Kein Alibi für Freddie

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Bo-ehd

Mitglied
Sylvies Zehen mit den frisch lackierten Nägeln tasteten sind vorsichtig in die Filzpantoletten. Sie stand auf und schaute aus dem Fenster, schloss ihre Pyjamajacke und öffnete die Tür, um ihre Mutter hereinzulassen. Irene und ihre Tochter Sylvie – das schien ein und dieselbe Person zu sein, denn alles, was man hören oder sehen konnte, war gleich: Haarfarbe, Größe, Figur, Gesicht, Gang und Stimme. Was sie äußerlich unterschied, waren ein paar Falten um die Augen und die Weiße ihrer Zähne.
„Morgen, Kleines, hab ich dich wohl aus dem Bett geklingelt?“, fragte sie.
„So ziemlich. Komm rein, ich bin im Wohnzimmer“, kam es zurück. „Ich habe heute meinen freien Tag, wie du weißt, und da lasse ich es gern geruhsam angehen.“ Sie ging voran. „Setz dich zu mir vor den Kamin. Gibt es irgendetwas Wichtiges?“
„Nein, nichts. Könntest du mich um halb elf in die Klinik fahren? Ich bekomme wieder diese Spritze, die mir die Beine so schwer macht. Da will ich selbst nicht fahren. Lass uns danach essen gehen. Ich spare die Taxikosten, dafür lade ich dich zum Italiener ein. Was meinst du?“
„Hab ich eine Wahl?“ Sylvie grinste und zog die Augenbrauen hoch.
„Nein.“ Kaum hatte Irene Platz genommen, stand sie schon wieder auf und ging auf die Bücherwand zu. Sie griff nach einem Foto in einem Rahmen, das auf einem der Regale stand, betrachtete es und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Er sieht ja gut aus, das muss ich zugeben, aber mit dem Typen werde ich einfach nicht warm.“
„Sollst du auch nicht“, antwortete Sylvie, während sie das Fläschchen mit dem Nagellack in ihrem Beautycase verstaute. „Hauptsache ich tue es. Wir lieben uns. Ich habe es dir schon tausend Mal erklärt.“
„Das macht die Sache ja so schlimm“, bemerkte Irene mit einem Ton von Verachtung.
„Du kannst ihn schlechtmachen, wie du willst, Mama, ich stehe zu ihm.“ Sylvie atmete hastig und schwer. „Warum mischt du dich da ein? Und überhaupt ‚Typ‘, was soll das?“
„Ich habe mich noch nie eingemischt. Adrian, Gernot, Ulf und wie sie alle heißen – noch nie habe ich einen von denen kritisiert. Es ist dein Leben, und deshalb muss ich sowieso akzeptieren, mit wem du dich abgibst.“
„Und warum stänkerst du dann immerzu bei Freddie? Ihr kennt euch kaum, und er hat nie ein böses Wort über dich verloren. Was wirfst du ihm vor?“, fragte Sylvie voller Unverständnis. „Nun setz dich wieder. Und stell das Bild hin, wo es war.“
„Er ist ein Gauner, Sylvie, und du bist zu schade für ihn. Es wird ein böses Erwachen geben. Ich sehe das voraus.“
„Pffft! Alles Mutmaßungen! Völlig aus der Luft gegriffen. Es gibt nicht einen einzigen Beweis.“ Sylvie wurde stinksauer, wollte aber den Ton ihrer Mutter gegenüber nicht verschärfen.
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, bei denen man sich auf das Bauchgefühl verlassen kann. Eine Mutter fühlt, wann es für ihr Kind gefährlich wird.“ Das klang nach unanfechtbarer Dominanz. Trotzdem blieb Sylvia gefasst.
„Komm jetzt nicht mit deinem mütterlichen Instinkt. Ich dachte, dieses Thema hätten wir früher schon ausdiskutiert.“
„Die Lebenserfahrung spielt da auch noch mit rein“, setzte Irene nach.
„Meine Güte, Mama! Soll ich mich jetzt totlachen? Unser Vater war der erste und einzige Mann in deinem Leben, und du willst mir etwas von Lebenserfahrung erzählen?“
„Ich gebe zu, dass dein Vater der einzige Mann war. Aber wir haben viel gesehen in unseren Bekanntenkreis und so manche Tragödie miterlebt.“ Irene schwieg für einen Moment, dann holte sie zum Wirkungstreffer aus. „Was ich dich überhaupt einmal fragen wollte: Woher stammt eigentlich das ganze Geld, mit dem dein Freddie um sich wirft? In seinem Job als Lagerarbeiter verdient er soviel garantiert nicht.“ Der Nadelstich saß.
Sylvie schaute ihre Mutter mit zusammengepressten Lippen an. „Das geht dich wirklich nichts an. Verrat mir trotzdem mal, was du meinst.“
„Das kann ich dir genau sagen: Er fährt diesen riesigen Amischlitten, trägt die teuersten Anzüge und hat eine Wohnung in der City. Er fliegt übers Wochenende in den Süden und schmeißt eine Party nach der anderen. Was macht er sonst noch neben seinem Job? Hat er dir etwa verraten, was er treibt, wenn er sich nachts aus dem Haus schleicht oder erst gar nicht nach Hause kommt?“ Jetzt war es raus. Sie hatte es endlich geschafft, diese Frage loszuwerden, die ihr schon lange auf der Zunge lag.
Sylvie schwieg betroffen. „Er hat mir mal erzählt, er hätte geerbt. Ich werde ihn trotzdem fragen. Das klärt sich sicherlich schnell auf.“
Irene zog die Augenbrauen hoch und verkniff es sich, noch mehr Salz in die Wunde zu streuen. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Tochter plötzlich ein wenig nachdenklich geworden war. In diesem Moment schlug die Uhr zehn.
„Lass mich schnell duschen. In der Küche steht noch Kaffee. Schenk dir eine Tasse ein.“ Sylvie tippelte ins Bad.
Nur wenige Augenblicke später hörte Irene das Rauschen der Dusche. Sie überblätterte lustlos die ersten Seiten der Cosmopolitan, die auf dem Tisch lag. Als sie aufsah, fiel ihr Blick wieder einmal auf das Gemälde neben der Tür, das dort wie eine Warnung hing. Sie hatte es schon so oft bestaunt und war immer wieder fasziniert von seiner Ausstrahlung. Es handelte sich um einen Druck von van Goghs „Maulbeerbaum“. Sie nickte nachdenklich. Der Maulbeerbaum, kam es ihr, war er nicht eine an die Eltern gerichtete Mahnung, sich nicht in die Liebesbeziehungen ihrer Kinder einzumischen? Sie verdrängte den Gedanken, weil er nicht zu ihrer Argumentation passte. Da klingelte das Telefon, und sie überlegte, ob sie es ihrer Tochter in die Dusche reichen soll, entschied dann aber, selbst abzuheben und den Anrufer zu bitten, seine Rufnummer für einen Rückruf zu nennen. Sie meldete sich mit ihrem Namen.
„Haussmann.“ Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da redete Freddie hektisch auf sie ein.
„Hi Schatz, ich bin sehr in Eile und werde gerade von der Polizei aufgehalten. Wenn dich die Bullen fragen sollten, sagst du, dass ich die ganze Nacht bei dir gewesen bin. Hast du das verstanden?“
„Ja.“ Und schon machte es klick in der Leitung.
„Ich hab‘s gewusst, das ist ein Filou. Möchte wissen, was er jetzt wieder angestellt hat“, murmelte sie vor sich hin und zwang sich, in dem Magazin weiterzublättern. Nach zwanzig Minuten kam Sylvie gestylt aus dem Bad.
„So, wir können“, meldete sie sich zurück und überspielte ihren Ärger über ihre Mutter.
„Da war ein Anruf für dich, als du unter der Dusche warst. Es war Freddie. Ich soll dir Folgendes ausrichten: Wenn dich die Bullen fragen sollten – ja, so drückte er sich aus – sollst du sagen, dass er die ganze Nacht nicht zu Hause war und du nicht wüsstest, wo er hingegangen ist.“
Sylvie nickte. Aus irgendeiner Sache will er mich raushalten, dachte sie. Wie rücksichtsvoll er doch sein kann.
 
Gut erzählt, und eine klasse Pointe. Ist zwar ein bisschen ,link’ von der Alten, und wehe, der Freddy kann sich auch ohne das gewünschte falsche Alibi rauswinden - dann ist aber die K...e am Dampfen! Ich liebe Geschichten, die solcherart in einem weiterarbeiten.

Freundliche Grüße
Binsenbrecher
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Binsenbrecher,
es gibt Geschichten und Sachverhalte, die geben am Schluss eine Menge her. Dies ist so eine. Die Pointe ist ja schon die Lüge der Mutter. Und dann setzt es noch mit dem letzten Satz einen Twist.
Leider kann man so etwas nicht regelmäßig konstruieren, da fehlt dann doch die Phantasie.
Danke fürs Kommentieren.
Gruß Bo-ehd
 

rubber sole

Mitglied
>Bo-ehd:

Das alte Spiel zwischen Mutter und Tochter: Wäre Freddy von eher bürgerlichem Strickmuster, hätte das Muttertier es nicht so einfach gehabt – es wäre aber dann auch eine andere Geschichte nötig geworden, bei dieser hier sitzt die Pointe. Wieder einmal gekonnt konstruiert und erzählt.

Gruß von rubber sole
 

Bo-ehd

Mitglied
In der Tat, rubber sole, das wäre eine andere Story geworden, was bedeutet, dass dieses Grundthema sehr viele Varianten kennt. In meiner nächsten Geschichte gehts um einen unauffälligen, ganz bösen Schwiegersohn (so wie du das angedacht hast), der sich - mein Lieblingsthema - selbst ein Bein stellt.
Gruß Bo-ehd
 

Tim van Laan

Mitglied
„Pffft! Alles Mutmaßungen! Völlig aus der Luft gegriffen. Es gibt nicht einen einzigen Beweis.“
Hi,

Ich mag die Geschichte, der Twist ist sehr schön.

Mich haben jedoch die gesprochenen Worte teils etwas irritiert. Besonders auffällig ist es in dem Satz, den ich hier zitiert habe. Für mich klingt das eher wie Theatersprache und nicht wie "echte" Sprache, die man gegenüber seiner Mutter nutzen würde. Vielleicht spricht mein Umfeld aber auch einfach nicht so hochgestochen.

Beste Grüße :)
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Tim,

diesen Eindruck haben Leser meiner Texte des Öfteren. Die Dialoge wirken ganz anders, wenn man sie erläutert:
"Pffft!", zischte sie und verdrehte dabei die Augen hinter dem Rücken ihrer Mutter. "Alles Mutmaßungen! Völlig aus der Luft gegriffen." Sie zuckte mit den Schultern, schaute ihre Mutter mit fragenden Augen an und hängte noch hintenan: "Es gibt nicht einen Beweis."
Auf diese Ergänzungen habe ich verzichtet, weil der Dialog genau diese Stimmung vermittelt. Da eine Kurzgeschichte eine dichte und geraffte Sprache enthält, halte ich sie (die Ergänzungen) nicht immer für notwendig.

Du musst auch mit einbeziehen, was vorangegangen ist: Hier zeichnet sich Sylvie selbst als unbelehrbar, leicht gereizt, zielstrebig, uneinsichtig, gutgläubig und völlig überzeugt von Freddies exzellentem Charakter. Ihre Reaktion "Pffft! ..."ist Ausdruck genau dieser Zeichnung. Der nachfolgende Dialog bestätigt das.

Theatersprache: Da magst du Recht haben. Ich bemühe mich, in der Sprache verständlich, zielgerichtet und präzise zu sein. Vielleicht hat es auch mit meiner langjährigen Schreib- und Lesepraxis zu tun; ich bin ja um ein bis zwei Generationen älter als du. Da kann der Sprachduktus nicht immer ganz frisch sein.

Gruß Bo-ehd
 



 
Oben Unten