Karl wird systemrelevant

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Maribu

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Karl wird systemrelevant

Alle prophezeiten: 'Silvester wird anders!'
Ich will nicht sagen, dass es eine Trauerfeier war, aber traurig war der Jahreswechsel schon!
Karl und ich waren wie in 2019 bei unseren Kindern eingeladen. Sohn Sebastian, Schwiegertochter
Melanie und Enkel Jonas. Mehr Gäste waren ja nicht erlaubt.
Im vorigen Jahr waren wir über zwanzig Personen. Eine bunte Gästeschar aus Verwandten, Freunden
und Nachbarn. Alle waren gutgelaunt, auch bevor der Alkohol die Stimmung noch erheblich
steigerte! Nach dem üblichen Anstoßen mit reichlich viel Sekt
ging es nach Mitternacht erst
richtig los. Es wurde ausgelassen getanzt. Sogar die alte Polonäse Blankenese tauchte wieder auf
und ließ alle durch sämtliche Räume hopsen.

Mir fällt auf, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Ich bin Bertha, Karls Frau.

Fondue ist ein gemütliches Essen, bei dem man sich unterhalten und die Zeit überbrücken kann.
Während des Essens hatte Karl seinen Mund-Nasen-Schutz unter das Kinn geschoben.
Unser sechzehnjähriger Enkel hatte im Radio einen Sender eingestellt, der die Musik nach seinem,
aber nicht unserem Geschmack, den Appetit nicht gerade anregte.
Sebastian hatte den Fernseher zu uns gerichtet und "Dinner for One" aus der Mediathek eingeschaltet.
Für ihn wie für viele andere ist das eine Kultsendung, die zu Silvester gehörte. So lief dieses Stück als
Endlosschleife bis kurz vor Mitternacht. Sebastian konnte immer wieder lachen, wenn James über den
Tigerkopf stolperte. Mein Mann schaute stoisch auf den Bildschirm und bemerkte lakonisch, dass
die beiden überhaupt nicht älter werden. Er stieß Jonas in die Rippen und sagte lächelnd:
"Hast du gesehen, mit welchem Ekel James das Blumenwasser ausgetrunken hat? Diese Stelle ist
für mich am Lustigsten!"
Mein Mann trank Bier und die anderen und ich hatten uns für Weißwein entschieden.
Irgendwann fragte Karl nach Wodka. Sebastian hatte noch eine angefangene Flasche und
sagte scherzhaft: "Die bekommst du nur, wenn du deinen albernen Mundschutz abnimmst!"
Mein Mann lachte, streifte die Maske ab und erwiderte lachend: "Die brauche ich dann ja
nicht mehr, Wodka desinfiziert!"
Melanie musste auch lachen und fragte, weshalb er ihn überhaupt mitgenommen hat.
Sie seien doch in der Familie und nicht in einem Laden. Karl antwortete ganz ernst:
"Ich bin ja schon über das Verfallsdatum, statistisch schon tot, aber ich halte mich an die
Vorschriften und will euch schützen!"
Ich klärte meine Schwiegertochter auf: "Karl vertraut nur den Virologen und dem Tierarzt
vom Robert-Koch-Institut."
Jonas fragte Opa nach seiner Kindheit und wollte alles aus seiner Soldatenzeit wissen.
Karl fand Geschmack an dem Wodka und bediente sich während des Gesprächs
ausgiebig.
Als das Jahr so langsam dem Ende zuging, sagte Karl unvermutet: "Dass ich das noch
erleben darf!"
"Was, Opa?" fragte Jonas.
"Nach der Pest, den Weltkriegen und der Spanischen Grippe nun noch den Lockdown
wegen 'Corona'. Und nur, weil die Chinesen Appetit auf Fledermäuse hatten!"
Jonas hatte noch Knallkram vom letzten Jahr und besorgte sich eine Rakete.
Kurz nach zwölf gingen wir auf den Balkon. Der Hals der inzwischen leeren Wodkaflasche
wurde zur Abschussbasis. Jonas sagte: "Opa, das ist ja dieses Jahr nicht erlaubt, aber du
siehst und hörst ja, dass sich nicht alle daran halten. Dann können wir wenigstens diese
Rakete in den Himmel schicken." Und dann lachend: "Man sagt doch, dass Feuerwerk die
bösen Geister verscheucht!"
Die Rakete muss teuer gewesen sein: Nach allen Seiten schossen Blitze in Regenbogenfarben,
gewannen an Höhe und krepierten mit einem ohrenbetäubenden Krachen.
Karl klatschte begeistert und rief: "Hau ab, Corona! Hau ab und lass dich nie wieder sehen!
Weil heute Silvester ist, schreie ich sogar: Verpiss dich!"
Ich habe mich so geschämt und war froh, dass es dunkel war und niemand mitbekam, wie mir
das Blut ins Gesicht schoss.
Jonas hat das wohl gespürt. Er kam sofort zu mir, nahm meine Hand und sagte tröstend:
"Oma Bertha, dass hat Opa nicht so gemeint! Das Bier und der Wodka haben ihn umgehauen!"
Melanie und Sebastian taten so, als hätten sie nichts gehört. Danach wollten sie uns noch
Kaffee und Berliner vorsetzen. Wir fuhren aber nach Haus.

Mein Mann wird Ende Januar achtzig, und ich bin froh, dass bald geimpft wird.
Die Aufforderung dazu wird wohl alphabetisch erfolgen. Da wir Andersen heißen, wird er
wohl zu den Ersten gehören.
Die erste Impfung soll ja andere schützen. Die zweite soll das Immunsystem stabilisieren.
Vielleicht stabilisiert sie ja noch mehr!
Nach der zweiten Corona-Welle ist Karl nämlich so eigenartig und übervorsichtig geworden.
Er liegt unbequem an der Aussenkante seines Bettes.
Manchmal habe ich das Bedürfnis, ihn zu spüren, von ihm in den Arm genommen zu werden.
Er wehrt aber immer ab. "Später!, sagt er. Und: "Denke an die AHA-Regeln!"
Daran denke ich bestimmt nicht, aber daran, dass es eine Ausrede ist.
Ich räche mich aber! Mitten in der Nacht rüttel ich ihn wach und schimpfe:
"Du schnarchst so laut, dass ich kein Auge zu bekomme! Entweder du gehst auf die Couch
oder du setzt deine FFP2-Maske auf!"
Er rückt dann in die Mitte, liegt auf dem Rücken, röchelt nach Luft und sieht aus wie ein
Maulwurf.
Jetzt, im neuen Jahr, hat er seinen Humor wieder gefunden. Gestern sagte er beim Kaffeetrinken:
"Wenn ich die zweite Impfung hinter mir habe, bin ich systemrelevant!"
Dass muss ja nicht sein! Sonst kommt unsere Regierung noch auf die Idee, alle Geimpften
wieder zur Arbeit zu schicken. Bei den vielen Schulden durch Cobit19 ja nicht unmöglich!
Ich wäre zufrieden, wenn er durch die zweite Spritze soviel Mut erhält, wieder in mein
Bett zu kommen!
 



 
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