Kein Halt, nirgends

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Hallo Stephanus,

mit diesem Gedicht ist wohl eine schwierige Nuss zu knacken.
So ganz blicke ich (noch) nicht durch.
Besonders bei dem letzten Vers.
Etwas, das fehlt, kann ja nicht fallen ... Deswegen würde ich das Wort „Fehlender" eventuell ganz streichen, so z. B.: „Ein Anker fiele ins Bodenlose."

Aber wahrscheinlich hast du dir etwas ganz anderes dabei gedacht, als ich herauslese.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

lietzensee

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Hallo zusammen,
"Fiele" ist ein Konjunktiv. Ich verstehe die letzte Zeile dann so: Sie haben keinen Anker, aber selbst wenn sie einen hätten, würde der ihnen in der bodenlosen See nichts nützen. Doppelte Haltlosigkeit sozusagen.

Unsicher bin ich mir eher bei der zweiten Zeile
Steuerlos treibt das Boot auf uferlosem See
Ist hier wirklich der See gemeint oder doch die See? Selbst am schwäbischen Meer soll man bei gutem Wetter ja das andere Ufer sehen können.

Viele Grüße
lietzensee
 

fee_reloaded

Mitglied
"Fiele" ist ein Konjunktiv. Ich verstehe die letzte Zeile dann so: Sie haben keinen Anker, aber selbst wenn sie einen hätten, würde der ihnen in der bodenlosen See nichts nützen. Doppelte Haltlosigkeit sozusagen.
So lese ich das auch.
Und auch der uferlose See spricht für mich von verlorener Perspektive...ein Ufer ist zwar da, aber man sieht es nicht und somit keinen Halt und kein konkretes Ziel.

Ich lese den Text als das Bildnis der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer irgendwie nach Europa zu kommen versuchen und dafür eine lebensgefährliche Fahrt ins Ungewisse riskieren. Ein Umstand, der von der Größe der Not spricht, der zu entkommen versucht wird.
Grelles Licht trifft auf schutzlose Körper
Ich bin mir sicher, gemeint ist das grelle Licht der Starkscheinwerfer der Küstenwache, der dieses Abbild unaussprechlicher Not "ins Licht rückt".

In knappen Worten die Not gekonnt beleuchtet! Stark!

LG,
fee
 
Mir ging es gar nicht um das „fiele", dass das Konjunktiv ist, weiß ich auch, lieber lietzensee :). Mir ging es um „fehlend", das Wort ist überflüssig. Wenn man nur schreibt „Ein Anker fiele..." reicht das doch.
 

fee_reloaded

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Mir ging es um „fehlend", das Wort ist überflüssig. Wenn man nur schreibt „Ein Anker fiele..." reicht das doch.
Ich verstehe, was du meinst, liebe SilberneDelfine,

bin mir aber nicht sicher, ob das hier nicht der Versuch ist, zwei Aussagen in einen Vers zu packen. Ich habe den "fehlenden Anker" plus den Konjunktiv als zwei Botschaften gelesen: es fehlt ein Anker (also ein Bezugspunkt oder Halte"griff", der das Boot wenigstens vor dem ziellosen Weitertreiben retten könnte) und selbst wenn einer da wäre, fiele er in einen Abgrund und gäbe keinen Halt oder zöge das Boot mit sich in eine bodenlose Tiefe. Also doppelte Misere bzw. Not.

Für mich haut das hin.

LG,
fee
 

sufnus

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Hey StM! (und Hey, Ihr anderen Lieben!)
Wir hatten uns ja vor Jahr & Tag andernorts mal schon über das Gedicht ausgetauscht, aber leider hab ich damals auf Deine letzte Erläuterung nichts mehr erwidert, lieber StM (ich hab das grad mal nachgeblättert) - ist mir wohl damals irgendwie durchgerutscht.
Umso schöner, dass wir den Austausch jetzt hier weiterführen können!
Ich stelle fest, dass vor allem Du, @SilberneDelfine, in geringerem Maße aber auch Du, @lietzensee , die Formulierungen von StM wörtlich lesen wollt und daher zu dem Ergebnis kommt, dass ein nicht vorhandener Anker wohl schlecht fallen kann (SD) und ein uferloser See einer ist, bei dem man aufgrund seiner Ausdehnung das Ufer nicht sehen kann (lietze).
Ich würde diese Wendungen aber als metaphorische Paradoxien lesen.
Eigentlich dreht das ganze kurze Gedicht sich ja in seinen multiplen Verneinungen um das "Vorhandensein des Fehlens". Bereits im Titel ist das fehlende Ufer ("kein Ufer") nirgends anzutreffen, was bereits die Frage aufwirft, wie etwas Fehlendes nirgendwo sein kann. Es ist natürlich eine Anspielung auf die Erzählung von Christa Wolf "Kein Ort. Nirgends", aber der Titel moderiert eben auch schon diesen geballten Verneinungsgestus an. Diese "Neinungen" entfalten sich so von einem durchaus vorstellbaren steuerlosen Boot über den schon paradoxer anmutenden uferlosen See (in dem Sinne, dass dieser See kein Ufer besitzt - was in der Wirklichkeit unmöglich, im Gedicht aber durchaus metaphorisch realisierbar ist), bis hin zum nicht vorhandenen Anker, der dennoch fällt... und fällt.. und fällt...
Aber das ist jetzt alles die reine Sprach- und Bildebene. Die Frage bleibt natürlich bestehen: Worum geht es hier überhaupt? Ich hatte bei meinem ersten Deutungsversuch andernorts meinen Angang über den Titel genommen. Und weil es bei Christa Wolfs Erzählung, die dieser Titel zitiert, um zwei bedeutende Selbstmörder geht, Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode, habe ich mir vorgestellt, dass dieses Gedicht relativ allgemein der tiefen Seelennot in einer überwältigend empfundenen Ausweglosigkeit Bilder leihen möchte. Mittlerweile, StM hat das damals in seiner Antwort angedeutet, aber nicht genauer ausgeführt, scheint es mir doch so zu sein, dass hier etwas Konkreteres "besungen" werden soll. Eine tatsächliche Seenot vielleicht, in der der Suchscheinwerfer, der die Schiffbrüchigen erfasst, keine wirkliche Hilfe, kein "rettendes Ufer" verspricht. Und dann wäre ich eben doch bei dem Einwand von lietzensee, ob es nicht besser die See als der See heißen müsste? Es ergäbe sich dann eine mögliche Lesart in Richtung der vielen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa oder den Kanal nach England fliehen wollen.
LG!
S.
 
Hallo Sufnus,

ich habe auch darüber nachgegrübelt. Ich glaube, du hattest schon mal gesagt, dass man in der Lyrik nicht alles wörtlich lesen muss. Und wenn man sich daran hält, eröffnen sich einem auch ganz andere Möglichkeiten.

Und dann wäre ich eben doch bei dem Einwand von lietzensee, ob es nicht besser die See als der See heißen müsste? Es ergäbe sich dann eine mögliche Lesart in Richtung der vielen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa oder den Kanal nach England fliehen wollen.
Daran dachte ich auch.

Mal schauen, was Stephanus dazu sagt.

LG SilberneDelfine
 
Liebe Lyrikfreunde,
sorry dass ich mich so spät melde, es stand heut soviel anderes an, so dass ich erst jetzt die Ruhe finde Euch zu antworten. Ich danke Euch erst mal ganz herzlich für die vielen Meinungen und auch sehr interessanten Ausdeutungen der Zeilen.
Ich hatte es ja einerseits als weiteres Beispiel für das "Upcycling" von lyrischen oder literarischen Überschriften allgemein angekündigt, da es ja bei der "Mörikiade" (O-ton Sufnus) in der Diskussion darum ging, und andereseits hat es auch einen Bezug zum "Feldbrand". Es ist soll letztendlich auch als Metapher stehen, als Methapher für eine Situation der absoluten Trost- und Hoffnungslosigkeit, eine Situation wo "Mensch" ganz unten ist und schon vorsichtig am Tor des neunten Kreises der Vorhölle anklopft. Es ist eine vollkommen irrationale Situation die mit einer Wirklichkeit streng genommen nichts zun haben kann. Es ist ein Symbol, ein Bild was für sich steht und auf viele Situationen in unserem Leben zutreffen kann. Und natürlich auch auf Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und im Ärmelkanal, wobei der Bootsvergleich hier eher zufällig ist. Wir haben sicherlich alle schon mal eine solche Situation im Leben gehabt wo nichts mehr ging und dafür soll es ein Bild sein. So hatte ich es gemeint. Ob es mir gelungen ist, dass müsst Ihr entscheiden.
Nochmals Dank an Euch und beste Grüße
StM
 
Es ist soll letztendlich auch als Metapher stehen, als Methapher für eine Situation der absoluten Trost- und Hoffnungslosigkeit, eine Situation wo "Mensch" ganz unten ist und schon vorsichtig am Tor des neunten Kreises der Vorhölle anklopft. Es ist eine vollkommen irrationale Situation die mit einer Wirklichkeit streng genommen nichts zun haben kann. Es ist ein Symbol, ein Bild was für sich steht und auf viele Situationen in unserem Leben zutreffen kann
Hallo Stephanus,

vielen Dank für die Erklärung. Das leuchtet mir ein - und es ist natürlich anders, als ich am Anfang dachte. Das hat es spannend gemacht.

LG SilberneDelfine
 



 
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