärt. – Er und Harry Potter lesen. – Nun aber war es geschehen und er fühlte sich irgendwie sicherer und er war auch viel besser gelaunt als heute morgen noch. Er war fast in Versuchung, ein Liedchen über seine Lippen kommen zu lassen, als er an der Kasse stand und das Geld für das Buch abzählte. Er konnte sich aber noch gerade so beherrschen. Die Nerven der Buchhändlerin hatte er für heute schon genug strapaziert. Jetzt nur noch bezahlen und dann ab nach Hause. – Nach Hause, die Zeit hatte er total vergessen. Wie spät mochte es sein? Er schaute auf seine Uhr. Es war viertel vor eins. Das Mittagessen! Du darfst nicht zu spät kommen, hämmerte eine Stimme in seinem Kopf auf ihn ein. – Zu spät kommen, zum Mittagessen, bloß das nicht. Aber, wie sollte er es bis ein Uhr nach Hause schaffen? Für die Strecke brauchte er immerhin, da es die meiste Zeit bergauf ging, eine knappe halbe Stunde, wenn es gut lief und keine rote Ampel ihn aufhielt. Er bezahlte hastig, nahm sich die Tüte mit dem Buch und stürmte dann aus der Buchhandlung, schloss sein Fahrrad auf, schwang sich auf den Sattel und haute in die Pedale was das Zeug hielt.
Günter wusste zwar nicht, wie er es geschafft hatte, aber Punkt ein Uhr stand er vor der Haustür. Er war zwar etwas außer Atem, aber er hatte es geschafft, pünktlich zu sein. Er stellte sein Fahrrad in der Garage ab. Die Kartoffeln könnte er auch noch später holen, dann hätte er wenigstens seine Ruhe beim Mittagessen und musste seiner Frau den desolaten Zustand der Nachtschattengewächse erst später erklären. Am besten am Abend, wenn es dunkel war und man die Triebe nicht mehr so gut erkennen konnte, dachte er und nahm seinen Regenschirm, die Tüte mit dem Harry Potter Band und verschloss die Garage. Im Treppenhaus roch es nach Nudelsuppe. Hoffentlich kommt der Geruch nicht aus unserer Wohnung. Als er die Wohnungstür geöffnet hatte, war es traurige Gewissheit. Der Geruch im Treppenhaus kam aus seiner Wohnung. Es gab mal wieder "Schlabberwasser mit Nudeln und Würstchen". Dann hätte er die Kartoffeln auch sofort mit hoch nehmen können, dachte er. Nudelsuppe konnte er nicht ausstehen.
Beim Mittagessen erzählte er seiner Frau, dass er sich von seinem Taschengeld ein Harry Potter Buch gekauft hatte. Seine Frau war begeistert. Nicht über Harry Potter, da sie mit dem Namen genau so wenig anfangen konnte, wie Günter vor einer Woche noch. Nein, sie war einfach froh, dass er sein Geld wenigstens einmal für eine vernünftige Sache ausgegeben hatte und das auch noch für Literatur, wo ihr Mann doch seit Jahren kein Buch mehr aufgeschlagen hatte, waren ihre Gedanken. Sie war richtig stolz auf ihn.