„Narja? Narja!“
Erschrocken sah sie hoch. Sie befanden sich auf einem Gebirgspfad und anscheinend war sie auf dem Pferd eingeschlafen. Leicht verlegen rieb sie sich über die Augen. Svaki ritt neben ihr und sah sie ärgerlich an.
„Narja, hörst du mir überhaupt zu?“
„Natürlich“, sagte sie so überzeugend wie möglich. Der schwarzhaarige Junge blickte skeptisch.
„Also, ich sagte gerade, dass in dem Dorf viele Gerüchte über den Tod des Kaufmanns herumgehen, auch darüber, dass es ein Corrî war, der den Mann ermordet hat, nachdem er den besten Schwertkämpfer der Gegend mühelos besiegt hat. Wohl der einzige“, bemerkte er spöttisch. Narja hatte Svaki heute Nacht ein wenig über die seltsame Technik des Kämpfers und ihren Auftrag erzählt, obwohl sie eigentlich gegenüber allen Gildenmitglieder und erst recht allen Anderen Schweigen über ihre Aufträge bewahren müsste. Doch sie und Svaki kannten sich schon seit sieben Jahren, als er zu den Corras gestoßen war. Und Corrî reisten und arbeiten eigentlich nie zusammen, um ihre Identitäten zu verbergen, doch der Meister hatte bei ihnen eine Ausnahme gemacht.
„Natürlich wird das Gerücht über die Corras heftigst dementiert, aber die Leute reden nun mal und sie glauben an jede Theorie, ob sie nun in ihren Augen erfunden oder wahr ist. Sie reden davon, dass es entweder Mîrvaen oder Brain war.“ Narja lächelte vor sich hin. Mîrvaen, die Katze, das war sie. Den Auftragsnamen hatte sie mit Vollendung ihrer Ausbildung im Alter von elf Jahren bekommen. Seitdem verübte sie Morde, stahl Schmuck oder spionierte - je nachdem, welchen Auftrag der Meister ihr gab. Am Anfang waren es nur kleine Sachen gewesen, die sie dank der harten, hervorragenden Ausbildung, die sie in Rekordzeit absolviert hatte, leicht schaffte. Heute war sie sechzehn und gehörte zu den Besten. Svaki, der ein Jahr älter war als sie, war nicht so gut und bewunderte ihre erlernten und angeborenen Fähigkeiten.
Erneut unterbrach der Junge ihre Gedanken, als er fragte: „Wohin reiten wir noch mal?“
„Nach Endorah. Das ist die Hauptstadt eines kleinen Fürstentums im Norden von Mindothra.“ Freundlich blickte sie ihn aus grauen Augen an. Der Wind spielte in ihren kurzen, blonden Haaren und veranlasste Svaki zu einem anerkennenden Blick. Narja sah zur Seite und seufzte. Manchmal kam sie sich älter vor als er, was aber vermutlich daran lag, dass sie von klein auf unter der Disziplin der Corras aufgewachsen war und gelernt hatte, ihre Gefühle nicht so zur Schau zu stellen.
„Ich hoffe, ich kann dort auch mal wieder einen Auftrag erledigen“, sagte er nachdenklich und hustete. „Es geht mir wirklich schon besser.“
„Ich hoffe es. Eigentlich hättest du das ja schon gestern Nacht erledigen sollen, aber du weißt selbst, dass es dir nicht gut genug ging.“ Sie gähnte. „Auch wenn das eine gute Übung gewesen wäre. Beim letzten Übungskampf warst du schlampig.“ Dann richtete sie sich im Sattel auf und spähte nach vorne.
„Dort ist eine Gruppe, eine Karawane oder so.“ Sie schärfte ihr Gehör. „Neun Pferde plus eines, das einen Wagen zieht.“ Angestrengt lauscht sie noch einmal und versuchte, alle störenden Geräusche auszublenden. „Zwölf oder dreizehn Leute.“
Svaki sah sie bewundernd an. Sie hasste diesen Blick, doch seine Fähigkeiten waren nur schwach ausgeprägt. Einzig und allein seine Ausdauer hatten ihn die Ausbildung überstehen und zu einem Corrî werden lassen. Denn nur wer gut war, überlebte die Ausbildung.
„Hör auf damit!“, herrschte sie ihn an. „So siehst du aus wie ein schwuler Dackel.“ Wütend sah er in die andere Richtung. Doch Narja beachtete ihn nicht weiter und hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder dem Weg vor ihnen zugewandt.
Eine halbe Stunde später hatten sie die Karawane erreicht. Höflich fragte Svaki, ob er und seine Schwester mitreisen konnten. Sie hatten sich darauf geeinigt, da es ungewöhnlich war, dass eine Frau alleine mit einem Mann reiste, der nicht ihr Verwandter oder ihr Mann war, und sie keine Aufmerksamkeit erregen wollten.
Der Karawanenführer sah sie begehrlich an und ihre Hand wanderte in Richtung ihres Dolches, der versteckt an ihrem Gürtel steckte. Doch sie beherrschte sich. Du bist eine Corrî, du hast es nicht nötig, dich davon aus der Ruhe bringen zu lassen, schalt sie sich. Dann reihte sie sich ruhig in den Zug ein.
Zwei Tage später erreichten sie gegen Abend Endorah. Narja und Svaki mieteten sich ein Zimmer in einem finsteren Wirtshaus namens „Goldener Phönix“ am Rande der Stadt. Doch wie ein goldener Phönix sahen der Schankraum und die Zimmer nicht aus. Eher wie ein dreckiger Noxar, dachte Narja. Zweifelhafte Gestalten, die in den größeren Städten vermutlich schon allein wegen ihres Aussehens verhaftet worden wären, musterten sie beim Eintreten. Drei Schankmädchen in schmuddeligen Kleidern bedienten oder wuschen dreckige Gläser, die hinterher noch genauso dreckig aussahen, und sie hörten den Wirt aus der Küche brüllen. Die Tische waren klein, alt und von Holzwürmern zerfressen, der Schankraum lag im Halbdunkeln.
Svaki fing Narjas Blick auf und nickte. Das war genau das Richtige für sie. Hier würde sich keiner um ihr Kommen und Gehen kümmern und sie konnten sich durch die schmalen, dreckigen Gassen ungesehen davonschleichen.
Nachdem sie ihre spärliche Habe im Zimmer verstaut hatten und einen riesigen, wenn auch unappetitlich aussehenden Eintopf gegessen hatten, verkündete Svaki, er werde die Gegend nach Fluchtwegen und „Vergnügungen“ absuchen. Narja nickte bloß. Sie kannte seine Vergnügen und würde sich ihren eigenen widmen - ein langes Bad im warmen Wasser.
Sie orderte noch einen Becher Wein und bestellte gleichzeitig das Wasser, bevor sie nach oben ging und zum ersten mal seit zwei Wochen wieder richtig badete. Obwohl das Wasser mehr lauwarm als warm war, war es sauber und sie fühlte sich danach viel wohler und war um einiges ärmer.
Sie rief nach den Mädchen, damit diese den Bottich wieder fortbrachten. Als sie wieder in ihr Zimmer trat, lag auf dem Tisch eine versiegelte Pergamentrolle mit der Aufschrift „Svaki“. Na toll! Jetzt durfte sie diesen Nichtsnutz von einem Corrî suchen, damit er seinen Auftrag erfüllen konnte. Sie seufzte. Es war schon dunkel und auch die Laternen in den Straßen waren größtenteils gelöscht.
Zu dem einen Dolch, den sie immer an der Hüfte trug, steckte sie noch zwei weitere ein - einen in ihren halbhohen Stiefel und einen in den linken Ärmel - sowie das Pergament und machte sich auf den Weg ins nächste Bordell.
Missmutig stapfte sie durch die Straßen, die Jacke bis zum Kinn hochgezogen, während sie Svaki und den Meister ins nächste Ryvpeknest wünschte. Hätte der gute Junge denn nicht später seinen Trieben nachgehen können oder es gleich ganz bleiben lassen? Sie verstand sowieso nicht, was er daran fand. Einmal hatte er probiert, auch sie ins Bett zu kriegen. Die Narbe erinnerte ihn heute noch daran und er hatte nie wieder auch nur eine Andeutung gemacht. Bei dem Gedanken daran lächelte sie grimmig.
Narja hörte die Hunde in der ganzen Gegend bellen und jaulen, sowie die Leute in den Häusern direkt an der Straße atmen. Die meisten schliefen. Doch ganz in ihrer Nähe befand sich eine Person. Sie schlief nicht und sie befand sich auch nicht innerhalb eines Hause. Narja runzelte die Stirn und horchte genauer. Jetzt bewegte sich die Person. Schritte kamen in ihre Richtung, bis schließlich auch ein normaler Mensch sie hätte hören können. Vermutlich nur ein weiterer Bote oder einer, der ebenfalls seinem „Vergnügen“ nachging. Dennoch tastete sie vorsichtshalber nach ihren Dolch.
Schon bog er um die Ecke. Ein junger Mann, vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie. Sie musterte ihn. Verschlissene, aber gepflegte Kleidung, dichte Haare, den Blick starr auf die Straße gerichtet und die Hände tief in den Taschen vergraben. Er könnte ihr vielleicht sagen, wo das Bordell war, bevor sie noch weiter hier herumirrte. Als sie auf gleicher Höhe waren, griff sie nach seinem Arm.
„He, warte mal!“ Ihre leise Stimme klang befehlend. Der Mann fuhr herum, hatte die Hand schon an seinem Dolch, bevor er das Mädchen erkannte. Er versuchte, einen väterlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
„Denja, eine so hübsche Frau wie Ihr sollte sich um diese Zeit nicht mehr hier herumtreiben.“ Seine zuckenden Mundewinkeln verrieten, dass er genau das wollte.
„Ich bin auf der Suche nach dem Bordell. Könntet Ihr mir freundlicherweise behilflich sein, Din?“ Sie betonte die Anrede und erwiderte seinen Blick aus grauen Augen.
„Was will denn eine attraktive Frau, wie Ihr es seid, in einem Bordell, wo es nur Frauen gibt? Ihr wäret mit einem harten Mann wie mir viel besser dran.“ Narja sah ihn angewidert an, während er nach ihr griff, bevor sie blitzschnell ihren Dolch zückte. Sie hielt ihn sehr tief, während sie mit leiser Stimme drohte: „Wenn Ihr mir nicht sofort sagt, wo das nächste Bordell ist, dann werdet ihr euer Glied in keine Frau mehr versenken.“ Er schluckte und versuchte ein unsicheres Lächeln. Sie bewegte ihre Waffe ein wenig und lächelte aufreizend.
„Nun?“
„Ihr... Ihr müsst einfach diese Straße entlang, bis zu einer Kreuzung. Dort nach recht und dann fast bis an die Stadtmauer. Auf der linken Seite findet Ihr es.“
„Danke.“ Sie nahm den Dolch weg und der junge Mann atmete erleichtert auf und wollte schnell verschwinden. Doch ihr Dolch war schneller und sie hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Das letzte, was sie von ihm hörte, war ein überraschtes Röcheln. Sie ließ ihn zu Boden gleiten
„Nein, mein Lieber, ich lasse mich nicht einfach beleidigen.“ Narja lächelte spöttisch auf den toten mann nieder, wandte sich ab und folgte seiner Wegbeschreibung.
Eine etwas kräftigere Frau, die sogar kleiner als Narja war, begrüßte sie freundlich, als sie das heruntergekommen aussehende Haus betrat. Innen war es jedoch hübsch und gemütlich eingerichtet.
„Meine Liebe, Gäste wie Euch haben wir nur selten hier“, schnurrte sie. „Ich werde aber sicher ein Mädchen finden, das Euch willig ist.“
„Spart Euch das“, erwiderte Narja barsch. „Ich suche nur meinen Bruder. Er ist größer als ich, schwarze, kurze Haare, ein Jahr älter, müsste vor etwa einer Stunde gekommen sein.“
Die Frau zögerte. „Ja, er könnte hier gewesen sein, aber... ich möchte nicht gerne stören.“
„Wo ist er? Es ist dringend.“ Die Frau blickte sie noch einen Moment unentschlossen an, doch dann entschied sie, wenn ein Mädchen nachts alleine ihren Bruder suchte, dann war es wichtig. Sie wies Narja den Weg zu einem Zimmer, aus dem trotz geschlossener Tür seltsame Geräusche drangen.
Rasch stieß sie die Tür auf und befahl schroff: „Svaki, komm.“ Sie fühlte sich inmitten dieser Mädchen und Frauen, die ihren Körper für Geld wegschmissen, sehr unwohl und ärgerte sich, halb umsonst gebadet zu haben. Außerdem wollte sie schlafen.
Das Mädchen, dass sich gerade intensiv mit ihrem Freund beschäftigt hatte, zog erschreckt ihr Kleid hoch, das im Grunde sowieso nichts verdeckte. Narja hatte nur einen abfälligen Blick für sie und konzentrierte sich lieber auf Svakis Unmut.
„Was soll das? Siehst du nicht dass ich beschäftigt bin?“, fragte er hitzig.
„Nein. Es ist wichtig und duldet keinen Aufschub.“ Das Mädchen floh aus dem Zimmer, wobei sie an der ungeduldigen Narja vorbei musste. Ängstlich machte sie sich so dünn wie möglich und hielt immer noch das bisschen Stoff fest, das sich Kleid schimpfte. Svaki sah ihr missmutig hinterher.
„Toll. Hättest du nicht später kommen können? So wichtig kann es doch gar nicht sein. Aber jetzt ist sie eh weg und nochmal von vorne anfangen würde mich arm machen.“ Grummelnd zog seine Kleider wieder an und folgte ihr aus dem Bordell.
Nebeneinander liefen sie schweigend durch die Straßen, bis Svaki das Schweigen brach, indem er bemerkte: „Du trägst Hosen.“
„Ja, und?“
„Du fällst auf.“ Narja knirschte mit den Zähnen. Verdammt, ja, er hatte Recht, aber immerhin war sie nach ihrem Bad noch einmal raus in diese Kälte, um ihn zu suchen, damit er keinen Ärger bekam, weil er seinen Auftrag nicht rechtzeitig erfüllt. Dennoch widersprach sie: „Ist doch eh keiner unterwegs, der mich sehen könnte.“
Keiner von ihnen wagte, das Thema Auftrag außerhalb eines sicheren Zimmers anzusprechen, daher unterhielten sie sich nur über belanglose Dinge. Im Grunde redete Svaki und Narja gab müde, einsilbige Antworten.
Als sie ihr Zimmer betraten holte sie kommentarlos das Pergament aus ihrer Jacke und begab sich ins Bett. Sie war hundemüde, da sie in den letzten Tagen nur wenig geschlafen hatte. Sie hörte Svaki noch etwas murmeln und in seinen Kleider herumkramen, bevor sie einschlief.
Erschrocken sah sie hoch. Sie befanden sich auf einem Gebirgspfad und anscheinend war sie auf dem Pferd eingeschlafen. Leicht verlegen rieb sie sich über die Augen. Svaki ritt neben ihr und sah sie ärgerlich an.
„Narja, hörst du mir überhaupt zu?“
„Natürlich“, sagte sie so überzeugend wie möglich. Der schwarzhaarige Junge blickte skeptisch.
„Also, ich sagte gerade, dass in dem Dorf viele Gerüchte über den Tod des Kaufmanns herumgehen, auch darüber, dass es ein Corrî war, der den Mann ermordet hat, nachdem er den besten Schwertkämpfer der Gegend mühelos besiegt hat. Wohl der einzige“, bemerkte er spöttisch. Narja hatte Svaki heute Nacht ein wenig über die seltsame Technik des Kämpfers und ihren Auftrag erzählt, obwohl sie eigentlich gegenüber allen Gildenmitglieder und erst recht allen Anderen Schweigen über ihre Aufträge bewahren müsste. Doch sie und Svaki kannten sich schon seit sieben Jahren, als er zu den Corras gestoßen war. Und Corrî reisten und arbeiten eigentlich nie zusammen, um ihre Identitäten zu verbergen, doch der Meister hatte bei ihnen eine Ausnahme gemacht.
„Natürlich wird das Gerücht über die Corras heftigst dementiert, aber die Leute reden nun mal und sie glauben an jede Theorie, ob sie nun in ihren Augen erfunden oder wahr ist. Sie reden davon, dass es entweder Mîrvaen oder Brain war.“ Narja lächelte vor sich hin. Mîrvaen, die Katze, das war sie. Den Auftragsnamen hatte sie mit Vollendung ihrer Ausbildung im Alter von elf Jahren bekommen. Seitdem verübte sie Morde, stahl Schmuck oder spionierte - je nachdem, welchen Auftrag der Meister ihr gab. Am Anfang waren es nur kleine Sachen gewesen, die sie dank der harten, hervorragenden Ausbildung, die sie in Rekordzeit absolviert hatte, leicht schaffte. Heute war sie sechzehn und gehörte zu den Besten. Svaki, der ein Jahr älter war als sie, war nicht so gut und bewunderte ihre erlernten und angeborenen Fähigkeiten.
Erneut unterbrach der Junge ihre Gedanken, als er fragte: „Wohin reiten wir noch mal?“
„Nach Endorah. Das ist die Hauptstadt eines kleinen Fürstentums im Norden von Mindothra.“ Freundlich blickte sie ihn aus grauen Augen an. Der Wind spielte in ihren kurzen, blonden Haaren und veranlasste Svaki zu einem anerkennenden Blick. Narja sah zur Seite und seufzte. Manchmal kam sie sich älter vor als er, was aber vermutlich daran lag, dass sie von klein auf unter der Disziplin der Corras aufgewachsen war und gelernt hatte, ihre Gefühle nicht so zur Schau zu stellen.
„Ich hoffe, ich kann dort auch mal wieder einen Auftrag erledigen“, sagte er nachdenklich und hustete. „Es geht mir wirklich schon besser.“
„Ich hoffe es. Eigentlich hättest du das ja schon gestern Nacht erledigen sollen, aber du weißt selbst, dass es dir nicht gut genug ging.“ Sie gähnte. „Auch wenn das eine gute Übung gewesen wäre. Beim letzten Übungskampf warst du schlampig.“ Dann richtete sie sich im Sattel auf und spähte nach vorne.
„Dort ist eine Gruppe, eine Karawane oder so.“ Sie schärfte ihr Gehör. „Neun Pferde plus eines, das einen Wagen zieht.“ Angestrengt lauscht sie noch einmal und versuchte, alle störenden Geräusche auszublenden. „Zwölf oder dreizehn Leute.“
Svaki sah sie bewundernd an. Sie hasste diesen Blick, doch seine Fähigkeiten waren nur schwach ausgeprägt. Einzig und allein seine Ausdauer hatten ihn die Ausbildung überstehen und zu einem Corrî werden lassen. Denn nur wer gut war, überlebte die Ausbildung.
„Hör auf damit!“, herrschte sie ihn an. „So siehst du aus wie ein schwuler Dackel.“ Wütend sah er in die andere Richtung. Doch Narja beachtete ihn nicht weiter und hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder dem Weg vor ihnen zugewandt.
Eine halbe Stunde später hatten sie die Karawane erreicht. Höflich fragte Svaki, ob er und seine Schwester mitreisen konnten. Sie hatten sich darauf geeinigt, da es ungewöhnlich war, dass eine Frau alleine mit einem Mann reiste, der nicht ihr Verwandter oder ihr Mann war, und sie keine Aufmerksamkeit erregen wollten.
Der Karawanenführer sah sie begehrlich an und ihre Hand wanderte in Richtung ihres Dolches, der versteckt an ihrem Gürtel steckte. Doch sie beherrschte sich. Du bist eine Corrî, du hast es nicht nötig, dich davon aus der Ruhe bringen zu lassen, schalt sie sich. Dann reihte sie sich ruhig in den Zug ein.
Zwei Tage später erreichten sie gegen Abend Endorah. Narja und Svaki mieteten sich ein Zimmer in einem finsteren Wirtshaus namens „Goldener Phönix“ am Rande der Stadt. Doch wie ein goldener Phönix sahen der Schankraum und die Zimmer nicht aus. Eher wie ein dreckiger Noxar, dachte Narja. Zweifelhafte Gestalten, die in den größeren Städten vermutlich schon allein wegen ihres Aussehens verhaftet worden wären, musterten sie beim Eintreten. Drei Schankmädchen in schmuddeligen Kleidern bedienten oder wuschen dreckige Gläser, die hinterher noch genauso dreckig aussahen, und sie hörten den Wirt aus der Küche brüllen. Die Tische waren klein, alt und von Holzwürmern zerfressen, der Schankraum lag im Halbdunkeln.
Svaki fing Narjas Blick auf und nickte. Das war genau das Richtige für sie. Hier würde sich keiner um ihr Kommen und Gehen kümmern und sie konnten sich durch die schmalen, dreckigen Gassen ungesehen davonschleichen.
Nachdem sie ihre spärliche Habe im Zimmer verstaut hatten und einen riesigen, wenn auch unappetitlich aussehenden Eintopf gegessen hatten, verkündete Svaki, er werde die Gegend nach Fluchtwegen und „Vergnügungen“ absuchen. Narja nickte bloß. Sie kannte seine Vergnügen und würde sich ihren eigenen widmen - ein langes Bad im warmen Wasser.
Sie orderte noch einen Becher Wein und bestellte gleichzeitig das Wasser, bevor sie nach oben ging und zum ersten mal seit zwei Wochen wieder richtig badete. Obwohl das Wasser mehr lauwarm als warm war, war es sauber und sie fühlte sich danach viel wohler und war um einiges ärmer.
Sie rief nach den Mädchen, damit diese den Bottich wieder fortbrachten. Als sie wieder in ihr Zimmer trat, lag auf dem Tisch eine versiegelte Pergamentrolle mit der Aufschrift „Svaki“. Na toll! Jetzt durfte sie diesen Nichtsnutz von einem Corrî suchen, damit er seinen Auftrag erfüllen konnte. Sie seufzte. Es war schon dunkel und auch die Laternen in den Straßen waren größtenteils gelöscht.
Zu dem einen Dolch, den sie immer an der Hüfte trug, steckte sie noch zwei weitere ein - einen in ihren halbhohen Stiefel und einen in den linken Ärmel - sowie das Pergament und machte sich auf den Weg ins nächste Bordell.
Missmutig stapfte sie durch die Straßen, die Jacke bis zum Kinn hochgezogen, während sie Svaki und den Meister ins nächste Ryvpeknest wünschte. Hätte der gute Junge denn nicht später seinen Trieben nachgehen können oder es gleich ganz bleiben lassen? Sie verstand sowieso nicht, was er daran fand. Einmal hatte er probiert, auch sie ins Bett zu kriegen. Die Narbe erinnerte ihn heute noch daran und er hatte nie wieder auch nur eine Andeutung gemacht. Bei dem Gedanken daran lächelte sie grimmig.
Narja hörte die Hunde in der ganzen Gegend bellen und jaulen, sowie die Leute in den Häusern direkt an der Straße atmen. Die meisten schliefen. Doch ganz in ihrer Nähe befand sich eine Person. Sie schlief nicht und sie befand sich auch nicht innerhalb eines Hause. Narja runzelte die Stirn und horchte genauer. Jetzt bewegte sich die Person. Schritte kamen in ihre Richtung, bis schließlich auch ein normaler Mensch sie hätte hören können. Vermutlich nur ein weiterer Bote oder einer, der ebenfalls seinem „Vergnügen“ nachging. Dennoch tastete sie vorsichtshalber nach ihren Dolch.
Schon bog er um die Ecke. Ein junger Mann, vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie. Sie musterte ihn. Verschlissene, aber gepflegte Kleidung, dichte Haare, den Blick starr auf die Straße gerichtet und die Hände tief in den Taschen vergraben. Er könnte ihr vielleicht sagen, wo das Bordell war, bevor sie noch weiter hier herumirrte. Als sie auf gleicher Höhe waren, griff sie nach seinem Arm.
„He, warte mal!“ Ihre leise Stimme klang befehlend. Der Mann fuhr herum, hatte die Hand schon an seinem Dolch, bevor er das Mädchen erkannte. Er versuchte, einen väterlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
„Denja, eine so hübsche Frau wie Ihr sollte sich um diese Zeit nicht mehr hier herumtreiben.“ Seine zuckenden Mundewinkeln verrieten, dass er genau das wollte.
„Ich bin auf der Suche nach dem Bordell. Könntet Ihr mir freundlicherweise behilflich sein, Din?“ Sie betonte die Anrede und erwiderte seinen Blick aus grauen Augen.
„Was will denn eine attraktive Frau, wie Ihr es seid, in einem Bordell, wo es nur Frauen gibt? Ihr wäret mit einem harten Mann wie mir viel besser dran.“ Narja sah ihn angewidert an, während er nach ihr griff, bevor sie blitzschnell ihren Dolch zückte. Sie hielt ihn sehr tief, während sie mit leiser Stimme drohte: „Wenn Ihr mir nicht sofort sagt, wo das nächste Bordell ist, dann werdet ihr euer Glied in keine Frau mehr versenken.“ Er schluckte und versuchte ein unsicheres Lächeln. Sie bewegte ihre Waffe ein wenig und lächelte aufreizend.
„Nun?“
„Ihr... Ihr müsst einfach diese Straße entlang, bis zu einer Kreuzung. Dort nach recht und dann fast bis an die Stadtmauer. Auf der linken Seite findet Ihr es.“
„Danke.“ Sie nahm den Dolch weg und der junge Mann atmete erleichtert auf und wollte schnell verschwinden. Doch ihr Dolch war schneller und sie hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Das letzte, was sie von ihm hörte, war ein überraschtes Röcheln. Sie ließ ihn zu Boden gleiten
„Nein, mein Lieber, ich lasse mich nicht einfach beleidigen.“ Narja lächelte spöttisch auf den toten mann nieder, wandte sich ab und folgte seiner Wegbeschreibung.
Eine etwas kräftigere Frau, die sogar kleiner als Narja war, begrüßte sie freundlich, als sie das heruntergekommen aussehende Haus betrat. Innen war es jedoch hübsch und gemütlich eingerichtet.
„Meine Liebe, Gäste wie Euch haben wir nur selten hier“, schnurrte sie. „Ich werde aber sicher ein Mädchen finden, das Euch willig ist.“
„Spart Euch das“, erwiderte Narja barsch. „Ich suche nur meinen Bruder. Er ist größer als ich, schwarze, kurze Haare, ein Jahr älter, müsste vor etwa einer Stunde gekommen sein.“
Die Frau zögerte. „Ja, er könnte hier gewesen sein, aber... ich möchte nicht gerne stören.“
„Wo ist er? Es ist dringend.“ Die Frau blickte sie noch einen Moment unentschlossen an, doch dann entschied sie, wenn ein Mädchen nachts alleine ihren Bruder suchte, dann war es wichtig. Sie wies Narja den Weg zu einem Zimmer, aus dem trotz geschlossener Tür seltsame Geräusche drangen.
Rasch stieß sie die Tür auf und befahl schroff: „Svaki, komm.“ Sie fühlte sich inmitten dieser Mädchen und Frauen, die ihren Körper für Geld wegschmissen, sehr unwohl und ärgerte sich, halb umsonst gebadet zu haben. Außerdem wollte sie schlafen.
Das Mädchen, dass sich gerade intensiv mit ihrem Freund beschäftigt hatte, zog erschreckt ihr Kleid hoch, das im Grunde sowieso nichts verdeckte. Narja hatte nur einen abfälligen Blick für sie und konzentrierte sich lieber auf Svakis Unmut.
„Was soll das? Siehst du nicht dass ich beschäftigt bin?“, fragte er hitzig.
„Nein. Es ist wichtig und duldet keinen Aufschub.“ Das Mädchen floh aus dem Zimmer, wobei sie an der ungeduldigen Narja vorbei musste. Ängstlich machte sie sich so dünn wie möglich und hielt immer noch das bisschen Stoff fest, das sich Kleid schimpfte. Svaki sah ihr missmutig hinterher.
„Toll. Hättest du nicht später kommen können? So wichtig kann es doch gar nicht sein. Aber jetzt ist sie eh weg und nochmal von vorne anfangen würde mich arm machen.“ Grummelnd zog seine Kleider wieder an und folgte ihr aus dem Bordell.
Nebeneinander liefen sie schweigend durch die Straßen, bis Svaki das Schweigen brach, indem er bemerkte: „Du trägst Hosen.“
„Ja, und?“
„Du fällst auf.“ Narja knirschte mit den Zähnen. Verdammt, ja, er hatte Recht, aber immerhin war sie nach ihrem Bad noch einmal raus in diese Kälte, um ihn zu suchen, damit er keinen Ärger bekam, weil er seinen Auftrag nicht rechtzeitig erfüllt. Dennoch widersprach sie: „Ist doch eh keiner unterwegs, der mich sehen könnte.“
Keiner von ihnen wagte, das Thema Auftrag außerhalb eines sicheren Zimmers anzusprechen, daher unterhielten sie sich nur über belanglose Dinge. Im Grunde redete Svaki und Narja gab müde, einsilbige Antworten.
Als sie ihr Zimmer betraten holte sie kommentarlos das Pergament aus ihrer Jacke und begab sich ins Bett. Sie war hundemüde, da sie in den letzten Tagen nur wenig geschlafen hatte. Sie hörte Svaki noch etwas murmeln und in seinen Kleider herumkramen, bevor sie einschlief.