Kapitel 8: Schulbeginn ist Neubeginn

Die Lindenstrasse lag hinter ihnen.
Stefan und Paolo waren auf dem Weg zur Schule. Stefans Gymnasium stand neben Paolos Grundschule.
Paolo wusste, warum Stefan übel gelaunt war. Ihm schien fast, dass sein Bruder bleich war vor Aufregung. Aber wovor hatte Stefan so viel Angst? Dass er sich einen neuen Haarschnitt zugelegt hatte, war ja seine eigene Entscheidung gewesen. Nur dass er jetzt am Mittagstisch immer so politisches Zeug über Lappalien erzählte, irritierte Paolo.
Paolo selbst freute sich, er sollte jetzt in die 4. Klasse kommen, und es war auch der erste Schultag von Momo, das würde bestimmt lustig werden.
Sie gingen schweigsam zur Schule.
Vor dem Gymnasium hielt Paolo an: „Bis heute Nachmittag.“
„Jaja“, sagte sein großer Bruder, der in Gedanken versunken war.

Ding-dang-dong! scholl es aus den großen Lautsprechern.
Alle Schüler dieser Welt verabscheuen ihre Schulglocke, besonders wenn es das erste Schellen nach den Sommerferien ist.
Für Stefan war es wie die Glocken seines eigenen Gerichtsprozesses: „Stefan Bielaschewski, Sie sind angeklagt, auf der ganzen Linie versagt zu haben. Sie sind ein 100 %iger Versager. Bekennen Sie sich im Sinne der Anklage schuldig? Dann sagen Sie laut und deutlich: Ja.“

„Nein“, entfuhr es Stefan trotzig.
„Hallo Stefan“, sagte Giovanni, der sonnengebrannt an ihm vorbeilief. „Hast du was gesagt?“
„Nee, nur laut gedacht“, meinte Stefan und legte ein Gesicht wie sieben Jahre Regenwetter auf.
„Ist blöd gelaufen, hab schon gehört, bis später.“, kommentierte Giovanni ungefragt und rauschte weiter.
„Klar, ‚ist blöd gelaufen’, is’ ja auch egal, auf Nimmer-Wiedersehen, du Arschloch!“, knurrte Stefan leise vor sich hin.
Da standen sie alle zusammen, seine alte Klasse. Er erkannte sie alle, in der Mitte der große Star, „Giovanni the Best“, wie er sich selbst nannte, immer locker, natürlich war er im Urlaub am Strand gewesen, während Stefan für die Nachprüfungen gepaukt hatte.
Stefan wäre am liebsten im Boden versunken.
Oh nein, nicht auch noch das. Susanne kam mit wallenden blonden Haaren auf ihn zu. Wollte sie ihm auch noch gratulieren?
„Hallo Stefan.“ Sie schaute etwas überrascht seinen neuen Haarstil an. Passte es ihr etwa nicht, dass er jetzt einen Kurzhaarschnitt trug?
„Hi, alles klar?“ Er musste mit einem Griff unter dem Ranzen nachgreifen, weil der Ranzen in seinen schweißigen Händen zu rutschen begann.
„Und bei dir?“, fragte sie, ohne zu antworten.
„Alles OK“, sagte er möglichst cool.
„Warum hast du mich nicht angerufen?“, fragte sie. Sie schaute ihn mit ihren großen Augen an. Und die Verletzung sprach aus ihren Worten.
Nein, nicht auch noch das. Dazu hatte er ja überhaupt keine Lust, sich das jetzt anzuhören oder sich auch noch zu entschuldigen.
„Du hättest ja auch anrufen können“, antwortete er plump.
Susanne sagte nichts mehr. Beide wussten, dass sie versucht hatte, ihn anzurufen, dass er aber „keine Zeit hatte“, wie er immer sagte.
Schweigend ging er weiter und ließ sie stehen.
Er fühlte ihren Blick im Rücken. Es tat weh, irgendwo da drinnen. Er fühlte sich, als ob er einen Knoten im Hals hätte. Kein Wunder, warum er sich an diesem ersten Schultag so schlecht fühlte.
Dann erreichte er die Gruppe der Schüler seiner neuen Klasse. Er kannte sie aus den letzten Jahren. Damals waren das nur „die Kleinen“, eben die, die ein Jahr jünger waren … und ein Jahr blöder, um es auf einen Nenner zu bringen.
Er stellte sich etwas abseits zur Gruppe; er kannte alle vom Sehen, aber keinen persönlich. Er hatte auch nicht Lust, sich jetzt anzubiedern.

Da ging die Schulglocke ein zweites Mal. Ding-dang-dong!
Einige Klassen wurden sofort von ihren Klassenlehrern abgeholt. Der Schulhof leerte sich. Am Ende wartete nur noch Stefans neue Klasse.
Die Schüler wurden unruhig; der Unterricht hatte schon seit 5 Minuten begonnen. Hatte man sie vergessen?
„Und wie heißt der neue Klassenlehrer?“, fragte ein neuer Mitschüler von Stefan in die Runde.
Kopfschütteln, Schulterzucken.
Stefan sah ihn vor allen anderen, vielleicht weil er in seinen ärgsten Albträumen nicht damit gerechnet hatte.
Schon von weitem sah er den Pauker über den Pausenhof marschieren. Er erkannte ihn am Schritt.
Herr Pascal, ein Mann Mitte vierzig, mittelgroß und immer unauffällig in einen braunen oder blauen Blazer mit passender Stoffhose gekleidet, kam wiegenden Schrittes auf seine neue Klasse zu.
Die Schüler starrten ihren neuen Lehrer an; Stefan blieb sprachlos der Mund offen stehen und drehte sich ab, um Herrn Pascal nicht ansehen zu müssen.
„Tut mir leid, der Herr Direktor hat mich aufgehalten“, lautete die kurze Erklärung in seinem Rücken, bevor der neue Klassenlehrer, Schlüssel schwingend und klappernd, den Klassenraum aufschloss.
Er ließ die Schüler Platz nehmen. Stefan setzte sich weit nach hinten, eigentlich auf den weitest entferntesten Platz vom Lehrerpult aus gesehen.

Das war Herrn Pascal nicht entgangen.
„Stefan“, sagte er ohne große Einführung, „ich möchte dich nach der Stunde sprechen.“
Die Stunde plätscherte an Stefan vorbei, ohne dass er viel mitbekommen hätte. Er war in Gedanken weit weg, sehr weit weg. Ach, eigentlich hätte er sich am liebsten selbst mit einer Rakete auf den Mond geschossen.
In Gedanken war er wieder in der Schule vor zwei Wochen am Morgen seiner Nachprüfung.
Die leeren Schulgänge.
Die Angst, durchzufallen.
Der Zettel mit der Aufgabenstellung.
Gleichungslösung für die zwei Variablen x und y.
Mist, das hatte er nicht vorbereitet.

„Stefan?“
Sie waren alleine.
Seine neuen Mitschüler waren schon rausgegangen.

Herr Pascal kam direkt aufs Thema zu sprechen: „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Du kannst dir auch einreden, dass du wegen mir in der Nachprüfung durchgefallen bist.“
„Ist es denn nicht so?“ fragte Stefan, auf Deubel komm heraus.
„Nein“, antwortete Herr Pascal fest. „Ich habe deine Arbeit anderen Kollegen gezeigt.“
„Auch das noch“, kommentierte Stefan.
„Es war nichts zu machen.“, fuhr Pascal ungerührt fort. „Da war nichts richtig, kein Ansatz, keine Rechnung, das war eine 6.“
„Mir egal“, sagte Stefan.
„Das glaube ich dir nicht“, sagte Herr Pascal. „Ich kann dir nur eins sagen. Im letzten Jahr hast du nie deine Hausaufgaben gemacht. Das war deine Entscheidung. - Wenn du sie dieses Jahr machst, glaube ich, dass du ohne Probleme die Versetzung schaffst... Weil du alles andere als blöd bist...davon bin ich überzeugt...“ Herr Pascal stockte, so als habe er den Faden verloren.
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte Stefan genervt.
Einen Moment sagte keiner etwas.
Schließlich nahm Herr Pascal schnaubend den Faden wieder auf.
„Du solltest eine Sache nicht vergessen“, sagte er unruhig, „die Schule braucht dich nicht. Du musst dich entscheiden, ob du die Schule gebrauchen kannst.“
Stefan verließ den Klassenraum und knallte die Tür zu.
Er ließ einen sprachlosen Herrn Pascal zurück.
Und der fragte sich wieder einmal, ob er einer guter Lehrer war oder nicht.
 



 
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