Kapitel 5 - Wer Wind sät...

Die Sonne blickte schmal und schwach durch eine Landschaft aus Schleierwolken die sich am Horizont formten, als Veyd die Luke öffnete und an Deck kam. Rolaf hatte noch nicht zum Frühstück gerufen, aber es konnte nicht mehr lange dauern. Er konnte den morgendlichen Haferschleim nicht mehr sehen, aber zu seinem Unglück hervorragend riechen.
Sie waren nun seit 11 Tagen unterwegs, so lange war er noch nie vom Land getrennt gewesen und obwohl er viel helfen konnte, war ihm oft langweilig. Er vertrieb sich die Zeit mit bisher erfolglosen Versuchen der Baronesse näher zu kommen. Schon am ersten Abend, nachdem er beim Spiel verloren hatte, war er durch den Flur geschlichen um die Kajüte der Dame zu identifizieren. Doch dann kam der Zwerg, verwickelte ihn in ein Gespräch und nahm ihn mit in dessen Kajüte.
Gorgul Grabssohn war Händler für Edelsteine und seltene Metalle. Lang und breit erzählte er von Reisen und Handeln die er abgeschlossen hatte. Veyd konnte keinen Alkohol riechen, aber ganz nüchtern schien der Zwerg dennoch nicht zu sein. Erst nach langen Geschichten kam er auf das Spiel und Rafael zu sprechen. Schlagartig wurde seine Miene hart und seine Worte giftig. Veyd blieb dann nicht mehr lang, der Zwerg wurde ihm ungeheuer.
Nun wusste er zwar, wo die schöne Melissa residierte, aber ihre beiden Begleiter waren hellhörig und den ganzen Tag in ihrer Nähe. Wann immer er sie sah, warf er Lächeln und intensive Blicke in ihre Richtung, und in den letzten Tagen fing sie sie auch. Er war auf dem richtigen Weg und er hatte noch zehn Tage.
Er schritt zum Bug und setzte sich in das kleine Kastell dort. Der Wind war stark und trieb sie zügig voran, Hamanael war bereits an der Tagelage zugange, Alexandro am Ruder auf dem großen Achterkastell.
Die Seemänner waren ihm ein willkommener Umgang. Nach dem holprigen Start mit Ikariol hatte Veyd erst Zweifel gehabt, aber schon nach den ersten Handgriffen an Deck hatten sie ihn als Matrosen anerkannt. Sie hatten sich viel zu erzählen, auch wenn sie auf seine Geschichten herabsahen, weil er „nur“ die Küste entlang unterwegs gewesen war. Allemal waren die Unterhaltungen fruchtbarer als die Gespräche mit seinen neuen Freunden.
Er hatte sich alles so wunderbar ausgemalt. Sie lernen sich kennen, entdecken Gemeinsamkeiten, retten einander Leben bei gefährlichen Abenteuern auf Berggipfeln oder in verlassenen Ruinen. Die Seereise verhieß für ihn den Beginn einer tiefen Verbundenheit, und an Land wirkten beide offen, begeistert. Die Freundschaft der drei hätte stark und sicher werden sollen.
Und nun? Er wusste so gut wie nichts von den Beiden. Rafael war als Erntehelfer bei einem Obstbauern gewesen, schwieg sich aber über alles weitere aus und zuckte nur mit den Schultern wenn man ihn nach seinen Plänen fragte. Seit dem ersten Abend machte er einen großen Bogen um Gorgul. Er scheute den Konflikt. Elisander war als Schlosser ohne festen Arbeitsplatz unterwegs gewesen, aber auch er blieb eine klare Perspektive schuldig. Oft hatte Veyd das Gefühl, dass etwas die Beiden verband. Ob es nur daran lag, dass sie sich, wenn auch verzaubert, zuerst trafen, oder ob sie schlicht gemeinsame Pläne machten die ihn nicht vorsahen, konnte er nicht sagen. Veyd musste sich darauf verlassen, dass die Ausgaben die er so leichtfertig für beide getätigt hatte, sie fürs erste an ihn banden, sie ihm treu blieben, wenn sie erst ankommen würden. In allen Gesprächen mit den beiden suchte er seine Zweifel vor ihnen zu verbergen.
Während er grübelte kam Melissa mit ihren beiden Fleischklumpen hinauf. Er lächelte, setzte seinen verführerischsten Blick ein. Melissa zog die Mundwinkel hoch, doch senkte den Blick dann schnell und verschwand in der Türe. Kjolp sah ihn dafür an, zog aggressiv die Oberlippe hoch und legte den Kopf schief. Er schien zu überlegen, ob er den Weg zu Veyd auf sich nehmen sollte oder nicht, entschied sich dann aber für sein Frühstück. Bisher hatte er weder Rum bekommen, noch eine Gelegenheit den Beiden davon etwas abzugeben. Ein Jammer.
Er beschloss. solange seine Begleiter ihm nicht das Vertrauen entgegen brachten, das er für nötig hielt, würde er sich mehr um Melissa kümmern. Irgendwas, irgendwie musste es möglich sein der adligen Jungfer nahe zu kommen.
Rolaf kam aus der Türe, winkte ihn herüber und verschwand dann nach unten.

Vorgestern waren die letzten Äpfel und Birnen verbraucht worden, nun war das Frühstück noch weniger Gaumenfreudig. Schweigend saßen sie am Tisch, Rafael, Elisander, Hamanael, Uthar, Rolaf und er selbst, aßen lustlos die braungraue Masse die der Smutje zubereitet hatte. Er war kein schlechter Koch, das nicht, aber es gab eben nur wenig Geschmack aus Haferschleim herauszuholen. Und am elften Tag hintereinander waren alle Zungen im Raum des Nährbreis überdrüssig.
Während alle ihren eigenen Gedanken nachhingen, besah sich Veyd die Tätowierungen von Uthar Baal genauer. Bisher hatte er den seltsamen Mann nur Essen und Lesen gesehen. Geschlafen hatte er, soweit Veyd das beurteilen konnte, noch keine Minute. Die Hautzeichen verliefen über den kahlen Schädel von der Basis auf der linken Seite hinauf auf die Platte bis zur linken Augenbraue. Die abgebildeten Symbole waren fremdländisch, doch einige wenige kamen ihm bekannt vor. Arkane Zeichen die er einst studieren musste, aber es war zu viele Jahre her, benennen konnte er sie nicht. Das Uthar ein Magier war, schien bei seinem Verhalten nicht überraschend. Doch Veyd hätte zu gern die Natur seiner Fähigkeiten ergründet, vielleicht sogar von ihm gelernt. Doch Baal war eben, wie er war. Er aß und las und sonst nichts weiter, jedes Gespräch wurde abgeblockt.
Veyd verließ mit Hamanael die Kombüse nachdem die beiden aufgegessen hatten.
„Und, Veyd, bist du noch voller Eifer dabei?“
„Spannend ist es, keine Frage.“
Sie gingen durch die Türe aus dem Achterkastell und standen an Deck, die Morgensonne wärmte ihre Gesichter und das Meer duftete nach Fisch und Salz.
„Tja, heute sieht nicht so spannend aus. Der Wind steht auf Raumschot für uns, hier draußen gibt es keine Untiefen, kaum Strömung die uns betrifft. Die Vasa segelt sich wie von allein.“
Nach einer kurzen Pause grinste Veyd den Elfen an: „Fischen?“
„Ha, du kommst auf Ideen, Mensch. Schau mal wie schnell wir unterwegs sind, bei dem starken Wind. Wenn du es da fertig bringst etwas zu fangen, kriegst du meinen Tagessold dafür.“
„Abgemacht!“

Er fing nichts. Aber immerhin hatte er für die nächsten Stunden eine Beschäftigung. Zwischendurch kam auch Melissa an Deck und genoss die Morgensonne, doch Taruk und Kjolp stellten sich demonstrativ zwischen ihn und sie. Später verschwand sie mit ihren Schatten wieder unter Deck.
Nach zwei Stunden erfolglosem Haken-ins-Meer-werfen, schlenderte Veyd hinauf zum Ruder.
Alexandro war von Zacharias abgelöst worden, der Schiffsjunge hielt das Ruder gelangweilt auf Kurs.
„Hey dort, Seemann.“, Veyd erhob die Hand zum Gruß und Zacharias grinste.
„Wie geht’s dem Herren Finkeltal?“
„Finkental, wie die Vögel. Finken. Tal.“
„Verzeiht mir, oh Vogelherr.“, Zacharias begann verdrossen auf das Meer zu blicken. „Gibt nichts zu tun heute, wie? Hab deine jämmerlichen Angelversuche gesehen. Überlass das den Elfen, die können das wenigstens.“
„Ich zeig dir gleich was Jämmerliches, vorlauter Bengel. Aber Recht hast du, der Tag wird lang.“
„Und zeigt Baronesse von Braunfurt schon Interesse an dir?“
„Die Baronesse wäre mir längst verfallen, wenn die beiden Leibwächter nicht wären. Aber das wird schon noch. Was geht’s dich überhaupt an?“
„Mich? Nichts, freilich. Aber es ist nicht so, als wären eure Blicke unauffällig und euer Geflüster unhörbar.“
„Sei es drum.“, Veyd wand sich zur Reling. „Hörst du das auch?“
„Ich höre nichts.“, Zacharias schaute sich nach ihm um, spitzte die Ohren.
Es war Gesang. Unter ihm sang jemand, die Stimme war nur schwach gegen den Wind und die Wellen zu hören und klang melancholisch. Veyd hängte sich weit über die Reling um besser hören zu können, trotzdem blieben Fetzen im Wind hängen.

„… der sanfte Tag zieht weiter,
die Nacht steht bald bevor
wenn …
wenn sie kommt,
wird nichts mehr wie zuvor.

Das Lachen nie vergessen,
… kaum gekannt,
der Schleier wird …,
das Ende steht bevor,
wenn es kommt,
… kommt,
wird nichts mehr wie zuvor.“

Das Lied endete und Veyd wollte sich schon wieder zurücklehnen, als er das Bullauge bemerkte, aus dem die Stimme zu ihm gedrungen war. Es stand deutlich offen und war ziemlich groß.
„Glaubst du, ich passe durch eines von den Bullaugen?“
Zacharias fuhr herum. „Was?“
„Nichts, nichts.“, Veyd schlich gedankenverloren zu den Seilen. Er nahm gerade eines in die Hand und prüfte die Festigkeit, als Kapitän Rubin nach oben kam.
„Zacharias, ich löse dich ab. Wir müssen den Kurs korrigieren.“
Veyd wurde sofort neugierig und sah sich ruckartig um. Es war kein Land in Sicht, zumindest vom Kastell aus, keine Möglichkeit sich zu orientieren. Waren sie abgedriftet?
„Was ist denn los?“, Zacharias war offenbar ebenso überrascht wie Veyd.
„Siehst du dort am Horizont die dichten Wolken? Ich habe den Luftdruck beobachtet in den letzten Stunden, und wir steuern vielleicht in eine Sturmfront. Wir umfahren das Unwetter jetzt, so weit draußen ist ein Sturm kein Vergnügen. Ich zeig dir nachher in meiner Kajüte wie man sowas erkennt und welchen Umweg wir nehmen.“
„Würdet ihr es mir auch zeigen?“, Veyd kam näher ans Ruder in der Hoffnung mehr zu lernen.
„Ah, Herr Finkental. Natürlich… sobald ihr bei mir an Bord als Schiffsjunge anheuert, bringe ich euch derlei gerne bei.“, sein Grinsen verschlug Veyd das seine.
„Aber ich habe in den letzten Tagen viel zugepackt. Ihr selbst habt mich noch vor zwei Tagen gelobt.“
„Ihr seid kein schlechter Seemann, aber wenn ihr euch entsinnt, es war Teil der Abmachung, dass ihr helft um dafür billiger nach Übersee zu kommen. Und da euer Freund Rafael keine große Hilfe ist, außer beim Kartoffelschälen vielleicht, müsst ihr eigentlich für Zwei anpacken. Dafür seid ihr nicht gut genug.“
„Ich…“, Veyd seufzte schwer. Er konnte dem Kapitän nur Recht geben.
„Habt ihr nicht etwas mit euren Abenteurerfreunden zu besprechen? Und du Zacharias, lauf Alexandro helfen, wir haben viel zu tun.“
Erst wollte Veyd nochmal ansetzten, besann sich aber eines Besseren. Blick und Haltung des Kapitäns hatten das Gespräch eindeutig beendet. Und solange der Kapitän am Ruder stand, konnte er auch seinen Bullaugenplan nicht weiter verfolgen. Er setzte sich auf die Bank vor dem Kastell und beobachtete Alexandro, Zacharias und Hamanael bei der Arbeit, bereit zu helfen, wenn er gerufen wurde.

Mit der Zeit wechselte der Wind die Richtung, die drei Matrosen hatten viel zu tun um die Vasa auf Kurs zu halten und den Wind zu nutzen. Nach seiner Hilfe fragte jedoch keiner. Stunden vergingen, irgendwann setzten sich Rafael und Elisander zu ihm. Er wurde aus Beiden nicht schlau. Einerseits schienen sie sich gut zu verstehen, andererseits hielten sie auch Abstand. Der Halbork saß zu seiner Linken, der Halbelf rechts. Rafael roch inzwischen selbst gegen den Wind unangenehm.
Der Wind nahm zu, und zu ihrer Linken war jetzt der Sturm am Horizont sichtbar. Bedrohlich, vielleicht, aber weit weg und Veyd hatte keine Zweifel, dass die Besatzung wusste, wie sie ihm entgehen.
Taruk kam hinauf, nickte den Dreien zum Gruß und kletterte hinauf zum Kapitän. Einige Momente später kam er wieder hinab und wand sich an Veyd.
„Herr Finkental, Kapitän Rubin bittet darum, ihr möget Ikariol wecken und zu ihm schicken.“
Deswegen war Taruk wohl kaum zu ihm gegangen. Ob sich Melissa wegen des stärkeren Windes fürchtete? Von ihrer Kajüte aus konnte sie wohl auch den Sturm sehen.
„Geht es der Baronesse gut?“
Taruks Miene versteinerte. „Lasst es unsere Sorge sein, kümmert euch lieber um den Wunsch des Kapitäns.“, sagte er und stieg unter Deck. Veyd folgte ihm und bahnte sich einen Weg durch die Kisten und Netze zu ihren Pritschen.
Uthar las, seinen magischen Augengläsern ging offenbar nie das Licht aus. Ikariol schlief auf einer Pritsche zur Rechten. Veyd wusste nicht, wie lange der Elf schon schlief, aber es konnten kaum mehr als vier Stunden gewesen sein. Es musste wohl genügen.
„Ikariol, hey, wach auf. Der Kapitän will dich sehen.“
„Mmrgmm…hmas?“, kaum mehr als ein Stöhnen als sich Ikariol zu ihm umdrehte.
„Es gibt einen Sturm, dem der Kapitän auszuweichen sucht.“
Ikariol setzte sich auf, seine spindeldünne Brust kam unter der Decke zum Vorschein. Woher der schlaksige Elf die Kraft nahm um seine Arbeit zu verrichten war Veyd ein Rätsel.
„Ist Rolaf an Deck?“
„Hab ihn seit dem Frühstück nicht gesehen. Wieso?“
„Wenn der Kapitän Rolaf an die Segel lässt, ist es ernst. Sieht man den Sturm schon?“
Veyd nickte.
„Hört man ihn?“
Veyd schüttelte den Kopf.
„Dann sag dem Kapitän, ich bin auf dem Weg.“

Momente später stand er vor dem Kapitän. „Ikariol ist aufgewacht und macht sich fertig.“
„In Ordnung. Dich brauche ich wohl auch. Geh zu Alexandro und sag ihm, er soll dir Zacharias Aufgabe geben und den Jungen aufs Nest schicken.“
Veyd tat wie ihm geheißen, auch wenn er die Hektik in Rubins Stimme nicht verstand. Der Sturm schien weit weg und die Mannschaft keineswegs überfordert.
Er tauschte die Plätze mit Zacharias und half beim schiften des Vorsegels, während der Schiffsjunge hinauf ins Krähennest kletterte. Wenige Augenblicke danach hörte er Rufe von oben.
„Sturm Steuerbord, kommt näher.“
Veyd schaute in Richtung der Wolken. Sie lagen Backbord. War der Junge nicht in der Lage links und rechts zu unterscheiden, oder…
„Sturm Backbord kommt auch näher. Kein Land in Sicht, keine Schiffe in Sicht.“
Zacharias kletterte wieder hinab, und Veyd lief ein Schauer über den Rücken. Sie lagen zwischen zwei Schlecht-Wetter-Fronten die sich aufeinander zubewegten. Darum war auch der Wind so stark und wechselhaft.
Der Kapitän winkte Alexandro zu sich und überließ ihm das Ruder. Dann kam er auf Hamanael und Veyd zu. „Macht die Segel fest, holt Rolaf und Zacharias her, und auch deine beiden Landrattern sollen sich hier einfinden. Schnell.“

Bis auf Alexandro, der noch immer das Ruder hielt, war die ganze Besatzung gemeinsam mit den drei Abenteurern am Mast versammelt. Kapitän Rubin nahm kein Blatt vor den Mund.
„Diese beiden Stürme sind eine Katastrophe. Wenn sich solche Fronten treffen entstehen mindestens Orkane, vielleicht sogar Wirbelstürme. Wir sind aktuell noch weit genug von beiden entfernt, und der Wind ist noch segelbar, also fahren wir weiter und hoffen aus der Zone hinaus zu kommen, bevor sich hier ein Monstersturm entwickelt. Aber wir müssen jetzt Maßnahmen ergreifen, falls wir das nicht schaffen.“
Rubin legte eine Pause ein und sah in die Gesichter. Vor allem Elisander wurde merklich blass, aber auch Zacharias und Rafael wirkten verängstigt. Veyd spürte auch einen Knoten in den Eingeweiden, der dort nicht hingehörte.
„Ihr, Herr Mandelbaum, geht zur Baronesse, ihren Leibwachen, dem Zwergen und zu Meister Baal und weist sie an, alles Bewegliche festzumachen und sich auf schweren Seegang einzustellen. Uthar soll für die nächsten Stunden zu Gorgul in die Kajüte. Anschließend helft ihr Zacharias im Laderaum.
Du,“, dabei zeigte er auf den Schiffsjungen, „geh dort hinunter und kontrolliere die Laschung, jedes Seil und jedes Netz. Zweimal. Da soll nichts hin und herfliegen. Jede Luke, jede Türe, alles muss fest verschlossen sein, verstanden?““
Zacharias nickte und machte sich mit Elisander auf den Weg nach unten.
„Herr Finkental, habt ihr je einen Sturm auf See erlebt?“
Veyd schluckte. Es war keine Zeit um unnötig zu übertreiben. „Ja, nein, nicht wirklich.“
„Geht das auch etwas genauer?“
„Ich weiß, was zum Abwettern zu tun ist, aber meistens haben wir passende Tiefen aufgesucht und einfach einen Treibanker geworfen, wenn das Beiliegen nicht mehr möglich war. Die Stürme waren nie so… gewaltig.“
„Keine Sorgen, Junge, ist nicht unsere erste Begegnung mit einem Herbststurm.“, offenbar hatte Veyd ängstlicher geklungen als gedacht, das Lächeln des Kapitäns war als Aufmunterung gedacht.
„Ihr geht Hamanael und Ikariol mit den Segeln zur Hand. Achtet auf Hamanaels Anweisungen. Rolaf, kümmere dich um Kombüse und alles andere im Achterkastell. Dann sorge bitte für das Tauwerk, geh alles durch, Want, Schot, jedes Seil muss sitzen und in Ordnung sein.“
„Was soll ich tun?“, Rafael fragte mit ein wenig Enttäuschung in der Stimme, weil er bisher keine Beachtung bekommen hatte.
„Ihr, Herr Rafael, habt eine immens wichtige Aufgabe. Jeder der an Deck sein wird in den nächsten Stunden wird an diesen Zapfen mit einer Sorgleine und einem Gurt befestigt, ich zeige sie euch sofort. Eure Aufgabe ist es, diese drei Männer,“, dabei zeigte er auf die Elfen und Veyd, „hier ordentlich fest zu machen. Wenn Rolaf wieder kommt, macht ihr auch ihn fest.“ Dann drehte er sich und zog Rafael mit. „Dort oben, Alexandro, wird ebenfalls gesichert. Zum Schluss sichert ihr euch selbst hier am Mast und bleibt hier bis ich euch etwas Anderes sage. Passt nur auf die Sicherungsseile auf.“
Nachdenklich betrachtete der Kapitän beide Stürme. Der Sturm Steuerbord war inzwischen auch von Deck aus auszumachen.
„In Ordnung. Refft das Großsegel auf zwei Drittel. Weiß jeder was er zu tun hat? Wenn mich jemand sucht, ich bin in meiner Kajüte. Jetzt kommt, Herr Halbork, wir gehen hier draußen keine Risiken ein.“
Sie verschwanden unter Deck und Hamanael gab Veyd die ersten Anweisungen. „Du bleibst beim Spinnaker, der Wind dreht gerade. Und versuch nicht über Bord zu gehen, bis du gesichert bist.“, der Elf hieb ihm spielerisch auf die Schulter und wand sich dann dem Großschot zu.

Es dauerte eine Weile bis Rafael mit einem halben Duzend Leinen und Gürteln aus dem Laderaum kam. Vorsichtig und ordentlich legte er sie auf der kleinen Bank ab und kam dann mit einem Gürtel und einer Leine auf ihn zu. Der Seegang hatte bereits etwas zugenommen und Rafael taumelte auf dem sich bewegenden Deck vorwärts.
„Hier, zieh den an. Ich mach das Seil da fest.“, er brüllte fast und deutete auf den Mast.
„Danke. Aber du brauchst nicht zu Schreien. Noch sind wir dem Sturm einen Schlag voraus.“

Eine Stunde später, sah alles anders aus.

Die Wellen wurden groß.
Jeder war auf seinem Posten und gesichert. Der Kapitän war inzwischen zu Alexandro ans Ruder getreten, Rolaf behielt die Tagelage im Auge, Rafael hielt sich am Mast fest. Die Elfen und Veyd bedienten die Segel. Jeder andere an Bord war unter Deck und hielt sich vermutlich ebenso krampfhaft fest wie Rafael.
Das Unwetter war noch immer zweigeteilt. Über ihnen waren kaum Wolken zu sehen, doch zu beiden Seiten befanden sich breite, dunkle Teppiche aus aggressiven Gewitterwolken. Blitze durchzuckten die dichte Landschaft aus schwarzer Wolle und der Wind blies ihnen nun schon geraume Zeit direkt entgegen, den Am-Wind-Kurs konnten sie nur durch beständiges Kreuzen einigermaßen halten, aber dadurch entkamen sie der Schere der Stürme nur umso langsamer. Die hohen Wellen ließen immer wieder Gischt auf Deck sprühen und Veyd war sich nicht sicher, ob seine Kleidung vom Schweiß oder vom Meerwasser durchnässt war.
Es war ein riesiges Vergnügen.
Von links nach rechts hechteten sie, die Segel hinter sich herziehend, er bediente das leichte Vorsegel, den Spinnaker, und die beiden Elfen das große Hauptsegel.
Zeit den Sturm zu beobachten oder gar zu bewundern blieb ihm nicht. Ständig kamen neue Anweisungen und es kostete viel Kraft sich gegen Wind zu stemmen und das Segel herumzureißen. Er schnaufte schwer, und musste dennoch grinsen.
„Geht’s noch, Veyd?“
Hamanael rief ihn gegen den Wind an. Das Tosen des Meeres ließ auch keine andere Wahl mehr.
„Natürlich. Warum fragst Du, hast Du keine Lust mehr?“
Hamanael sah sich nach Ikariol um, und als er sich sicher war, dass er ihn kurz alleine lassen konnte, hangelte er sich zu Veyd vor.
„Du wirfst dich ganz schön in die Wanten, Junge, und gerade wäre Dir das Schot fast entglitten. Soll Rolaf dich ablösen?“
Erschöpft war er, keine Frage, aber die Blöße wollte er sich nicht geben.
„Unsinn, ich habe den Spaß meines Lebens.“
„In Ordnung. Aber erinnere dich…“, eine kräftige Welle traf sie von Steuerbord und beide mussten einen Ausfallschritt machen um nicht umzukippen. Gischt und Meerwasser stürzte über sie. Hamanael spukte aus. „Erinnere dich was der Kapitän gesagt hat: Wir gehen hier draußen keine Risiken ein.“
Er ging zurück auf Position und schon kamen die nächsten Befehle vom Kapitän.
„Spinnacker Backbord, und pass auf die Rahnock auf!“, brüllte Hamanael, Veyd löste das Schot aus der Sicherung und stieß sich schnaufend auf die andere Seite.

Wenige Minuten danach schloss sich die Wolkendecke zu einem abwechslungsreichen Grau in Schwarz über ihnen. Hamanael schrie etwas, das Veyd zunächst nicht verstand. Er konzentrierte sich und hielt die Hand als Ohrmuschel.
„Segel reffen!“
Veyd war irritiert. Ja, der Sturm war laut und bedrohlich, aber wenn sie jetzt die Segel reffen, war es vorbei mit dem Beiliegen. Sie würden einfach nur Treiben, und bei der Windrichtung noch nicht einmal in die richtige Richtung.
Dann sah er, dass der Kapitän, Alexandro und Rolaf auf sie zukamen. Hektisch blickte er sich um, hier war etwas im Gange.
Dann sah er die Wellen.
Noch hatte der Wind nicht gedreht, aber hinter ihnen, dort wo die Stürme sich zuletzt verbunden hatten, türmten sich Wellen in der Größe von Wohnhäusern auf.
„Schnell, refft die Segel. Ikariol, Spinnaker, hilf Veyd. Alexandro, Hamanael, rauf und Großsegel reffen. Rolaf, Sicherungsseile. Los, solang der Wind noch steht.“
Tatsächlich blies der Wind schwächer. Offenbar drehte er bald, und einige hundert Schritt hinter ihnen hatte er das schon.
Ikariol war geschickt und Veyd musste kaum etwas tun um das Segel zu beizuholen. Der leichte Spinnaker war ihm Nuh verschwunden. Sie befestigten gerade die Tagelage, als sie einen Schrei hörten. Gleichzeitig schauten Beide nach oben.
Alexandro stürzte, und fiel seitwärts von der Rah. Unerträglich langsam schien er in die Seile zu fallen, Rolaf sah ihm verzweifelt hinterher und fasste das Sicherungstau fester. Doch die Leine war zu lang.
Veyd ließ das Tau los, das den Spinnaker hielt und starrte mit offenem Mund zu Alexandro hinauf. Das Sorgeseil, das ihn schützen sollte, drohte sich um seinen Hals zu legen. Alexandros Arm streckte sich, reckte sich zum nächsten Tau, doch bekam es nicht zu fassen, und das Seil schloss sich gefährlich. Rolaf sah die Schlinge, das drohende Erhängen seines Steuermanns und ließ los.
Doch das half nicht.
Das lange Sorgeseil war in der Takelage verheddert, Alexandro schwang mit und griff sich an die Kehle. Das Seil rutschte, verbrannte seine Haut, und zog sich immer mehr zu. Am Mast reagierte Kapitän Rubin mit der einzigen verbliebenen Rettung – er zog den Zapfen und löste so das Sorgeseil.
Alexandro fiel wieder, landete unsanft auf der Rah und setzte seinen Sturz in Richtung Deck fort. Doch bevor er aufschlagen konnte, ging ein Beben durch das Schiff.
Die Vasa wurde von hinten getroffen, die Welle war groß und die Kogge kippte Backbord. Niemand an Deck konnte sich auf den Beinen halten, Hamanael und Rolaf klammerten sich an Mast und Rah. Und Alexandro fiel nicht mehr auf die Planken – sondern über die Reling.
„Mann über Bord!“
Noch bevor er ganz außer Sicht war, brüllte Ikariol hinter Veyd los. Veyd sah das Sorgeseil, es war immer noch an des Steuermanns Gurt befestigt, das schnell von Bord zu gleiten drohte. Veyd raffte sich auf die Arme und hechtete zum Seil.
Er bekam es zu fassen.
Die Muskeln anspannend, stemmte er sich gegen die Reling und versuchte gegen die reißenden Fluten das Leben von Alexandro zu gewinnen. Doch seine Muskeln waren schwach, ausgelaugt von der Arbeit am Segel. Er biss die Zahle zusammen, ignorierte die Schmerzen und schrie gegen den Sturm.
Das Seil glitt ihm weg.
Die Fasern verbrannten seine Handflächen.
Er fluchte, es half nichts. Die See war zu stark.
Er spürte das Ende des Seils näher kommen. Verzweiflung stieg in ihm hoch.
Dann tauchte eine Hand neben ihm auf.
Rafael griff nach dem Seil, schlug es um sein Handgelenk und stemmte sich ebenfalls gegen die Reling. Der Halbork ragte neben ihm auf und nahm ihm das Seil ganz aus den Händen. Seine Muskeln spannten sich, die Venen auf seinen Oberarmen traten deutlich hervor. Gischt und Schweiß flossen an ihm herab. Er hielt das Seil fest.
Nein.
Er zog es ein. Handschlag um Handschlag.
Ikariol kam hinzu, stellte sich hinter Rafael und gab Kommando.
„Zieh.“
Aber es war nicht Ikariols Kraft, hier zog nur der hünenhafte Halbork.
„Zieh.“
Mehr und mehr Seil kam zurück an Bord, und Veyd hievte sich über die Reling.
„Zieh.“
Er sah das Seil in der stürmischen See verschwinden, noch keine Spur von Alexandro.
„Zieh.“
Erneut traf eine starke Welle das Schiff und das Deck bebte. Ikariol wankte, ging auf ein Knie. Rafael hingegen blieb stehen. Und zog.
Ikariol kam wieder hoch, griff erneut in das Seil und gab wieder den Takt.
„Zieh.“
Alexandro tauchte auf, bewegte sich nicht.
„Zieh.“
Veyd nahm den letzten Rest seiner Kraft zusammen und stellte sich hinter Ikariol.
„Zieh… zieh… zieh.“
Gemeinsam zogen sie Alexandro wieder an Deck. Als sein Körper auf die Planken krachte, knickte Veyd vor Erschöpfung ein.

Die Vasa lenzte nun vor Topp und Takel. Keine Segel mehr hießen, dass der Wind nur auf Mast und Heck drückte und das Schiff vorwärts schob.
Veyd sah dabei zu, wie Rafael den verletzten Alexandro zum Kastell trug. Ikariol half derweil Hamanael und Rolaf vom Mast herunter. Am Ruder konnte Veyd den Kapitän sehen, offenbar hielt er mit Mühe die Vase auf geradem Kurs zu den Wellen. Wenn eine der Großen sie seitlich treffen würde, konnte das Schiff kentern. Doch er sah auch, wie sich die Wolken vor ihnen lichteten. Sie fuhren aus dem Sturm heraus.
Veyd raffte sich auf und löste Rafael aus der Sicherung am Mast – ihm fiel erst an der Türe auf, dass er noch festgemacht war. Der Wind blies scharf über seinen Kopf hinweg, als die Anderen endlich vom Mast herunter geklettert waren.
„Segel sind gerefft, wir sollten die Schleppleinen auswerfen damit wir nicht zu viel Fahrt machen.“, Hamanael sah Veyd dann mit unsicherem Blick an. „Und du gehst vielleicht deinem Freund helfen, du siehst ziemlich fertig aus.“
„Ach was, mir geht’s gut.“
„Wirklich, Veyd, geh unter Deck und ruh‘ dich aus.“, Rolaf legte ihm die Hand auf die Schulter und bekam einen fast väterlichen Gesichtsausdruck.
„Unsinn, wir sind noch Mitten im Sturm…“, sein Ausruf kam gekrächzt aus seinem Rachen.
Ikariol machte sich bereits auf den Weg zum Kapitän, am Heck sollten die Schleppleinen ausgeworfen werden.
„… und ich kann euch nicht einfach alleine lassen.“
„Veyd, lass dir das gesagt sein: Du hast dich übernommen, und der nächste der hier über Bord geht ist so gut wie verloren. Du zitterst und bist blass wie ein Geist. Geh rein, wärm dich auf und lass es für heute gut sein.“
Mit diesen Worten führte Hamanael ihn in Richtung des Kastells, das Schiff schwankte unter ihnen im Wellengang und Veyd spürte plötzlich keinen Widerstand mehr zwischen Oberschenkel und Wade. Seine Knie wurden weich, sein Gang taumelnd, schlingernd. Rolaf kam von der anderen Seite hinzu und stützte ihn.
„Hey Großer, kipp uns nicht um jetzt.“, Rolaf lächelte und musste gleichzeitig selbst arbeiten um die Bewegungen des Schiffs auszugleichen.
„Außerdem sind die Segel eingeholt, wir können hier nicht viel tun, außer auf die Fähigkeiten von Kapitän Rubin am Steuer zu vertrauen.“
An der Türe angekommen, lösten sie die Sorgegurte und brachten ihn in Alexandros Kajüte, wo Rafael neben dem liegenden Steuermann stand.
Der Halbork wirkte besorgt. „Die Atmung ist flach. Er reagiert auch nicht auf mich.“
Hamanael drückte ihn zur Seite und beugte sich zu Alexandro, Rolaf setzte Veyd auf einen schmalen Stuhl.
Der Elf betrachtete den Verletzten eingehend. „Er hat viel Wasser geschluckt. Und ich befürchte…“, die Vasa bekam erneut einen schweren Stoß, alle mussten sich irgendwo festhalten, Alexandro rutschte auf der Liege ein Stück in Richtung der Wand. Erstaunlicherweise schien nichts im Raum umzufallen, alles war gut verstaut.
„Ich befürchte, er hat sich bei dem Sturz Rippen und Schulter gebrochen. Veyd, Rafael, bleibt bitte bei ihm, bis wir aus dem Sturm herauskommen und uns anständig um ihn kümmern können. Bei dem Wellengang sind Behandlungen sinnlos.“
„Und was mache ich, wenn es ihm schlechter geht?“, Rafael blickte Rolaf und Hamanael nach, als sie die Kajüte verließen.
„Ihr beide kriegt das hin…“, Rolaf schenkte dem Halbork ein Lächeln. „… passt nur auf, dass er nicht aus der Koje fällt.““
Dann waren sie allein.
Rafael beugte sich kurz über Alexandro, drehte sich dann aber zu Veyd um.
„Bei meinem Bart, deine Hände sind verbrannt.“
Er griff unter Veyds Hände und betrachtete sie genauer. Sie begannen jetzt deutlich zu schmerzen.
„Wann ist das passiert?“
„Das Tau… der Zug war zu stark… es ist mir durch die Finger…“
Das Schiff wurde wieder durchgeschüttelt. Veyd hatte Mühe sich auf dem Stuhl zu halten. Langsam schlich die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass er sich wirklich zu viel zugemutet hatte.
„Soll ich die Hände mit was verbinden? Veyd, hörst du mich überhaupt.“
Veyd starrte in die Leere, geradeaus gegen die Kajütenwand.
„Veyd?“
Die Stimme entfernte sich und wurde dumpf. In Veyds Kopf drehte sich die Welt.
„Hey, Veyd.“, er spürte noch wie sich eine Hand auf seine Schulter legte, bevor sich sein Magen verkrampfte, er sich auf seine Stiefel übergab und die Besinnung verlor.

Seine Orientierung ließ einen Moment auf sich warten. Er war in einer Koje, die nicht seine war. Da war auch ein Bullauge. Welche Kajüte war das?
Veyd setzte sich auf, was seinen Kopf zum Schwindeln brachte. Seine Handfläche brannte schmerzhaft, als er sie als Stütze missbrauchte. Mühsam kam er hoch und sah hinaus. Der Wellengang war hoch, aber gleichmäßig mit wenig Gischt. Der Himmel grau. Der Sturm lag offenbar hinter ihnen.
Ihm dämmerte, dass er sich in Rolafs Kajüte befand. Er hatte mal einen kurzen Blick hinein geworfen und erinnerte sich an das Regal mit den Seesäcken in der linken Ecke.
Alexandro.
Der Gedanke brachte wohl ein Gefäß in seinem Kopf zum Platzen, denn mit der Sorge um den Steuermann kamen starke Kopfschmerzen. Veyd rieb sich die Augen, während er aus dem Raum schlich und zur nächsten Tür wankte.
Er klopfte.
„Ja?“, Rolaf klagt überrascht.
Veyd trat in die kleine Kajüte und sah zu seinem Erstaunen Uthar Baal neben Alexandro knien. Rolaf saß auf dem kleinen Stuhl und sah ihn mit großen Augen an.
„Hey Veyd, du bist wieder wach. Schön. Solltest du nicht lieber noch ein wenig ausruhen.“
„Geht schon.“ – das wollte Veyd sagen. Sein Hals war verschleimt und er röchelte weit mehr als er sprach.
„Watt?“
Veyd räusperte sich, er klang dennoch belegt und schwächer als ihm lieb war. „Ich sagte, es wird schon gehen.“
„Uthar behandelt die Brüche von Alexandro.“
Uthars tiefe Stimme resonierte in Veyds Schädel als er sich ihnen zu wandte und sagte: „Das werde ich, wenn ihr mich endlich in Ruhe arbeiten lasst.“
„Komm.“, Rolaf zog Veyd nach draußen, raus aus dem Deck unter freien Himmel. Veyd wurde plötzlich sehr kalt und er rieb sich die Arme. Dennoch tat die frische Luft sehr gut und half seinen Kopf zu beruhigen.
„Hier setz dich her. Ich bring dir etwas Wasser. Oder möchtest du einen Rum?“, Rolaf grinste als sich Veyds Augen weiteten. Er nickte.
Der Smut verschwand und für einen Moment wähnte sich der junge Mann alleine. Dann bemerkte er Ikariol der vorne am Spinnaker arbeitete. Sie hatten das Vorsegel inzwischen wieder gesetzt, das Hauptsegel war noch immer gerefft.
Rolaf kam zurück und hielt ihm einen kleinen Becher unter die Nase, der verdächtig scharf roch. Veyd nahm einen kräftigen Schluck und wollte das angenehme Brennen genießen. Als der Alkohol jedoch seinen Rachen hinab floss, war der Brand alles andere als schön. Seine Gaumen war noch von der Übelkeit gereizt und weigerte sich, den Rum zu genießen. Gequält lächelte er Rolaf an. Dessen Bart bog sich unter einem wirklich breiten Grinsen auseinander.
„Ist mein bester Tropfen, ein schwarzer Rum aus Radawen. Illinger Chaosblut heißt der Stoff. Herrlich.“
Er setzte sich zu ihm und sie genossen – der eine mehr als der andere – ihren Rum schweigsam. Nachdem der starke Alkohol die meisten empfindsamen Bereiche in seinem Hals abgetötet hatte, schmeckte es wirklich nicht schlecht. Und er wärmte von Innen.
„Warum ist das Großsegel nicht gesetzt?“
„Bei dem Sturz vorhin, ist das Segel angerissen. Und bei den starken Winden hat Kapitän Rubin entschieden, dass Ikariol sich morgen früh um das Segel kümmert und wir erstmal unter Notsegel segeln. Wir verlieren sicherlich einen Tag Reisezeit durch den Sturm und die langsame Fahrt jetzt, aber alle brauchen etwas Ruhe.“
Nachdenklich nippte Veyd am Rum und lies seinen Blick über die Vasa Baltazar gleiten. Bis auf die Schäden am Segel gab es keine erkennbaren Probleme durch den Sturm.
„Geht’s dir besser?“
„Hrrrm…“, Veyd sah zum Himmel und dachte über die Antwort nach. Seine Hände brannten, sein Hals schmerzte und sein Kopf pochte. „Besser, ja. Aber ich freue mich auf das Abendessen.“
Rolaf sprang auf. „Stimmt, ich hab dir ja noch gar nichts verraten. Rubin läd dich und Rafael heute Abend an seine Tafel. Ihr bekommt vom guten Essen.“
Veyd richtete sich auf und seine Schmerzen traten in den Hintergrund. „Wirklich?“
„Ja, natürlich. Als Dank für eure Hilfe während des Sturms. Uthar kommt auch dazu, weil er sich um Alexandro kümmert.“
Veyd rieb sich den Bauch und bereute die Geste, als seine Hände zu schmerzen begannen. Trotzdem lächelte er und Rolaf grinste zurück.
Die Türe öffnete sich und Uthar Baal kam heraus. Er musterte Rolaf und Veyd kurz und stellte sich dann vor den sitzenden Finkental.
„Du bist ohnmächtig geworden?“
Veyd nickte. Uthar betrachtete kurz die Verbrennung an seinen Händen und wand sich dann seinen Augen zu. Mit einer Hand hielt er seinen Kopf, mit der anderen öffnete er die Augen und sah tief hinein. Veyd spürte den Atem des kahlen Mannes und konnte seine Tätowierungen genau sehen.
„Nichts. Alles in Ordnung. Du bist nur ein Weichei.“
„Was soll das heißen? Und was weißt du überhaupt von Medizin, bist du ein Quacksalber?“
„Du verstehst ohne nichts von dem, was ich bin. Also belass es dabei, dir fehlt nichts außer einer Titte zum Nuckeln.“, durch seine tiefe, dröhnende Stimme klangen die Wörter noch bösartiger als sie ohnehin waren. Veyd stand auf und sah auf den Mann hinab.
„Hast du ein Problem mit mir?“
„Körperliche Gewalt, wie niedlich.“, tatsächlich sah man Uthar hier zum ersten Mal lächeln. „Nein, du bist kein Problem für mich. Ich verschwende nur einfach nicht gerne meine Zeit mit Tölpeln, die nicht genug trinken und daraus eine riesen Vorstellung machen.“
„Hab ich dich darum gebeten?“
„Nein, nein hast du nicht. Kapitän Rubin hat das für dich übernommen.“, Uthar sah ihm direkt in die Augen. Veyd war längst zu wütend um seinen Blick zu senken. Dennoch kroch der Gedanke in seinen Geist, dass er tatsächlich unterlegen war, auch wenn der Mann keine Muskeln hatte. „Muss der Kapitän noch mehr für dich erledigen, oder kann ich jetzt zu meinem Buch zurück?“
Irritiert schaute Veyd zum Boden. Er stand auf der Luke, ihm war nicht aufgefallen, dass er sich überhaupt vorwärts bewegt hatte.
„Wie du willst, Leseratte.“, Veyd versuchte verächtlich zu schnaufen, doch es klang gekünstelt. Er drehte sich weg und setzte sich wieder auf die Bank, Uthar verschwand nach unten.
Rolaf hatte während des Gesprächs unbewegt neben den Beiden gestanden.
„Weißt du, Veyd…“, er legte eine Hand auf seine Schulter und sah ihm in die Augen. „Ich verstehe ja, dass du dich in deiner Ehre nicht kränken lassen willst. Aber vielleicht verzichtest du darauf den Magus zu reizen, während wir hier auf dem Schiff sind. Ich habe keine Lust auf den Boden des Meeres zu sinken, nur weil dein Zorn auf ihn überschwappt.“
„Ach,“, Veyd winkte ab, „sowas kann der doch gar nicht. Der ist nur ein dahergelaufener Magier.“
„Hm, ja, ja, natürlich. Und der Riesenschlächter Brank vom Feuerschlund hat es hauptsächlich mit Halblingen aufgenommen und der heilige Rodgerus zu Neunkammer ist nur so ein bisschen gläubig gewesen.“, aufwändige Gesten unterstrichen die Ironie die seine Stimme bereits in die Worte legte. „Darf ich annehmen, dass du noch nie von Uthar Baal gehört hast?“
Veyd sah ihn verstört an und forschte in seinen Erinnerungen. Der Name ließ keine Bilder hervorspringen.
„Du hast recht, noch nie.“
„Siehst du, und ich auch nicht. Aber er ist ein Magier. Was wissen du oder ich schon davon, was er kann oder nicht kann?...“, Veyd fing bei diesen Worten an zu Lächeln. „…er hat eine Lampe die nie ausgeht. Vorhin hab ich gesehen, wie er die gebrochenen Knochen von Alexandro mit kaum mehr als einem seltsamen Pulver und ein paar Worten geheilt hat. Ich werde mich nicht mit ihm anlegen und du solltest es ebenso wenig.“
„Ach Rolaf… komm mal kurz mit.“, er ging mit dem Smutje zur Reling und brach hier ein winziges Stück Holz ab. „Schau genau hin.“
Veyd hielt das Hölzchen zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. Heftig arbeitete sein Verstand, die Gesten in die richtige Reihenfolge und die Wörter in die richtige Tonlage zu bringen.
„Analav…“
Es war lange her.
„… wanua’chem…“
Seine Hand erinnerte sich besser als sein Verstand.
„…kza…“
Aber sie schmerzte.
„…nav…“
Eine letzte starke Geste mit rechts, Daumen, Zeige- und Mittelfinger gestreckt, Ring- und Kleiner Finger eingezogen, in Richtung des Spans.
„…MAN!“
Das Holzstück glimmte kurz, nur Sekundenbruchteile, und sah dann aus wie zuvor. Rolaf war dennoch beeindruckt.
„Du kannst zaubern?“, seine Augen weiteten sich.
Plötzlich kam eine Stimme von links. „Was ist passiert, warum hat es nicht geklappt?“
Beide Männer wandten sich zur Stimme, es war Elisander, der sich unbemerkt nach oben gestohlen hatte.
„Meine Hand ist verbrannt, das stört sehr bei den Gesten.“
„Aber du bist ein Magus?“, Rolaf machte einen Schritt zurück, weg von Veyd.
„Nein, das wohl nicht. Ich verstehe einiges von Magie und kenne wichtige Teile der alten Magiersprache. Die eine oder andere Formel beherrsche ich auch, aber nicht genug um mich Magus nennen zu können.“
„Und wann,“, Elisander kam auf ihn zu und musterte ihn geringschätzig, „hattest du vor uns das zu sagen?“
„Ich dachte dir wäre das bekannt. Wir waren immerhin gemeinsam bei Meister Amethyst?“
„Na, dass klang aber eher so, als wärest du nach der ersten Klasse von der Universität geflogen und nicht nach Spricht-Die-Sprache-Der-Magier-Fließend.“
Veyd lachte laut. „Bleib auf dem Teppich mein Lieber…“
Rolaf unterbrach ihn. „Ich finde es zwar gerade hoch interessant bei euch, aber ich muss mich entschuldigen, das Essen muss fertig gemacht werden. Dauert nicht mehr lange, dann holt euch Kapitän Rubin ab.“
„Bei meiner ersten Monierzange, Veyd, was soll ich davon denken? Du tischt uns Geschichten über Geschichten von deiner Seefahrerei und deinen Frauen und deinen Reisen, Küste rauf, Küste runter auf, und hältst es nicht für nötig von deinen magischen Fähigkeiten zu erzählen?“
„Elisander, warum wirst du so hitzig? Ja, ich hätte auch von meinen 18 Monaten in der Lehre eines Magus erzählen können, aber das ist weit weniger spannend als du vermutlich denkst.“, Veyd wollte den Arm um des Halbelfen Schulter legen, doch dieser entzog sich der Umarmung.
„Es geht mir nicht darum, wie spannend dein Leben war. Du erwartest von mir, dich auf ein Abenteuer zu begleiten, wie du es nennst, und erzählst nicht, dass du Magie wirken kannst. Wie soll ich dir vertrauen?“
An Veyds Hals schwoll eine Ader. „Du mir vertrauen? Ihr beide, Rafael und du, ihr schließt mich aus, ihr erzählt nichts von euch. Nach allem was ich weiß, könntet ihr geheime Attentäter oder Schmuggler sein, nichts weiß ich von euch.“
Elisander schüttelte den Kopf. „Ist das dein Ernst? Veyd, wir haben keine tollen Geschichten. Rafael war Erntehelfer bei einem Obstbauern, ich war wandernder Schlosser. Da gibt es weder etwas Spannendes zu erzählen, noch geheime Identitäten aufzudecken.“
„Und was ist mit deiner Geschichte mit dem rachsüchtigen Magier? Der hat dich doch niemals verzaubert, nur weil dein Schloss nicht gut genug war?“
Elisanders Wangen füllten sich mit Farbe, er schluckte bevor er antwortete. „Ja, ja, das war nur die halbe Wahrheit. Vielleicht gab es da noch eine unglückliche Begegnung zwischen seiner Tochter und mir, die er mir übel genommen hat.“
Veyd lachte laut auf. „Du? Schwerenöter? Unfassbar, das hätte ich nicht von dir gedacht.“ Er gab Elisander einen freundschaftlichen Stoß auf die Schulter, und auch der Halbelf lächelte.
„Mag sein, dass ich bei unserer ersten Begegnung nicht die ganze Geschichte erzählt habe, aber das ist trotzdem kein verstecktes arkanes Wissen über die mystischen Energien die wir Magie nennen.“
„Gut, ich sehe es ein. Ich war für anderthalb Jahre in einer Magierausbildung, habe mich drei Jahre lang zum Kartographen ausbilden lassen und bin einige Zeit zur See gefahren. Den Rest meines Lebens habe ich als Wasserträger im elterlichen Wirtshaus verbracht, bis ich loszog um Abenteuer zu erleben. Zufrieden?“
„Du bist Kartograph? Wieso?“
„Weißt du, einen Grund gibt es da eigentlich nicht. Ich habe nie den richtigen Beruf für mich gefunden…“
Elisander schaute ihn ohne Verständnis an.
„Woher wusstest du, dass du Schlosser sein wolltest?“
Langsam schüttelte der Halbelf den Kopf bevor er antwortete. „Wir brauchten Geld, und meine Mutter kannte den Schlosser gut. Er war ihr Vetter und ich bekam die Stelle sofort. Wie kommst du auf die Idee, irgendwer in dieser Welt wollte Schlosser werden?“
„Also warst du nie etwas Anderes?“
Er überlegte. „Ich war ein Kind, ein Schüler. Und jetzt bin ich ganz offenbar Abenteurer. Weder von dem Ersteren, noch von Letzterem glaube ich meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aber du, als der Mann mit der Welterfahrung, wirst mir das sicherlich noch zeigen. Nicht wahr?“
Veyd kam nun selbst ins Schwimmen. „Weißt du… irgendwie wird sich das noch finden. Wenn wir erstmal wieder Boden unter unseren Füßen haben, suchen wir uns einen Weg und du wirst sehen, uns stehen alle Türen offen.“
Elisander machte eine wegwerfende Bewegung. „Ich glaube du rezitierst einfach nur Phrasen, ohne wirklich zu wissen, was eigentlich vor sich geht.“ Mit diesen Worten ließ er Veyd stehen und ging zur Türe.
Veyd stand dort an Deck, alleine, blickte seinem Freund nach und fragte sich, ob er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Der Wind glitt über ihn hinweg und es fröstelte ihm. Von Innen und Außen.

Keine halbe Stunde später holte Kapitän Rubin ihn und Rafael persönlich ab.
„Alexandro nimmt nicht am Abendessen teil, es geht ihm noch nicht viel besser. Es wird Wochen dauern, bis er wieder ganz gesund ist. Aber er wird überleben, und ohne euch beide, wäre er uns von der Planke gesprungen. Die ganze Besatzung steht dafür in eurer Schuld.“
Während er mit ihnen sprach, gingen sie zu seiner Kajüte. Weder Rafael noch Veyd hatten bisher die Ehre in das Privatgemach des Kapitäns zu dürfen.
Der Raum war überraschend geräumig. Veyd sah sich interessiert um und stellte fest, dass kein Bett im Raum war. Der Schreibtisch war an den Rand geschoben und die Tafel, an der sie speisen würden, wurde an vier Eisenketten von der Decke gelassen. Sieben Stühle standen bereits um den Tisch, zwei davon waren kleiner, offenbar extra aus der Kombüse geholt. Noch war niemand sonst im Raum.
„Hier, die Plätze sind für euch reserviert. Wir haben normalerweise nicht so viele Gäste, es wird leider etwas eng… Rafael, ich würde dich bitten auf der rechten Seite zu sitzen, etwas weiter von Gorgul entfernt. Bisher seid ihr euch gut aus dem Weg gegangen, es würde mich freuen, wenn wir dabei bleiben.“
„Er war derjenige…“, bevor Rafael den Satz zu Ende brachte hob Rubin seine Hand.
„Ich weiß, Rafael. Aber du musst meinen Standpunkt verstehen. Er hat fast zehnmal so viel bezahlt wie ihr und ich muss auf den Ruf der Vasa achten. Geht euch weiter aus dem Weg, und wir kriegen die letzten Tage auch noch herum.“
Rafael nickte und setzte sich auf den angewiesenen Stuhl. Veyd wanderte noch ein wenig durch den Raum, betrachtete den verschobenen Schreibtisch und blickte aus den Fenstern.
„Sagt, Kapitän Rubin, wo ist eure Koje?“
Rubin lächelte und zwinkerte ihm zu. „Schau hier.“ Er ging zu einem Schrank, und zog eine Klappe auf. Ein Bett kam zum Vorschein. Rubin hielt es fest und klappte es wieder zu, so dass es unsichtbar in der Wand verschwand.
„Es ist ziemlich wenig Platz, und ich habe mir die eine oder andere Raffinesse einbauen lassen um damit umzugehen. Der Schreibtisch steht auf zwei kleinen Schienen.“, er deutete auf schmale Metallleisten am Boden. „Und der Esstisch hängt unter der Decke. Ich bin stolz auf meine Kajüte.“
Zufrieden sah er sich in seinem eigenen Heim um. Veyd setzte sich nun auch, und der Kapitän nahm am Kopf des Tisches Platz. Nur Momente später kamen die Baronesse und ihre Leibwächter in den Raum, und alle standen für die Dame auf. Rafael etwas langsamer und unsicherer als die anderen beiden Herren.
„Einen wundervollen guten Abend, Baronesse von Braunfurt.“, Kapitän Rubin nickte der jungen Frau zu.
„Es ist mir wie immer eine Ehre, Kapitän Rubin.“
„Seid gegrüßt, Baronesse.“, Veyd trat vor und nahm ihre Hand. Taruk und Kjolp verengten ihre Blicke.
„Meister Finkental, ich freue mich, dass ihr heute an unserem Abendessen teilnehmt. Ich wollte mich persönlich für eure Hilfe während des heutigen Sturms bedanken.“, sie öffnete seine Hand. „Was ist das? Ihr wurdet verletzt?“
„Oh, das ist nichts. Kaum mehr als eine Schramme.“
Sie hob ihre linke Hand und strich ihm über die Wange. Sein Blut geriet über die Geste in Wallung. „Ihr seid so ein guter Mann.“
Er hielt ihre Hand lange und sah der jungen Frau direkt in die Augen. Beide lächelten. Dann ließ sie los und wandte sich an Rafael.
„Und von euch, Herr Rafael, habe ich gehört, dass ihr eigenhändig den verletzten Steuermann auf dem Meer gezogen habt?“
Rafael errötete. „Nun… naja, ohne die anderen Männer… ich war es nicht alleine.“
„So bescheiden. Sehr nobel, Herr Rafael.“ Sie wand sich wieder an den Kapitän. „Sollen wir uns setzen?“
Taruk und Kjolp mühten sich nicht mit aufwändigen Begrüßungen ab, schüttelten nur die Hand des Kapitäns. Dann setzten sich alle. Die junge Melissa nahm zur Rechten von Rubin Platz, zwischen ihr und Veyd blieb ein Platz frei. Sie warteten noch auf Gorgul. Auf der anderen Seite saßen die beiden Leibwächter und Rafael. Kjolp beobachtete Veyd und seine Baronesse aufmerksam, offenbar war er nicht glücklich, dass sie am selben Tisch saßen. Veyd blickte zur hübschen Dame und stahl ihr ein Lächeln.
Dann betrat Gorgul den Raum.
Er gab ein verächtliches Schaufen von sich, als er Rafael sah. Ohne ein Wort nickte er zunächst dem Kapitän zu und trat dann neben die Baronesse. Die Edelfrau stand zur Begrüßung auf, alle Herren taten es ihr nach.
„Guten Abend, Meister Grabssohn.“
Der Zwerg verbeugte sich minimal und sah dann zu ihr hinauf, „Guten Abend, Mylady. Hätten eur Wohlgeboren etwas dagegen, für das heutige Essen mit mir den Platz zu tauschen?“
Veyd begann breit zu grinsen, Kjolp sah seine Herrin schockiert an.
„Nun, ganz wie es euch beliebt, Meister Grabssohn. Doch darf ich fragen, welches der Anlass für den neuen Platzwunsch ist?“
„Ach, wisst ihr…“, er funkelte kurz zum Halbork herüber, „…es beliebt mir nicht so sehr, in der Mitte zu sitzen.““
Offenbar wollte er um jeden Preis so weit wie möglich von Rafael entfernt sitzen. Veyd kam die Gelegenheit wie gerufen. Er rückte des Anstands halber noch ein wenig fort. Nicht zu viel. Gerade so, dass er wie ein vornehmer Herr von Welt wirkte.
Gorgul zog der Baronesse den Stuhl zurecht, damit sie sich setzen konnte. Alle folgten ihr, die Tafel war komplett.
Rubin ergriff das Wort. „Wohl an, jetzt wo wir vollständig sind, darf sich nochmals alle zu diesem besonderen Abendmahl begrüßen. Nicht nur, dass wir dank der Hilfe dieser beiden tapferen Abenteurer erfolgreich aus einem der schlimmsten Stürme meines Lebens entkommen sind, sie haben auch das Leben meines geschätzten Steuermanns Alexandro Winkler gerettet.““
Während er sprach, schüttete er allen vom Rotwein ein kleines voll Glas ein. Schließlich ergriff er seines und hob es nach oben. Jeder andere nahm nun sein eigenes Glas.
„Ein Toast auf Veyd Finkental und Rafael, und meinen persönlichen Dank an unsere wackeren Abenteurer. Sie leben hoch!“, sprach er und trank. Dabei sah er zwischen Veyd und Rafael hin und her. Alle Anwesenden tranken gleichfalls, selbst Gorgul, der dabei jedoch nur zu Veyd hinüber sah und keinen Blick an Rafael verschwendete.
„Ich lasse jetzt das Essen kommen, einen Augenblick bitte.“, der Kapitän stand auf und ging hinaus.
Als Melissa ihr Glas abstellte, streifte sie Veyds Arm. Sie zog reflexartig zurück, aber er konnte ihr Lächeln sehen. War es Absicht gewesen?
„Du hast vielleicht dabei geholfen ein Leben zu retten, Ork.“, Gorgul deutete mit dem linken Arm auf Rafael. „Aber glaub nicht, dass deine Verbrechen damit abgegolten sind.““
Rafael starrte ihn verwundert an, und auch Veyds Aufmerksamkeit schwenkte nun von der Dame zum Zwerg hinüber.
„Kennst du ihn etwa?“, Taruk schien ernstlich interessiert.
Gorgul winkte ab. „Dieser Eber, ein anderer Ork, was soll der Unterschied sein? Die Verbrechen seiner Rasse sind die Seinen.“
„Ich bin kein Ork, ich bin ein Halbork.“, seine Stimme war fest. Rafael schien nicht gewillt sich noch mehr von Gorgul gefallen zu lassen.
„Oh, und das macht es natürlich besser.“, Abscheu lag in Stimme und Blick des Zwergen. „Dein zweimeter Schweinevater hat eine unschuldige Menschenfrau geschändet und weil deine arme Mutter ein zu gutes Herz hatte, deinem Dasein direkt ein Ende zu bereiten, müssen wir nun deine Anwesenheit hinnehmen.“
„Nur damit ihr es wisst, Gorgul, Sohn des Grab, mein Vater war ein Mensch, meine Mutter war eine Orkfrau. Keiner von Beiden hat den Anderen gezwungen. Es waren Menschen die mich ihr entrissen und…“, er zögerte. „Und was geht euch meine Abstammung an. Lasst mich in Frieden. Euer Vater muss wohl ein Esel gewesen sein, so stur wie ihre auf mich einhakt.“
Alle lachten. Außer Gorgul.
Veyd konnte sich nicht entsinnen, Rafael je so reden gehört zu haben. Gorgul lief purpur an und setzte dem Halbork weiter zu: „Wie kannst du Missgeburt es wagen, in so einem Ton…“, doch Rafael stand auf und unterbrach ihn. Seine Stimme war kräftig und laut, ohne dass er schrie.
„Ich wage hier meine Ehre zu verteidigen, wie es mir beliebt, Zwerg. Ich schulde dir nichts, ich tat dir nie etwas, und deine Unfähigkeit zu erkennen, dass ich nicht der Ork bin, der dir was auch immer angetan hat, entnervt mich aufs Tiefste. Halte dein Mundwerk geschlossen, oder ich reiße es auseinander. Verstanden?“
Gorgul saß mit offenem Mund einfach nur da. Die Baronesse zu Braunfurt bekam Angst und klammerte sich an Veyds Arm. Der Zwerg stand ebenfalls auf und stemmte die Fäuste auf den Tisch, der dadurch gefährlich schaukelte.
„Du…“, er zögerte. Rafaels sicheres Auftreten hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hob den Finger in seine Richtung. „Du nutzloser……“, wieder brach er ab, senkte den Blick. Plötzlich hörte man ein Schluchzen. Dann fiel eine einzelne Träne auf den Tisch. Ohne den Kopf zu heben sprach Gorgul nun mit leiser Stimme.
„Drei Orks und ein Halbork haben meine Freunde und mich auf der Handelsstraße zwischen Illingen und Sonnenbrück überfallen. Jagus haben sie bei dem Überfall sofort getötet. Ergan und mich haben sie gefangen genommen, und stundenlang gefoltert. Ohne Ergans Hilfe, hätte ich nicht fliehen können. Als ich einen Tag später mit Söldnern zurück kam um ihn zu holen, fanden wir nur seine zerfetzten Überreste. Ich habe nie wieder auf dem südwestlichen Kontinent Handel getrieben.“
Die Tür schwang auf. „Wer hat Hunger auf ein Festmahl?“
Kapitän Rubin und Rolaf betraten den Raum, Teller voller Essen balancierend. Sie zögerten als sie die beiden Feinde stehend vorfanden.
Rafael durchbrach die Stille. „Euer Verlust und euer Schmerz tuen mir Leid, jedoch kann weder meine Rasse noch ich selbst etwas für eine Bande von Strauchdieben.“
Rolaf brachte nun doch das Essen an den Tisch, ohne ein Wort zu sagen. Rubin folgte kurz danach. Offenbar wollten sie die beiden Streiter nicht unterbrechen.
Gorgul indes hob den Blick. „Glaub nicht, es war der einzige Eintrag im Schuldbuch deiner Rasse. Ich kann nicht aufzählen wie oft ich Probleme mit Orks hatte, schon davor. Diebe, Räuber, Fälscher und Wucherer, das habe ich Jahr um Jahr gesehen. Nun pflege ich meinen Handel nur noch zwischen Balsam und Teros. Wenn auch in Teros die Oger aus den Blutfußbergen eine Gefahr sind, ist der Handel allemal problemloser als mit den Ork verpesteten Städten in Manaheim und Verdunim auf dem südöstlichen Kontinent. Wenigstens lässt niemand die Oger hinter die Stadtmauern von Bregoheim.“
Rafael ging langsam um den Tisch. Alle beobachteten seinen Weg. Selbst Rolaf blieb noch im Raum anstatt die letzten Teller zu holen. Gorgul wich leicht zurück, unsicher was Rafael vorhatte.
Schließlich erreichte der Halbork den Zwerg, überragte ihn um einen halben Meter. Er umarmte den Zwerg.
„Ich habe auch gelitten in meinem Leben.“, Gorgul stutzte über Geste und Worte des Mannes. „Und auch wenn ich deinen Schmerz nicht nachempfinden kann, teile ich ihn nun.““, der Zwerg schluchzte und umarmte nun seinerseits Rafael. Die beiden Erwachsenen standen aneinander gedrückt im Raum, während alle anderen Anwesenden den Atem anhielten.
„Deine Trauer lindern vermag ich nicht, es vermag niemand. Aber sieh‘ mich als Freund und ich werde dir Ohr und Schulter versprechen für jeden Moment in dem du sie brauchst.“
Die Kajüte des Kapitäns lag in Stille, nur das Rauschen des Meeres und das Schluchzen des Zwergenhändlers in den Armen des hünenhaften Halborks waren zu hören.

Es dauerte einige Minuten, sie aßen ohne dass ein Wort am Tisch den Besitzer wechselte. Gorguls Tränen waren getrocknet und Rafael hatte einen seltsam seligen Gesichtsausdruck bekommen.
Die Dame von Braunfurt ergriff als Erste das Wort: „Euer Koch, Kapitän Rubin, hat euch alle Ehre gemacht. Dieses Mahl ist wirklich einmalig. Woher kommt plötzlich dieses Fleisch? Ist es Fasan?“
„Ja, Baronesse, ist es. Schön, dass es euch schmeckt. Für seltene Gelegenheiten halten wir immer etwas besonders gutes Fleisch in unserer Kühltruhe.“
Kjolp schaute interessiert. „Was, bei den Neun Tiefen, ist eine Kühltruhe?“
„Oh, ein ganz wunderbares Objekt. Ich habe diese Truhe vor vier Jahren von einem Scharlatan in Muhamesad gekauft. Er hat die kleine Kiste mit einem immerwährenden Zauber durchwirkt, eine Kälteaura, wodurch sie im Inneren eisig kühl bleibt, egal wie warm es draußen wird. Es passt leider nicht viel hinein, aber frisches Fleisch kann man damit etwa zwei Wochen lang genießbar halten. Perfekt für Abende wie diesen.“
„Derlei Magie muss teuer gewesen sein?“, Veyd hatte schon von dauerhafter Magie gehört, aber das jemand Derartiges verkaufen würde, war ihm neu.
„Sagen wir, ich habe ein gutes Geschäft gemacht an jenem Tag.“, Rubins Grinsen war fast diabolisch.
„Wirklich beeindruckend, Herr Kapitän.“, Fräulein von Braunfurt nickte anerkennend.
„Naja, ganz nett.“, Gorgul zog die Aufmerksamkeit erneut auf sich. „In Bregoheim gibt es einen Zauberer… also, eigentlich zwei Zauberer, ein Ehepaar… jedenfalls haben sie in ihrem Laden eine verzauberte Glaskugel, die die Zukunft vorhersagen kann. Das würde ich wirklich beeindruckend nennen und keine kalten Vögel.“, bei der letzten Bemerkung schwenkte er fordernd eine Keule des Fasans.
„Die Zukunft?“, fragte Taruk.
„Absolut und zuverlässig.“
„Aus einer Kugel?“, fragte Kjolp.
„Unfehlbar.“
„Ich glaube, Meister Grabssohn, ich hätte von einer solchen Kugel gehört. Die Vasa lag mehr als einmal in Bregoheim.“, Kapitän Rubin musterte den Zwerg genau während er sprach.
„Nein, nein, es ist nicht so, dass das Zaubererpärchen umher zieht und jedem von der Kugel erzählt. Hätte ich den Beiden nicht einige ausgesuchte Smaragde aus dem Reich der Ranari verkauft, und als Entlohnung einen Blick in die Kugel erhalten, wüsste ich auch nichts davon.“
„Was hat euch die Kugel enthüllt, Grabssohn?“, Veyd war interessiert und skeptisch zugleich. Hellsichtsmagie war erheblich seltener als Betrüger.
„Es waren sogar drei Weissagungen. Ich würde bei meiner nächsten Reise großen Gewinn machen, ich sollte bei der folgenden Reise mit Problemen rechnen, und… nun, die dritte Prophezeiung bleibt mein Privatvergnügen.“, lächelnd lehnte er sich zurück und rieb sich den Bauch.
„Haben sich die erste und zweite Voraussage erfüllt?“, Melissa sah ihn gespannt an.
„Wort für Wort, meine Teure. Und umso mehr freue ich mich auf die Erfüllung der Dritten.“
Veyd senkte den Blick und grinste während er einen weiteren Bissen des köstlichen Festmahls zu sich nahm. Das, was der Zwerg für Weissagungen hielt, konnte jeder Jahrmarktsastrologe. Die Zauberer, wenn sie welche waren, hatten ihn reingelegt, daran bestand für den ehemaligen Magierlehrling kein Zweifel.
„Oh, Meister Grabssohn, ich bin neugierig.“, die Baronesse lächelte zum Zwerg hinab. „Sagt mir doch bitte, was eure dritte Prophezeiung besagt.““
Gorgul lachte laut auf. „Sei es drum, aber ihr dürft es niemand sonst verraten.“
Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, sich zu ihm zu beugen. Er flüsterte ihr etwas zu, und ihr Gesichtsausdruck wurde immer erstaunter.
„Nein, wirklich?“
Der Händler nickte.
„Und wie lang ist das her?“
„Morgen sind es genau einhundert Tage.“
„Also…“, die Baronesse blickte gedankenverloren zur Decke.
„Noch zwölf Tage. Wenn man heute mitzählt. Ich bin sehr gespannt.“, der Zwerg rieb sich die Hände.
Kapitän Rubin schluckte den letzten Bissen seines Fasans herunter. Alle hatten das Schauspiel zwischen der Adligen und dem Händler wortlos beobachtet, doch jetzt sprach der Hausherr ein Machtwort.
„Lassen wir dir Geschichten von Magie und Hellseherei einstweilen ruhen. Wenn alle mit ihrem Mahl zufrieden und gesättigt sind, würde ich jetzt noch einen kleinen Umtrunk ausschenken.“
Veyd horchte auf. Ein feiner Tropfen, vielleicht das Puzzlestück was nötig war die Leibwachen von der Maid zu trennen.
„Nicht für mich, Kapitän Rubin, der Wein zum Essen hat mich bereits schläfrig gemacht.“, die junge Frau hielt damenhaft die Hand vor den Mund.
„Soll ich euer Hochwohlgeboren in ihre Kajüte bringen?“, Taruk schickte sich an aufzustehen. Veyd sah erwartungsvoll zur Baronesse. Sie erwiderte seinen Blick und lächelte. „Aber nein, Taruk. Die Gespräche des Abends möchte ich wirklich nicht missen müssen, die Tage auf See sind mir wahrlich lang genug. Außerdem haben unsere Helden mir noch gar nicht die ausführliche Geschichte von der Rettung unseres Steuermanns erzählt. Wollt ihr nicht, Meister Finkental?“
Es schien Taruk und Kjolp nicht zu gefallen, aber der Kapitän holte Rum für alle - guten, starken Rum - und Veyd holte zur Erzählung aus.
Er ließ keine Kleinigkeit seines Kampfes gegen Mutter Natur aus, und an der einen oder anderen Stelle kamen sogar Details hinzu, die vorher noch niemandem bekannt waren. Am Tisch herrschte Stille, während die Herren vom Schnaps kosteten und er erzählte und erzählte. Als er seine Position bei der Rettung von Alexandro gerade blumig ausschmückte, bemerkte er, wie sich Rafaels Blick veränderte.
„Und natürlich wäre die Rettung nie gelungen, wäre der gute Rafael mir nicht zur Seite gesprungen. Alleine hatte ich nur mühevoll gegen das tosende Meer anhalten können, aber mit dem starken Arm meines Freundes hier brachte ich Alexandro wieder an Bord.“, Veyd war sich nicht zu fein seine Geschichte mit ausladenden Gesten zu untermalen und holte nun ein unsichtbares Seil ein. „Schlag um Schlag, Elle um Elle rangen wir den Mann der See ab. Ikariol gab Kommando, und wir packten und zogen, packten und zogen, bis sich der bewusstlose Körper aus einer Welle schälte. Als ich Alexandro an Deck hob und atmen sah, war die Erleichterung überwältigend.““
Veyd sank in seinen Stuhl. Gorgul und Taruk nickten anerkennend. Kjolp verzog keine Miene, nippte nur am Rum. Die Baronesse, und das war ohne Zweifel das Wichtigste für Veyd, sah ihn mit glasigen Augen schmachtend an. Rafael kommentierte als Erster die Erzählung.
„Weißt Du, Veyd, wenn du doch so gerne Geschichten von Dir mit Dir und über Dich erzählst, warum erzählst du nicht von deinem ausschweifigen Abend in Treumund, von dem du mir vor ein paar Tagen erzählt hast.“
Veyd wurde ein wenig rot. „Ich glaube nicht…“
„Oh ja, Meister Finkental, erzählt nur zu. Ward ihr auf Abenteuerreise?“, der Gesichtsausdruck der Dame wandelte sich nicht. Kjolp grinste nun.
„Nun, ich würde sagen… nein…“
„Ach was, Veyd, sei nicht so bescheiden. Erzähl Baronesse von Braunfurt von deinem Abenteuer. Wie sonst würdest du zwei dunkelhaarige Schönheiten nennen?“
Kjolp klopfte Rafael freundschaftlich auf die Schulter und der Kapitän prustete ein wenig.
„Ich glaube nicht, dass die Baronesse…“
Ton und Mimik der Dame schlugen um. Sie schob die Schultern zurück und sprach fest. „Wagt nicht für mich zu sprechen, Herr Finkental. Auch fürchte ich, dass die Gespräche eine unschickliche Wendung nehmen.“, sie stand auf, die Herren kamen unbeholfen und überrascht ebenfalls auf die Beine. „Ich ziehe mich in meine Kabine zurück. Habt vielen Dank für das schmackhafte Mahl, Kapitän Rubin. Ich empfehle mich. Taruk.“
Ein kurzer Knick zur Gesellschaft, dann verließ sie mit ihrem Leibwächter den Raum. Die Herren setzten sich wieder und Veyd stürzte den in seinem Glas verbliebenen Rum hinunter.
Gorgul klopfte ihm auf die Schulter. „Passiert den Besten, junger Mensch.“
„Ich für meinen Teil muss mich bei unserem halborkischen Freund hier bedanken. Taruk und ich bringen die Baronesse zu ihrem Verlobten, Graf Redgar von Arachnon. Die Baronesse ist noch jung, unerfahren und leicht zu beeindrucken, da ist solch ein steiler Hengst das Letzte was wir gebrauchen können.“
„Hey, was soll das be…“, doch bevor Veyd ausgesprochen hatte, hob der kräftige Wächter beschwichtigend die Hände.
„Nichts für ungut, Herr Finkental, ihr würdet es verstehen, hättet ihr selbst eine Tochter.“
„Bei den Frauengeschichten, wer weiß wie viele er hat…“, Rafael nahm kein Blatt vor den Mund.
„Du!“, Veyd deutete mit ausgestrecktem Finger und eiserner Miene auf Rafael. „Du hast mir die perfekte Gelegenheit verbaut, alle Chancen auf die Dame sind dahin.““
„Veyd, was auch immer dein Problem mit Frauen und deinem Drang nach Unzucht ist, denk darüber nach es in den Griff zu bekommen.“, Rafael wirkte nüchtern auf den Menschen. Hatte er überhaupt vom Rum getrunken? Vom Wein?
„Ich hatte noch nie ein Problem mit Frauen und treibe so viel Unzucht wie ich es für nötig halte…“
„Aber vielleicht nicht mit versprochenen adligen Jungfern.“, unterbrach ihn Kjolp.
Veyd schaute irritiert in die Runde. Nachdem sich Gorgul mit Rafael vertragen hatte, schienen sie sich nun alle gegen ihn zu verschwören. Veyd schüttelte den Kopf.
„Was geschieht hier?“, er stand auf, „Vor ein paar Minuten noch war ich der Held dieses Schiffs.“
„Nur in deiner eigenen Geschichte, Mensch.“, Rafael stand jetzt ebenfalls auf. „Wäre ich nicht da gewesen, wäre Alexandro niemals zurück aufs Schiff gekommen. Weil du dich maßlos überschätzt hast. Gekotzt hast du vor Anstrengung, deine Hände zerrissen, weil du glaubst alles immer zu können. Du hast den Mann nicht gerettet, ich war das, mit Ikariols Hilfe.“
Veyd starrte den Halbork, den er für seinen Freund gehalten hatte – hatte er das? – fassungslos an.
„Du hast Grenzen, die sind nicht einmal sonderlich weit gesteckt. Hättest du dich früher am Frontsegel ablösen lassen, wäre es vielleicht anders gelaufen. Hättest du mir nicht drei Duzend verschiedene Frauengeschichten aufgetischt, wäre es heute Abend vielleicht auch anders gelaufen.“
Immer noch stand der junge Mann mit offenem Mund neben seinem Stuhl. Der stinkende Halbork war nicht nur undankbar, immerhin hatte Veyd für diese Überfahrt bezahlt, sondern gerade heraus feindselig.
„Genug jetzt.“, er sah zu Kapitän Rubin. „Habt ihr nichts dazu zu sagen, Kapitän?“
„Was soll ich schon sagen? Das er Recht hat? Ich war dabei, und eure Geschichte hat die Wahrheit tatsächlich nur von weitem gesehen. Versteht mich nicht falsch, eure Hilfe war wichtig. Aber ihr habt weit weniger beigetragen als eure Erinnerung euch glauben zu machen scheint.“
Veyd sah noch einmal in alle Gesichter, und verließ dann mit rotem Kopf den Raum. Auf dem kurzen Gang nach draußen kam ihm Taruk entgegen, der ihn zu grüßen versuchte. Wortlos rauschte Veyd an ihm vorbei und drang nach draußen.

Die frische Luft klärte seinen Geist. Vorher war ihm nicht einmal aufgefallen, wieviel Nebel von Wein und Rum um seinen Verstand gelegt worden war. Er atmete tief ein, genoss die Frische in den Lungen und spürte die Wut seinen Kopf verlassen.
Nach einigen Minuten begann es ihm zu frösteln. Er warf einen letzten Blick auf die blinkenden Sterne zwischen den wenigen Schleierwolken am Horizont und öffnete dann die Luke nach unten.
Die letzte Stufe knarrte gerade unter seinem schweren Schritt, als er einen kurzen Laut aus dem Gang zur Rechten.
„Psst“
Veyd blickte in den Gang, die hintere Türe auf der rechten Seite war einen Spalt geöffnet.
„Allein?“
Erst schaute er kurz nach oben, dann nickte Veyd. Eine Hand winkte ihn herüber. Die Hand gehörte der Baronesse.
Vorsichtig durch den Gang schleichend sah sich Veyd immer wieder um. Er wollte jetzt nicht von Kjolp oder Taruk überrascht werden. Endlich drückte er sich in den dunklen Raum und schloss die Türe hinter sich.
„Warte dort, an der Türe.“
Veyd beobachtete die Silhouette von Melissa im Raum, gegen das schwache Licht der Sterne das durch das Bullauge fiel, sah sie aus wie der Schatten der Liebe selbst. Sie kam auf ihrem Bett zum Ruhen, beugte sich vor und entzündete eine kleine Lampe. Die helle, dünne Flamme blendete ihn kurz, dann sah er die Baronesse in einem pelzbesetzten Morgenmantel und mit übereinander geschlagenen Beinen auf ihrer Bettkante sitzen. Ihre linke Hand stütze sie auf dem Holz ab, während die Andere den Mantel geschlossen hielt. Ihre nackten Füße und der größere Teil ihrer hellen Waden ragten hervor, der frei schwebende rechte Fuß wippte verspielt als sie ihn endlich ansprach.
„Meister Finkental, ich muss schon sagen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, erfahren zu müssen, dass ihr gar kein edler Recke, kein tugendhafter Held, sondern vielmehr ein Schürzenjäger seid.“, trotz ihrer Worte lächelte sie.
„Ich würde mich nicht als Schürzenjäger bezeichnen…“
„Und was war das für eine Geschichte mit den zwei Frauen, in Treumund, wenn ich recht entsinne?“
„Nun, nein, das war ganz anders. Damals… wir haben nur…“
„Also habt ihr nicht Unzucht getrieben, mit diesen Frauen?“
„Was? Nein, um Xelors Willen, nicht, nicht sowas.“
Melissas Lippen bogen sich lasziv, ihre Stirn runzelte sie.
„Also seid ihr ein Mann von Tugend?“
„Absolut.“
„Ihr würdet niemals mit einer Frau unschickliche Dinge anstellen, die einem anderen versprochen ist?“
Sie verlagerte ihr Gewicht und schlug die Beine auf, stellte sie nebeneinander. Sie hielt noch immer den Morgenmantel, strich mit der neuerlich freien linken Hand über den Fellbesatz.
„Natürlich nicht. Niemals.“
Die Baronesse blickte ihn lange an. Die kleine Lampe konnte den Raum kaum ausleuchten, er glaubte nicht, dass sie seine Augen sehen konnte. Oder seinen Schritt.
Schließlich stand sie auf, das Licht fiel nun von hinten auf ihren Körper und verwandelte ihn in eine dunkle Schablone mit gelbem Heiligenschein. Ihre Kurven zeichneten sich gegen das Glühen ab, ihre Haare standen in Flammen.
Dann ließ sie den Morgenmantel fallen.
Das Licht rahmte nun ihre nackte Haut. Die breiten Hüften, die zierlichen Brüste, die in die Taille gestemmten Arme.
„Auch dann nicht, wenn sie darum bittet, Meister Finkental?“

Etwas mehr als eine Stunde später, sie lagen eng umschlungen in dem schmalen Bett, hörten sie Schritte auf dem Flur.
„Sollen wir noch nach der Baronesse sehen?“
„Nein, Taruk, sie schläft sicher… obwohl, schau mal nach dem Menschen, nicht, dass er auf dumme Ideen gekommen ist.“
Schritte entfernten sich. Veyd dämmerte, wo sie als Erstes nach ihm suchen würden. Zügig, aber vorsichtig, glitt er über seine Geliebte, die den Atem anhielt. Ihre verschwitzten Körper bewegten sich aneinander vorüber, bis er vom Rand des Bettes hinunterfiel. Er fing den Sturz mit seinem Arm ab, verdrehte dabei das Handgelenk schmerzhaft. Die Zähne aufeinander beißend, rollte er sich unter das Bett. Melissa löschte das Licht und richtete die Decke.
„Kjolp, er liegt nicht in seiner Koje.“
„Dieser Sohn einer räudigen Hündin. Gut, sehen wir nach der Baronesse.“
Die Türe schwang langsam auf. Veyd konnte die Füße der beiden Leibwachen im Türrahmen sehen.
„Baronesse von Braunfurt, seid ihr wach?“, Kjolps kräftige Stimme ließ einen Schauer über Veyds Rücken kribbeln.
Melissa versuchte gleichmäßig zu atmen. Veyd versuchte gar nicht zu atmen.
„Baronesse, bitte wacht auf.“
„Hrmm… was ist los? Kjolp?“
„Baronesse, war Veyd Finkental hier?“, Taruks Zwischenfrage wurde von einen kurzen Hieb von Kjolps Rechter quittiert. Er übernahm das Reden wohl lieber selbst.
„Bitte entzündet ein Licht, Baronesse.“
„Muss das sein?“
„Bitte, Baronesse, vertraut mir.“
Die kleine Lampe wurde erneut entzündet und Veyd drückte sich so weit weg vom Licht wie er konnte.
„Niemand war hier. Was wollt ihr von dem Bock?“
„Wir sind nur um eure Sicherheit besorgt, Baronesse.“
„Sicherheit…“, Veyd hörte wie sich Melissa aufsetzte. „Ich habe bisher nicht gut geschlafen, das sonderbare Abendessen heute Abend liegt mir quer. Vielleicht hilft es wenn einer von euch hier bleibt, aufpasst?“
Veyd wurde kurz übel. Wie sollte er jemals aus dem Raum kommen, wenn sich Taruk oder gar Kjolp hier niederließen?
„Nein, Baronesse, das können wir nicht tun. So etwas ziemt sich nicht. Taruk kann sich vor die Türe setzen, wenn ihr das wünscht.“
Auch dies wäre keine schöne Aussicht für Veyd.
„Ich glaube nicht, dass mich das besser schlafen lässt. Eine eingesperrte Adlige ist keine glückliche Adlige, das wisst ihr doch.“
„In Ordnung, Baronesse. Ich wünsche noch eine angenehme Nacht.“
Veyd sah, wie Kjolp Taruk hinausschob und die Türe schloss. Das Licht wurde gelöscht und der Liebhaber kroch unter dem Bett hervor. Melissa legte den Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte dann.
„Wir warten noch ein paar Minuten.“
Regungslos lagen sie da, warteten. Veyd hörte die nächste Türe gehen und Knarzen im Holz des nächsten Raumes. Gedämpft, kaum hörbar gegen das allgegenwärtige Rauschen des Meeres, waren Stimmen zu hören. Schließlich stand Melissa auf, ging im Dunkeln zu einem Schrank. Veyd konnte wieder nur die Form der jungen Frau sehen, keine Details. Trotzdem gefiel ihm was er sah. Sie kam mit einer kleinen Flasche und beugte sich zu ihm herab.
„Hier, trink das und wirf dich in die dunkelste Ecke im Lagerraum, aber so, dass Kjolp dich morgen früh dort finden kann.“
„Ist das ein magischer Trank?“
Die Baronesse lachte kurz auf, hielt sich dann erschrocken die Hand vor den Mund. Sie lauschte einen Moment still. Nichts war zu hören. Dann gab sie Veyd eine Ohrfeige.
„Du Esel. Das ist Rum. Wenn Kjolp oder Taruk dich finden, sollen sie glauben du hättest deinen Frust weggesoffen und wärst in die Kisten gestürzt.“
Er rieb sich das verdrehte Handgelenk.
„Klingt nicht unglaubwürdig.“
Melissa zog ihn ein Stück zu sich hoch und gab ihm einen langen, intensiven Kuss. Sie griff ihm dabei erst sinnlich, dann kräftig an den Hals.
„Jetzt geh, Meister Finkental. Für den Rest der Reise, werde ich dich behandeln wie einen Unbekannten, und du wirst mir weiter auf den Busen und Hintern starren, verstanden?“
„Dann wiederholen wir diese Nacht nicht?“
Ihr Griff wurde stärker. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte sie grinste ihn an als sie weitersprach.
„Sei kein Narr. Du bist ein Landstreicher, ein Niemand. Ich bin in weniger als zwei Wochen mit einem Mann verheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als ich und glaubt, eine Frau sollte besser nicht lesen können. Mein Liebesleben wird vermutlich kein großes Abenteuer mehr werden. Dank dir wird vielleicht mein erstes Kind gutaussehend, mit etwas Glück jedenfalls. Doch mehr als das Risiko von heute Abend bin ich nicht bereit einzugehen. Wenn Kjolp mitbekommt, dass ich keine Jungfrau mehr bin, wäre die Schande zu groß.“
Ihr Griff um seinen Hals schloss sich weiter.
„Solltest du mir Drohen oder mich verraten, wirst du dir wünschen, dein Tod käme schnell.“
Dann ließ sie abrupt los.
„Freu dich lieber, dass du einmal eine Adlige verführt hast. Oder dich von einer Adligen hast verführen lassen. Nur erzähl es besser keinem, niemals, in Ordnung.“
Sie legte sich wieder ins Bett, warf ihm seine Kleidung zu.
„Jetzt zieh dich an und verschwinde.“
Veyd fühlte sich unwohl, und selbst der Rum in seiner Hand war keine Hilfe. Langsam zog er sich an und überlegte, ob er noch etwas sagen sollte.
Er kam sich benutzt vor.
„Ich…“
Ob sich so die Frauen gefühlt hatten, die er verführt hatte?
„Wir…“
Er konnte sich nicht konzentrieren. War er auch so gefühllos?
„Eine gute Nacht, Baronesse.“
Schritt für Schritt schlich er aus dem Raum und hinüber zu den Kisten und Fässern. Er suchte einen geeigneten Platz und legte sich zwischen die Ladung. Der Rum duftete stark und schmeckte zu intensiv. Seine Zunge fühlte sich taub an und sein Kopf war schwer, den Verkaterten am nächsten Morgen zu spielen, würde kein Talent erfordern. Holzkisten und Seile drückten sich unangenehm in seinen Rücken, der starke Alkohol bekämpfte die Schmerzen kaum. Trotzdem fiel er, als die letzten Tropfen des Rums seine Kehle herunter gerollt waren, in einen Traumlosen Schlaf.
 



 
Oben Unten