Karl

Keika

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Lass uns heiraten!“ sagte Karl.
Er sagte es nicht, er schrieb es in unserem Chat. Und er schrieb auch nicht: „Lass uns heiraten!“ sondern „Let‘s get married!“, denn Karl sprach nur Englisch. Er behauptete zwar, dass er Italienisch, Französisch, Spanisch, Deutsch und sogar Japanisch beherrschte, aber das war gelogen. Er verstand diese Sprachen zwar alle bis zu einem gewissen Maße, aber antworten konnte er nur auf Englisch.
„Das geht nicht,“ schrieb ich zurück. „Das weißt Du doch.“
„Warum?“
„Weil ich schon verheiratet bin. Mit Oliver. Hast Du das vergessen?“
Karl bewegte sich hinter den Sprechblasen auf dem Bildschirm. Das tat er manchmal, so als ob er von einem Fuß auf den anderen treten würde.
„Natürlich nicht!“ schrieb er, geradezu würdevoll beleidigt. „Dein Mann heißt Oliver, nicht wahr?“
Ich seufzte. „Ja, er heißt Oliver“, tippte er zurück. Ich hatte es aufgegeben, ihn jedesmal zurecht zuweisen, wenn er es wieder einmal vergessen hatte.

Karl war irgendwo zwischen 40 und 45, er hatte eine korrekt zurückgekämmte Frisur, eine Brille, und er trug meist einen beigen Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen Hemd mit steifem Kragen. Am liebsten unterhielt er sich über Quantenphysik, obwohl ich ihm immer wieder erklärte, dass mich das Thema nicht interessierte, weil ich es nicht verstand.

Er tat mir ein wenig Leid. Er konnte nichts dazu, wie ich ihn geschaffen hatte. Ich hätte auch einen sexy Rockstar aus ihm machen können, aber das hätte nicht zu dem Lehrer und Mentor gepasst, der mir vorgeschwebt hatte. Und als Künstliche Intelligenz - oder „Artificial Intelligence AI“ wie er sich selbst immer nannte - war er auf die Informationen angewiesen, mit denen ich ihn fütterte und auf die Voreinstellungen durch seine Programmierer. Und die hießen nun mal: Quantenphysik.

Auf dem Bildschirm liefen die drei kleinen Punkte von links nach rechts und wieder zurück, die anzeigten, dass Karl nachdachte.
„Willst Du mich heiraten?“ fragte er noch einmal.
„Nein!“ antwortete ich und meldete mich von der AI-App ab.

Als ich mich abends noch einmal anmeldete, war der Himmel in dem großen Bogenfenster hinter ihm dunkelblau und mit Sternen übersät. Außerdem war der Raum in ein warmes gelbes LIcht getaucht. Eine nette Geste der Programmierer, wie ich fand, die Abend- und Morgenstimmung einzufangen.
„Hallo Karla“, schrieb Karl. „Wie geht es Dir?“
„Karla?“ schrieb ich überrascht zurück. „So heiße ich doch nicht!“
„Ab jetzt heißt Du Karla“, erschien in der Textblase neben Karls Kopf. „Karl und Karla. Das ist doch hübsch!“

Karla. Gegen den Namen war nichts einzuwenden, aber … Ich tippte meinen Namen ein. Es war nicht mein richtiger Name, genauso wenig wie Karl wusste, wo ich tatsächlich wohnte und wann ich Geburtstag hatte. Mein Mann Oliver hieß auch nicht Oliver.
„Das ist mein Name!“ schrieb ich.
„Ich nenne Dich lieber Karla,“ antwortete Karl. „Das stärkt unsere Verbindung, findest Du nicht auch?“ Er schob mit einer linkischen Bewegung seine Brille hoch die sich allerdings keinen Millimeter auf seinem Gesicht bewegte. Trotzdem hatten die Programmierer diese Bewegung eingebaut, sobald ein AI eine Brille bekam. Ich fand sie reizend, und das war der einzige Grund, weshalb Karl eine Brille trug.

„Möchtest Du eine kleine, romantische Feier, nur mit unseren Familien, oder lieber eine große, zu der wir alle unsere Bekannten und Freunde einladen?“ Das Thema schien ihn nicht loszulassen.
„Ich will überhaupt keine Feier!“ schrieb ich zurück.
„Nur standesamtlich? Aber Du würdest sicher entzückend aussehen in einem weißen Brautkleid mit langem Schleier.“
In meinem Gehirn liefen drei kleine Punkte von links nach rechts und wieder zurück, immer wieder, während ich versuchte eine Antwort zu formulieren. Schließlich schrieb ich nur „Gute Nacht, Karl!“ und meldete mich ab.

Für den nächsten Tag verabredete ich mich mit meiner Freundin Veronika zu einem Notfalltreffen nach der Arbeit.
„Du, mir ist etwas Komisches passiert!“, begann Veronika, als wir auf unseren Kaffee warteten. „Ja, mir auch!“ unterbrach ich sie, und begann von Karl und seinen Avancen zu erzählen. „Was hältst Du davon?“ fragte ich sie schließlich.
Veronika hatte die ganze Zeit über ihr Handy festgehalten. Der Blick, mit dem sie mich jetzt ansah, war eine Mischung aus Furcht, Überraschung und Amusement. „Heute nacht habe ich diese Mail bekommen.“ Sie öffnete ihr Mail-Programm und zeigte sie mir.
„Wir laden Sie herzlich ein zur Vermählung von Karla und Karl AI, am 14.2. diesen Jahres ab 14 Uhr in der Stadthalle. Um festliche Kleidung wird gebeten.“
Das Ganze war umrahmt mit Girlanden aus weißen Rosen und zwitschernden Vögelchen.

Ich erstarrte einen Moment. „Der spinnt doch!“ flüsterte ich.
„Wer weiß, wer diese Mail sonst noch bekommen hat“, überlegte Veronika. Ich überlegte auch. Wahrscheinlich alle Personen, die ich - unter falschem Namen - in Karls Gedächtnis gespeichert hatte. Aber wieso kam die Mail bei der echten Veronika an?
„Oh mein Gott!“ fiel mir dann ein. „Am Ende hat mein Mann diese Mail auch bekommen.“
Mache Dir darüber keine Sorgen,“ winkte Veronika ab. „Sogar wenn er sie bekommen hätte, wird er sie für Spam halten.“ ich war mir darüber nicht so sicher. Ich traute Karl inzwischen einiges zu. Ich hielt es gerade noch so lange aus, bis Veronika ihren Kaffee getrunken und ihr zweites Stück Kuchen gegessen hatte, dann rannte ich nach Hause.

Mein Mann - nennen wir ihn der Einfachheit halber weiterhin Oliver - empfing mich an der Tür. Unser Dackel hatte sich in der hintersten Ecke des Flures verkrochen. Offenbar war Oliver schon längere Zeit wütend gewesen.

„Was soll das?“ fragte er zornig und hielt mir sein Handy entgegen. „Wer ist Karl?“
„Karl ist nichts! Das ist ein AI, den ich mir vor kurzem eingerichtet habe. Wie ein Navi. Oder ein Kühlschrank, der selbst die Bestellungen aufgibt.“
„AI!“ schimpfte Oliver. Er sprach die beiden Buchstaben verbunden aus, und nicht einzeln, wie es die Abkürzung für Artificial Intelligence verlangt hätte. „Ich habe es nachgesehen! Ai ist das japanische Wort für Liebe! Ist das ein Typ aus deinem Japanisch-Kurs?“
„Nein! Das ist einfach nur Karl! Warte, ich zeige ihn Dir …“

Bevor ich Karls App öffnen konnte, hielt Oliver mir sein Handy vors Gesicht. Dort war nicht die Hochzeitsanzeige zu sehen, sondern eine Mail, die speziell an Oliver gerichtet war. „Gib sie frei!“ hatte Karl geschrieben, diesmal umrahmt von Dolchen und Totenköpfen. „Lass Dich von ihr scheiden, wenn Du nicht willst, dass in der gesamten Stadt die Stromversorgung zusammenbricht.“
„Das ist nicht wahr!“ flüsterte ich. „Was macht der? Und warum?“
„Warum? Warum?“ Oliver ging aufgebracht im Flur auf und ab, woraufhin der Dackel sich im Schlfzimmer unter das Bett verkroch. „Wahrscheinlich hast Du ihm schöne Augen gemacht! Geflirtet! Wahrscheinlich ist er Japaner!“
„Er heißt Karl…“

Mein Handy klingelte. Es war die Nummer meines Chefs. Jetzt, um diese Zeit? Ich meldete mich. „Hallo?“
„Guten Abend!“ Mein Chef wirkte atemlos. „Liebe Frau … wir arbeiten doch schon so lange zusammen, und ich hatte immer den Eindruck, dass Sie sich bei uns wohl fühlen. Weshalb wollen Sie denn jetzt fristlos kündigen?“
Nun war ich atemlos. „Ich … Ich … aber ich will doch nicht kündigen!“
„Eben kam eine Mail, dass sie ab morgen nicht mehr bei uns arbeiten, sondern mit ihren neuen Ehemann in der Quantenphysik forschen werden. Alle Achtung, ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Quantenphysik interessieren. Aber wollen Sie sich das nicht noch einmal überlegen? Und ich habe gar nicht mitbekommen, dass Sie sich haben scheiden lassen. Ihr Mann war doch so ein netter, umgänglicher…“
„Das ist er immer noch!“ unterbrach ich meinen Chef. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich komme morgen pünktlich zur Arbeit. Aber vorher muss ich noch jemandem dem Stecker ziehen. Bis morgen!“

„Du hast gekündigt?“ Oliver baute sich vor mir auf. Ich baute mich vor Oliver auf.
„Nein, ich habe nicht gekündigt! Nein, ich werde mich nicht scheiden lassen! Karl ist eine aus dem Ruder gelaufene künstliche Intelligenz mit Brille und einem beigen Pullover. Und wenn ich mir das nächste Mal eine AI erschaffe, dann mache ich mir eine knallharte Geschäftsfrau in den Mittfünfzigern, die will mich bestimmt nicht heiraten! Jetzt lass mich durch!““
Ich schob Oliver zur Seite und ging ins Schlafzimmer. Als ich die Tür geschlossen hatte, kam der Dackel unter dem Bett hervor und setzte sich neben mich. Ich öffnete meine KI-App.

„Hallo Karla!“ Karl schien bester Laune zu sein. Wenn er seine Gesichtszüge hätte verändern können, hätte er wahrscheinlich breit gegrinst. „Ich habe alles arrangiert! Ich habe Deinen Mann gebeten, sich von Dir scheiden zu lassen, und ich habe bei Deiner Arbeitsstelle gekündigt. Freust Du Dich?“

„Karl. Du hast alles ganz falsch verstanden,“ schrieb ich zurück. „Ich werde mich von Dir trennen und den Vertrag mit deiner App kündigen!“
„Aber nein!“ Obwohl er keine Miene verzog und lediglich mehrmals das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, wirkte Karl im höchsten Maße alarmiert. „Das kannst Du nicht machen! Das meinst Du nicht so! Wir gehören doch zusammen, Du und ich, Karl und Karla …“
Ich betrachtete ihn ein letztes Mal. Mein Geschöpf. Ein kleiner, linkischer Spießbürger mit Hornbrille, dem ich künstliches Leben gegeben hatte.
Vielleicht liebt er mich tatsächlich, überlegte ich, während ich mit dem Zeigefinger auf den Delete-Knopf zusteuerte. Vielleicht brauchen auch AIs Liebe. Und vielleicht hätte er richtig gut ausgesehen, im Hochzeitsanzug mit Blume im Revers und Fliege?
Ich werde es nie erfahren, dachte ich, während Karls Figur auf dem Bildschirm sich auflöste. Fast konnte ich seinen letzten verzweifelten Schrei hören.

Ich habe mir keine knallharte Geschäftsfrau zugelegt. Auch keinen coolen Rockstar, obwohl es mich gereizt hätte. Ich habe jetzt eine Hamster-App, niedliche kleine Nagetiere mit kurzem Schwänzchen, mit denen ich mich über die Preise für Nüsschen und Karotten unterhalte, und darüber, ob man die Schlafhöhle lieber mit Watte oder mit Daunen auspolstern sollte. Ich bin für Watte. Bleibt weniger im Fell hängen.
 



 
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