Kapitel 7 - 9

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flammarion

Foren-Redakteur
Tante Rosa

Sie war Idas Schwester und die beiden waren viele Jahre lang verzankt, bis sie sich auf einer Beerdigung wieder vertrugen. Ich weiß nicht mehr, wer da zu Grabe getragen wurde, ich weiß nur noch, dass eine freundliche, äußerst redselige kleine alte Dame uns mit einem Blumenstrauß besuchen kam.
Ich fand ihre dicken Ärmchen sehr niedlich mit der "Babyfalte" am Handgelenk. Sie gestikulierte beim Reden und hatte entschieden mehr Temperament als Ida. Auch hatte sie andere Auffassungen über Kindererziehung und über das Leben im Allgemeinen. Ich hörte ihr gern zu, wenn sie sprach und sie ließ auch mich zu Wort kommen und nahm mich ernst.
Dann besuchten die Schwestern einander im Wechsel. Ida nahm mich mit, wenn sie zu ihrer Schwester ging. Das war für mich eine gesuchte Abwechslung. Bei Tante Rosa gab es stets Kaffee und Kuchen und ich wurde mit Kakao verwöhnt. Als der Tisch abgeräumt war, fragte Rosa mich: "Wat haste dir denn zum Schpieln mitjebracht?" Ich blickte erstaunt - was sollte ich mir wohl mitgebracht haben?
Ida fauchte: "Du denkst doch woll nich, det ick mir mit Schpielkram for die Jöre abschleppe!"
Rosa antwortete: "Die kann doch woll ne Puppe ooch alleene traren!" Dann sagte sie: "Ick werd mal sehn, ob ick nich den Zeichnblock finde, den meine Enkel letztens hierjelassn haam."
Ida sagte, dass das nicht nötig ist und dass Papier und Stifte viel zu schade sind, um von mir benutzt zu werden. Rosa erwiderte: "Die kommt doch bald in de Schule, da muss se vorher wissn, wie man mit Papier und Stifte umjeht!", und ich bekam ein großes Blatt Papier, auf dem ich herumkrakeln durfte.
Ich fragte: "Wat soll ick denn maln, Tante Rosa?" Sie sagte: "Fällt dir selba nischt ein? Na, denn male Männekens."
Bald waren mir die Strichmännchen zu blöd und ich begann, eine Landschaft zu zeichnen, die ich als Titelbild auf einem der Acht-Groschen-Romane, die Ida so gern las, gesehen hatte. Da waren zwei Hügel mit einem Weg dazwischen, auf der einen Seite stand ein kleines Haus und auf der anderen Seite war ein Wäldchen. Rosa gefiel das Bild sehr und sie bewahrte es lange Zeit auf, worüber ich mich sehr wunderte. Ida wäre es nie in den Sinn gekommen, eine Zeichnung von so einem blöden Gör aufzubewahren!
Da ich das Bild zu perfektionieren suchte, wurde es der Rosa langweilig. An einem Sommertag schickte sie mich auf den Hof zum Spielen. Der Hof war riesig, beinahe parkähnlich und gehörte zu vielen Häusern. Man musste um den langen Häuserblock herumgehen, um ihn zu erreichen. In der Mitte befand sich ein Spielplatz mit Buddelkasten, Wippe, Karussell und Klettergerüst. Ich wollte am Klettergerüst turnen, da formierte sich eine Kindergruppe und die Anführerin - sie war etwa doppelt so alt wie ich, die anderen Kinder ein wenig jünger als sie - sagte zu mir: "Ej, runta da, det is unsa Klettajerüst! Du hast hier nischt zu suchn, hier dürfn nur Kinda schpieln, die hier wohn!"
Ich sagte, dass ich bei meiner Tante zu Besuch bin und sie mich auf den Spielplatz schickte. Die Kinder wollten wissen, wie die Tante heißt und wo sie wohnt. Das konnte ich nicht genau beschreiben, ich wusste die Hausnummer nicht, nur, dass sie im Parterre wohnt und Rosa B. heißt.
Die Anführerin wollte nicht glauben, dass es einen solchen Namen überhaupt gibt, bis ein anderes Mädchen sagte: "Rosa Luxemburg hats ooch jejehm!" Sie berieten kurz miteinander und die Anführerin verkündete letztendlich: "Besuch is nich wohn. Also hau ab!", und ich musste den Spielplatz verlassen.
Einige Wochen später stand wieder ein mal ein Besuch bei Tante Rosa an. Ich freute mich riesig und gab meiner Freude lautstark Ausdruck. Ida ging zur Speisekammer und kam mit einer Tasse Milch zu mir. Ich sollte erst die Milch trinken, dann wollten wir gehen. Ich sagte: „Ick hab keen Durscht, ick will jetze keene Mülsch.“
Aber Ida ließ nicht locker, ich musste die sehr süße Milch schlucken. Unterwegs wunderte ich mich darüber, dass mir so blöd im Kopf war und ich andauernd kichern musste. Auch waren meine Schritte reichlich tapsig, ich stolperte mehrmals.
Tante Rosa wollte mir nach dem Kaffeetrinken wieder den Zeichenblock und die Stifte holen, aber Ida sagte: „Nee, heute nich. Jeh uff den Schpielplatz.“ Ich wollte nicht, denn ich hatte die Kinderbande noch in sehr „guter“ Erinnerung. Rosa blickte zum Fenster hinaus und stellte fest, dass kein Kind dort war. Also zog ich los.
Ich hatte Glück: Die Rotte war nicht zugegen, ich hätte am Klettergerüst turnen können, aber die Klopfstange war näher. Ich probierte eine "Rolle", die ich schon recht gut beherrschte. Aber diesmal stürzte ich ab und fiel mit dem Kopf auf die Kante des Betonpfostens, der die Klopfstange im Boden hielt. Mit einer blutenden Wunde kehrte ich in Rosas Wohnung zurück.
Nachdem die Schwestern sich etwa ein Jahr lang gegenseitig besucht hatten, sagte Ida eines Tages zu Rosa: "Du brauchst nich mehr her zu komm und mir is der Weech zu dir ooch viel zu weit."
Die Tage der netten Unterhaltungen waren vorbei. Ich weiß nicht, warum Ida sich abermals von ihrer Schwester lossagte, sie redete nicht mit mir darüber. Alle Mitbringsel von Rosa tilgte sie rasch. Kurze Zeit später sagte sie zu mir, dass Rosa gestorben sei, weil ich fragte, wann wir sie wieder besuchen.
Als zwei Jahre später mein Vater starb, war sie sehr stolz darauf, als Erstgeborene alle Geschwister überlebt zu haben. In Wahrheit lebte Rosa noch.

Mama

Meine Mutter begegnete mir zunächst nur in Gesprächen über sie, wobei ich fast nur Negatives registrieren durfte. Sie taugte u.a. schon deshalb nichts, weil sie 24 Jahre jünger war als mein Vater. Eine Frau, die einen derartigen Altersunterschied in Kauf nahm, konnte nur ein verworfenes Subjekt sein. Und dann stammte sie auch noch aus Bayern! Weil sie nicht zum evangelischen Glauben konvertierte, konnte die Ehe nur standesamtlich geschlossen werden, somit existierte sie laut Ida nicht. Eine Ehe ohne Kirchensegen war keine Ehe in ihren Augen.
Mir wurde häufig vorgeworfen, ein Trampel wie meine Mutter zu sein. Ich bemitleidete sie sehr, denn ich war damals tatsächlich so ungeschickt, wie kleine Kinder eben sind. Die arme Frau, so ungeschickt! Ich hätte sie gerne kennen gelernt, vielleicht hätten wir uns gegenseitig aus dem Dilemma helfen können. Aber leider wohnte sie in einer anderen Straße - ich ahnte nicht, wie nahe!
1949 unterhielten sich Ida und Grete L. darüber, wie meine Eltern verhaftet wurden. Da für Buntmetall in den westlichen Annahmestellen besser bezahlt wurde als bei der DDR-Aufkaufzentrale, schafften meine Eltern einmal den gesammelten Schrott über die Grenze. Mama hatte nur eine Handtasche voll und wurde nicht kontrolliert, Papa hatte das Buntmetall auf seinem Handwagen unter Lumpen gut verborgen. Er wurde kontrolliert. Als Mama sah, dass ihr Mann verhaftet wurde, bekannte sie sich zu ihm.
"Saublöd", befand Grete L., "se hätte machn solln, det se wechkommt!" Meine Mutter wusste nicht, wie sie den Broterwerb allein weiterführen könnte. Sie hatte bisher nur Hilfsdienste geleistet und nicht viel Ahnung vom Produktenhandel. Sie erhoffte Menschlichkeit in den Behörden und ergab sich ihnen. Meine Eltern wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Mein Vater wurde aus Alters- und Gesundheitsgründen wegen Haftunfähigkeit vorzeitig entlassen, meine Mutter wegen guter Führung.
"Wie kann man sich int Jefängnis jut füan?", überlegte Grete L.. "Na, wahscheinlich hat se ihre Mitjefangn bei die Uffseha anjeschwärzt!", argumentierte sie. Dass Arbeitswille, Folgsamkeit und Demut - was bei meiner Mutter in unendlichem Maße vorhanden war - letztendlich strafmildernd wirkten, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
Meine Mutter schrieb aus dem Gefängnis einen Brief, in welchem sie um ein gewisses grünes Kleid bat. Ida und Grete L. befanden: "Die brauch int Jefängnis keen Kleid!" und so bekam sie es nicht. Sie hatte es herrichten wollen, da sie in der Nähstube arbeitete und es am Entlassungstag tragen wollte.
Ich durfte meine Mutter "Tante Elly" nennen, "Tante", wie jede x-beliebige Frau. Ich sagte brav "Tante Elly" zu ihr, wenn wir einander begegneten. Jahre später hatte ich meine Tochter ob meiner Schichttätigkeit in einer Wochenkrippe untergebracht. Eines Tages beglückte sie mich nach dem Aufwachen mit der Bezeichnung "Tante" und ich korrigierte: "Mama, ich bin deinen Mama!" und erfuhr am eigenen Leibe, wie das ist, wenn man von der geliebten Tochter "Tante" genannt wird.
Nachdem meiner Mutter der Umgang mit mir untersagt war, begegneten wir einander oft auf der Straße. Wenn sie von der Frühschicht kam, ging sie durch die Friesicke-Str. zu ihrer Freundin und ich nahm diese Straße als Heimweg von der Schule. Da sie mir bei unserer ersten Begegnung 50 Pfennig gegeben hatte, bettelte ich sie zukünftig ständig um diese Summe an. Dafür konnte ich mir ein sehr großes Stück Melone kaufen oder mir zwei Kinderfilmvorstellungen ansehen oder mir zwei Eiswaffeln kaufen. Eines Tages sagte sie: "Willst du nur Geld? Komm mich doch mal besuchen!" Sie nannte mir ihre Hausnummer, doch meist traf ich dort nur meinen Bruder Manfred an, den ich allerdings sehr gerne sah.
Als ich mich nach Idas Tod entschloss, bei meiner Mutter zu leben, kam sie zu einem vereinbarten Termin in die Pistoriusstr., um mit Gerda und Irma alles Weitere zu besprechen. Diese Besprechung fand aus Pietätsgründen in Irmas Stube statt; da Ida die Elly niemals zu sehen wünschte, sollte ihr der Zugang zu ihrer Stube verschlossen bleiben.
Nachdem meine Mutter meine Papiere in Händen hielt, fragte sie nach dem Kindergeld, das war das mindeste, was man ihr - da es ja erst Anfang des Monats war und sie nicht die Reichste - geben sollte, damit sie mich ernähren kann. Alle waren baff. Das hatte ihr niemand zugetraut. Gerda öffnete widerwillig ihr Portemonnaie und überreichte die geforderte Summe. Übrigens hatte Gerda meine geringen Ersparnisse vom Konto abgehoben, angeblich, um Idas Begräbnis zu bezahlen. Sie versprach, mir das Geld später zurückzuzahlen. Darauf warte ich heute noch!
Meine Mutter war ganz anders als Ida. Sie kommandierte nicht, sie hörte sich meine Meinung an, sie unterstützte mich, wo sie konnte, und sie lobte mich sogar! Ich hatte z.B. einmal einen Scherenschnitt aus transparentem Papier angefertigt, der tanzende Mädchen darstellte. Für mich war es nur eine Spielerei, sie aber fand mein Produkt zauberhaft. Das machte mich sehr glücklich.
Am schönsten war es, dass sie mit mir sang. Die meisten Lieder, die ich kannte, kannte sie auch, und manchmal sangen wir sogar zweistimmig, wobei sie die zweite Stimme übernahm. Ich lernte viele neue Lieder von ihr, denn sie sang gewöhnlich bei der Küchenarbeit.
Einmal war sie gerade beim Wäschewaschen und hatte dabei etliches Wasser auf dem Boden verplanscht. Nichtsdestotrotz sang sie ein Küchenlied. Als sie gerade bei der Zeile: "Das glaubt das Herze . . ." angelangt war, kam ich zur Tür herein. Sie unterbrach das Lied und sagte zu mir: "Hier muss jewischt werden." und sang unbeirrt weiter: "und an diesem Glauben bricht es." Sie konnte mein Lachen zunächst nicht einordnen, aber dann lachten wir beide über die unfreiwillige Komik.
Einer der Lieblingswitze meiner Mutter war folgender: An der deutsch-französischen Grenze patrouillierten in vorgeschriebenem Abstand zwei Soldaten, der eine ein Bayer, der andere ein Franzose. Dem Franzosen wurde langweilig, er beschloss, den Deutschen zu ärgern und rief hinüber: "Filou! Filou!" Der Bayer schaute auf die Uhr und gibt Auskunft: "Halber vieri!", denn er hatte das Schimpfwort als eine Frage nach der Uhrzeit verstanden.
Anfangs vergaß ich manchmal, meinen Wohnungsschlüssel mitzunehmen, ich war es nicht gewöhnt, einen Schlüssel zu besitzen. So stand ich vor unserer Wohnungstür und wartete auf die Heimkunft eines Familienmitgliedes. Die Hausbesitzerin, welche schräg über uns wohnte, erlebte einmal, dass ich vergeblich klingelte und fragte: "Na, kommste nich rin?" Ich erwiderte bedrückt: "Meine Mutter scheint nicht zu Hause zu sein." Sie grinste: "Wo die sich bloß rumtreibt?" Ich war nicht mehr gewillt, abfällige Bemerkungen über meine Mutter hinzunehmen und verkannte den Annäherungsversuch. Ich erwiderte scharf: "Meine Mutter treibt sich nich rum, det könn Se sich eenforallemal merken!"
Während man bei Ida "vom Fußboden essen" konnte, war es bei meiner Mutter nicht ganz so reinlich. Ich machte mich in meiner Freizeit daran, aufzuräumen und zu säubern. Ich begann mit der Wäsche. Mama hatte die Schmutzwäsche in eine Küchenecke gesteckt, wo sie nicht trocken lag. In einigen Stücken waren Löcher, hervorgerufen durch Fäulnis.
Die Wäscheleine durfte ich von unserem Fensterkreuz bis zum Zaun des Hausgartens spannen. Als ich eines Tages glücklich mehrere Töpfe Kochwäsche aufgehängt hatte, spielte auf dem Hof ein etwa siebenjähriger Junge. Er bewarf meine Wäsche, die noch feucht war, mit Sand. Ich sprang aus dem Fenster und gab ihm eine saftige Maulschelle unter dem Hinweis, dass er die Wäsche schmutzig gemacht hat und ich alles noch mal waschen muss. Er zog heulend und uneinsichtig ab. Am anderen Tag lag ein riesiger Kothaufen unter unserem Fenster. Ich brachte das in Zusammenhang, aber es war nicht beweisbar, so ließ ich es auf sich beruhen. Den Jungen sah ich nie wieder und konnte mich nicht mit ihm aussöhnen.
Als nächstes scheuerte ich den Küchenfußboden. Er war ungestrichen und längst schwarz getreten. Ich freute mich, das hellgelbe Holz zu sehen. Danach hatte ich noch Zeit, den Küchenschrank abzuseifen. Da wurde aus braun hellgelb, lindgrün und rosa. Als Mama nach Hause kam, sagte sie: "Jut, dass du da bist. Ick dachte schon, ich bin in einer fremden Wohnung!"
Am nächsten Wochenende räumte ich den Kleider- und den Wäscheschrank aus. Bei jedem Stück fragte ich Mama: "Trägst du das noch?" und sie antwortete oft mit "Nein". So kamen vier dicke Lumpensäcke zusammen. Mama hatte auch ein paar Anzüge von Papa aufbewahrt in dem Glauben, dass Manfred oder Paul sie einmal tragen würden. Ich hatte inzwischen einiges über Mode gelernt und tönte: "Eh die da rinjewacksen sind, sind die sowat von unmodern, det Manne oder Paule die Dinger janz beschtimmt nich anziehn!" Die Anzüge waren bestimmt einmal sehr teuer, jedenfalls aus gutem Stoff. Als ich Jahre später mit meinen Brüdern über diese Anzüge sprach, wurde mir Gewissheit, dass sie die Anzüge ihres Vaters um keinen Preis getragen hätten.
Ich war so heftig beim Entrümpeln, dass ich auch Papas Bücher zum Altstoffhandel brachte. Es waren ein paar Landserromane und drei "Arztbücher", die wir uns als Kinder sehr oft heimlich angesehen hatten. Es gab darin nämlich Aufklapp-Bilder, die nackte Körper zeigten. Wenn man sie aufklappte, wurden die inneren Organe sichtbar. Die Frau konnte noch ein weiteres mal aufgeklappt werden, damit man das Baby sah.
Manfred rügte mich später dafür, dass ich diese Bücher weggebracht hatte, weil ich sie für völlig überholt hielt. Es kam mir nicht in den Sinn, dass sie historisch wertvoll sein könnten. Ich war von Ida erzogen: Staubfänger müssen weg!
Da meine Mutter Schichtarbeiterin war, sahen wir uns nur selten. Außerdem besuchte sie sehr oft ihre Freundin. Wir Kinder fanden jederzeit dort Aufnahme und konnten mit „Tante Grete“ über alles reden, sie ersetzte praktisch den Papa für mich. Aber ich hätte sehr gern mehr Zeit mit meiner Mutter verbracht. Wenn ich geahnt hätte, dass sie nicht so alt wird wie Ida, hätte ich mich mehr um sie bemüht. Sie bekam ja anstatt des Säuglings einen Teenager mit krausen Gedanken, die ich ihr allerdings nicht offenbarte.
Dass meine Mutter nur 50 Jahre alt wurde, war ein schwerer Schlag für mich.

Papa

Dadurch, dass mein Vater mich an seine Schwester verschenkt hatte, habe ich nur sehr wenig über ihn erfahren. Obendrein nichts, was mich ihn lieben lehren konnte. Er existierte. Irgendwo. Fern von mir. Er konnte meinen Lebensweg nicht beeinflussen, geschweige denn bestimmen.
Was weiß ich über meinen Vater? Nur das, was über ihn erzählt wurde: Dass er gern einen über den Durst trank; dass er gern Witze erzählte: Als die jungen Rekruten beim Exerzieren waren, kommandierte der Spieß: "Alle Mann das linke Bein hoch!" Einer der Burschen hob versehentlich das rechte Bein und der Spieß brüllte empört: "Da hat doch schon wieder so n verdammter Kerl beede Beene hoch!" oder den: Ein Fähnrich war als Auszeichnung für besondere Verdienste nach Berlin zu einem Empfang beim Kaiser eingeladen worden. Zurückgekehrt forderte der Major ihn auf, von dieser Reise zu berichten. Der Fähnrich nahm Haltung an und schnarrte: "Berlin jewesen, Kaiser jesehn, Sekt jesoffen, mit Bürgerlichen jetanzt." und dass er als junger Mann sehr eitel war. Seine Schwester Rosa hatte ihm einmal das Hemd nicht so ordentlich gebügelt, wie er es gern gehabt hätte, da warf er es auf den Boden und trat mit den Stiefeln darauf herum.
Und wenn er nachts betrunken nach Hause kam, weckte er die ganze Nachbarschaft mit seinem Lieblingslied auf: "Reserve hat Ruh . . ." Mir sind von diesem Lied nur diese drei Worte überliefert worden, ich kenne weder Melodie noch Inhalt des Liedes, so kann ich es auch nicht werten.
Ich habe nie um ihn getrauert. Man trauert nur um Menschen, die einem etwas bedeuten. Mein Vater bedeutete mir nichts. Ich weiß, dass er gelebt hat. Ich habe ihn in größeren Abständen viermal gesehen: Zweimal, als ich meine Brüder besuchte, um mit ihnen Halma, Mühle und Dame zu spielen - da erlebte ich einmal etwas Lustiges: Manfred hatte nach mehreren Niederlagen eine Partie gewonnen und freute sich lautstark: "Ick habe Christa jeschlaaren!" Unser Vater hob schmunzelnd seinen Kopf aus den Kissen seines Krankenlagers und sagte: "Du kannst doch det Meechen nich hauen!" Manfred unternahm den Versuch, sich zu verteidigen und ich kicherte über den köstlichen Wortwitz. Ein andermal sah ich meinen Vater auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wie er sich mühsam am Zaun entlang schleppte. Er trug schäbige Kleidung, aus seinen Filzlatschen lugten die Socken heraus und auf dem Kopf trug er einen Damenstrumpf. Ich schämte mich, ihn zu begrüßen und war froh, dass er mich nicht bemerkte. Er hat mir nicht einen einzigen seiner Gedanken übermittelt. Als er es auf dem Sterbebett tun wollte, konnte er es nicht mehr.
Nachdem er mich aus seinen Händen gab, hatte er nie die Gelegenheit gesucht, mit mir zu reden. Er wusste ja, wo ich war. Seine technischen Geschenke kamen zu früh. Als Vierjährige hatte ich nicht die Kraft, gegen seine Schwester anzutreten. Aber die Geschenke waren mir ein Zeichen.

Das ist furchtbar! Im Alter von 51 Jahren schreie ich: "Papa, wo warst du?!" Nachdem du festgestellt hattest, dass diese "moderne Frau", die ihre Heimat hinter sich gelassen hatte, dennoch Kinder gebären konnte und als Katholikin auch nicht ihre Geburt verhindern wollte, nahmst du dir die Freiheit, deine Tochter zu verschenken. Ich verstehe dich nicht.

In unserem Familienalbum gibt es auch ein Foto, wo die erste Frau meines Vaters mit ihren Kindern abgebildet ist. Diese Frau, deren Namen ich nicht weiß, ist schön mit ihren großen, klaren Augen und ihrer stolzen Haltung. Auch die Kinder gefallen mir sehr mit ihren klugen, aufgeschlossenen Gesichtern, in denen ich ebenso die Gesichtszüge meines Vaters wie die ihrer Mutter erkenne. Ich habe sie nicht kennen gelernt, den einen Halbbruder nur einmal bei einem Besuch bei unserer Tante gesehen. Das Mädchen hieß Grete, die Jungen Hermann und Paul. Mein Vater folgte einer Familientradition, wo die Kinder die Namen der vorhandenen Familienmitglieder erhielten. Als ihm in zweiter Ehe ein Sohn am 1.12.42 geboren wurde - es war Krieg, es ging um Lebensmittelkarten, eine vierköpfige Familie hatte einen höheren Anspruch als eine dreiköpfige! - schickte Mama ihn zum Amt, da sollte er den Namen des Kindes angeben und er nannte er ihn Paul, ohne die Mutter zu fragen. Mein Bruder Paul kann nun jederzeit stolz verkünden: "Ich heiße Paul, Hermann, Otto, und mein Vater hieß Otto, Hermann, Paul!"
Ich weiß nicht, ob er jemals unsere Mutter gefragt hat, welchen Namen sie für ihn ausgesucht hatte. Nachdem unser großer Bruder Manfred heißt, vermute ich, dass Paul einen ebenso inhaltsschweren Namen von unserer Mutter bekommen hätte.
Meine Brüder haben mir als Teenager berichtet, dass unser Vater sie oft mit seinem Stock, den er als Gehhilfe benötigte, verprügelt hatte. Also war auch für meinen Vater die Prügelstrafe das Natürlichste der Welt. Er hat möglicherweise mit meinen Brüdern ebenso wenig geredet wie Ida mit mir. Jedenfalls haben meine Brüder unseren Vater nicht geachtet, geschweige denn geliebt.
Er starb in einem Bucher Krankenhaus und wurde in Buch begraben. Wir haben dieses Grab nie besucht.
 

Doska

Mitglied
Liebe Flammarion!
Auch dieser Teil deines Romans hat mir sehr gefallen, denn du hast eine hervorragende Beobachtungsgabe und kannst Lebenssituationen und Charaktere packend und sehr anschaulich schildern.
Ach, ich erkenne so viele Leute darin wieder, die mir auch noch heute tagtäglich begegnen und frage mich: wann ändern wir Menschen uns eigentlich, setzen wir Selbstkritik ein?
Zweifelsohne sind unsere Vorfahren auch mal irgendwie von anderen „verkorkst“ worden und deshalb handelten sie so oder so, aber hätten sie nicht MAL Inne halten und sich dabei fragen können: habe ich denn bisher auch alles einigermaßen richtig gemacht? Denn vollkommen ist niemand!
Alles Liebe
Deine Doska (die sich gleich an den nächsten Teil heran machen wird!)
 

flammarion

Foren-Redakteur
hallo,

vielen dank fürs lesen und kommentieren.
das mit der selbstkritik hatte meine mutter durchaus drauf, aber ich durfte ja erst zu ihr, als ich schon 14 war, und dann starb sie 5 jahre später . . .
lg
 



 
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