Nahezu reglos stand der Mann in der kalten Zugluft des ansonsten menschenleeren Bahnsteiges. Rein mechanisch sog er hin und wieder an der Zigarette, während er dem letzten Nachtzug nachstarrte, dessen Schlußlichter bereits zu winzigen Pünktchen zusammen geschmolzen waren. Mit der freien Hand wischte er sich über die brennenden Augen.
‚Aus!' dachte er. ‚Aus und vorbei!. Immer wieder formulierten seine Gedanken diese Worte. Zu mehr waren sie im Moment nicht fähig.
Irgendwann trat er achtlos die Zigarette aus, vergrub die klammen Hände tief in den Taschen seines Uniformmantels und ging zum Ausgang. Mit schleppenden Schritten durchmaß er den leeren Fußgängertunnel, wo schmutzig-weiße Fliesen das Licht der flackernder Neonröhren reflektierten und eine trostlose Kälte über ihn breiteten.
Auf dem Bahnhofsvorplatz schien der junge Mann langsam zu sich zu kommen. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, daß er es in der verbleibenden Zeit zu Fuß nicht mehr schaffen würde. Langsam ging er zum leeren Taxistand.
Er achtete nicht auf das plötzliche Motorgeräusch. in seinem Rücken. Erst als unmittelbar neben ihm Bremsen quietschten, schaute er auf. Aus einem grau-grünen Geländewagen sprangen zwei Uniformierte und kamen mit raschen Schritten auf ihn zu. Weiße Mützenschilder, weißes Koppelzeug! Auf den Armbinden leuchteten die Buchstaben KD.
"Kommandantendienst!' dachte der Mann und nahm unwillkürlich Haltung an. Mit der Militärpolizei war nicht zu spaßen.
"Genosse Gefreiter! Ihren Urlaubsschein!" schnarrte der Streifenführer und legte lässig die Hand an den Mützenschirm.
"Einen Moment." Der Mann kramte in seinen Taschen. Er besaß keinen Urlaubsschein, nur eine Ausgangskarte. Als der Streifenführer einen Blick darauf geworfen hatte, wurde sein Gesicht mißtrauisch.
"Ausgang bis Null-Zwo-Uhr, recht ungewöhnlich", knurrte er.
"Habe ich als Belobigung für ausgezeichneten Grenzdienst erhalten." Vor wenigen Stunden wäre diese Erklärung nicht ohne Stolz abgegeben worden. Doch jetzt kamen ihm die Worte völlig gleichgültig von den Lippen.
"Aha", sagte der Streifenführer nur. Er blickte hinüber zur schwach erleuchteten Bahnhofsuhr und schien kurz zu überlegen. "Wir müssen ohnehin zum Regiment. Steigen Sie ein. Wir setzen Sie bei der vierten Kompanie ab."
War das nun ein freundliches Angebot oder eine Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete? Der junge Grenzer dachte nicht darüber nach. Wortlos klemmte er sich auf die harte Rückbank. Schon schoß das Fahrzeug über den Bahnhofsvorplatz, durchquerte einige enge Straßenzüge und raste dann auf der Ausfallstraße der Kaserne entgegen. Durch die Ritzen des Verdecks drang ein eisiger Luftzug. Eisig, wie das Schweigen in dem engen Gefährt. Man wechselte kein Wort. Der Grenzer spürte, wie sich nach und nach Nervosität in ihm breit machte.
"Ob sie es wissen?" dachte er. ‚Bestimmt haben sie es erfahren und jetzt... Wer weiß, wo die mich hin bringen.'
Zu dem dumpfen Schmerz in seinem Inneren gesellte sich jetzt eine nicht zu unterdrückende Unruhe. Unwillkürlich ging sein Atem schneller.
Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Nach knapp zehn Minuten hielt der Kübel direkt vor dem Schlagbaum seiner Kompanie. Der Grenzer bedankte sich, erntete aber nur ein kurzes "Schon gut." Dann jagte das Fahrzeug wieder hinaus in die Nacht.
"Das war ja ein sehr merkwürdiges Taxi", staunte der Posten und lugte mit neugierigen Augen unter dem Stahlhelm hervor. "Wohl zuviel getankt, was?"
Der Angesprochene reagierte nicht, sondern ließ den Posten mit seiner Neugier allein. Er betrat den zweistöckigen, lieblos hingeklatschten Neubau, der seiner Einheit als Kaserne diente. Auf dem Flur schlug ihm der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Waffenöl entgegen. Mit schlurfenden Schritten tappte er den langen halbdunklen Gang entlang. Er bemerkte den wachhabenden Offizier erst, als der bereits vor ihm stand.
"Na, Genosse Wiesner. Irgendwelche Vorkommnisse im Ausgang?" Die Frage war reine Routine, kein lauernder Unterton zu spüren. Wußten sie immer noch nichts?
"Nein, Genosse Leutnant. Keine Vorkommnisse."
Der Offizier nickte und teilte ihm dann mit, daß er für morgen vom Dienstplan gestrichen sei.
"Sie melden sich um neun Uhr im Dienstzimmer des Politoffiziers. Verstanden?"
"Jawohl, Genosse Leutnant!"
Also doch! Die Meldung war bereits bis hierher vorgedrungen. Merkwürdig - wie gleichgültig ihn das auf einmal ließ.
"Kopf hoch, Wiesner! Ihnen passiert nichts. Sie sind doch einer meiner besten Postenführer. Auf meine Fürsprache können sie zählen."
Der Gefreite Wiesner murmelte ein "Danke" und bat dann, auf seine Stube gehen zu dürfen. Es wurde ihm gewährt. Doch Wiesner ging an der Tür, wo seine Zimmerkammeraden der Frühschicht entgegen schnarchten, vorbei. Wie hätte er sich jetzt einfach ins Bett legen können, wo er doch keinen Schlaf finden würde. Er wollte, er mußte allein sein. Allein mit diesem dumpfen Schmerz.
Er betrat den dunklen Waschraum und öffnete beide Fensterflügel. Die herein strömende Kälte schien er kaum zu spüren. Sein Blick glitt hinüber zu der unendlich langen Reihe von Peitschenlampen, die wie eine leuchtende Perlenschnur den Grenzverlauf markierten. Und irgendwo dahinter tauchte plötzlich eine Gestalt am nächtlichen Himmel auf. Sie wuchs auf ihn zu - schien zum Greifen nah, und doch blieb sie so unendlich fern. Ihm war, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um die feinen Linien des geliebten Gesichts mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen.
"Oh Karin", flüsterte er. "Warum muß es ausgerechnet so enden? Es wäre mir lieber gewesen, Du hättest mich belogen. Ein Brief von dir mit der Nachricht, daß es zwischen uns aus sei - vielleicht, weil ein anderer in dein Leben getreten ist. Was meinst Du, wieviele von meinen Kammeraden schon solche Briefe erhalten haben? Gewiß, auch das wäre ein riesiger Schock gewesen. Doch ich hätte wütend sein dürfen. Wut auf den anderen überlagert den Schmerz und läßt die Trennung leichter ertragen. Aber so. Du liebst mich noch genauso wie früher. Und trotzdem hat diese Liebe nicht die Spur einer Chance. Warum mußte uns Deine Mutter das antun? Woher auf einmal ihre Sehnsucht, plötzlich wieder mit deinem Vater zusammen sein zu wollen? Es ist doch schon so lange her, daß er damals von seiner Dienstreise in den Westen nicht zurück gekehrt ist. Fast schon vergessen. Aber jetzt gibt es ja neuerdings die Möglichkeit einer Familienzusammenführung, oder wie das heißt. Und nun, wo sie für sich die eventuelle Chance sieht, legal ausreisen zu dürfen, da stellt sie auch prompt den vielleicht längst vorbereiteten Antrag.
Und Du? Du bist doch volljährig! Warum kannst nicht wenigstens Du bleiben? Hier bei uns - bei mir! Du hast von Gründen gesprochen, die ich nicht verstanden habe. Werde ich sie je verstehen? Und wenn ja - was nützt es uns?"
Er sah zu ihr hinüber, blickte in ihr tränenüberströmtes Gesicht. Und er fühlte sich plötzlich wieder so, wie in den letzten Minuten auf dem Bahnsteig - ausgebrannt, leer, ohne Worte.
Fauchend schoß eine Leuchtkugel in den frostklaren Himmel. Ihr flackerndes Licht ließ das Bild des geliebten Mädchens verschwimmen.
"Karin! Geh nicht!"
Als die Leuchtkugel erlosch, gab es nur noch die Schwärze der Nacht und das höhnische Flimmern der Grenzbeleuchtung.
"K a r i n!"
Ein Schrei, der den Posten unten am Schlagbaum zusammenzucken ließ. Ein Schrei, geboren aus der Qual unbändiger Sehnsucht und hilfloser Verzweiflung. Er brachte keine Befreiung, aber er schuf Platz für die Erkenntnis, daß diese Grenze, die er nun schon seit Monaten aus ehrlicher Überzeugung zu bewachen half, von nun an nicht mehr irgendwo dort vorn in der Dunkelheit, sondern mitten durch sein eigenes Ich verlief.
‚Aus!' dachte er. ‚Aus und vorbei!. Immer wieder formulierten seine Gedanken diese Worte. Zu mehr waren sie im Moment nicht fähig.
Irgendwann trat er achtlos die Zigarette aus, vergrub die klammen Hände tief in den Taschen seines Uniformmantels und ging zum Ausgang. Mit schleppenden Schritten durchmaß er den leeren Fußgängertunnel, wo schmutzig-weiße Fliesen das Licht der flackernder Neonröhren reflektierten und eine trostlose Kälte über ihn breiteten.
Auf dem Bahnhofsvorplatz schien der junge Mann langsam zu sich zu kommen. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, daß er es in der verbleibenden Zeit zu Fuß nicht mehr schaffen würde. Langsam ging er zum leeren Taxistand.
Er achtete nicht auf das plötzliche Motorgeräusch. in seinem Rücken. Erst als unmittelbar neben ihm Bremsen quietschten, schaute er auf. Aus einem grau-grünen Geländewagen sprangen zwei Uniformierte und kamen mit raschen Schritten auf ihn zu. Weiße Mützenschilder, weißes Koppelzeug! Auf den Armbinden leuchteten die Buchstaben KD.
"Kommandantendienst!' dachte der Mann und nahm unwillkürlich Haltung an. Mit der Militärpolizei war nicht zu spaßen.
"Genosse Gefreiter! Ihren Urlaubsschein!" schnarrte der Streifenführer und legte lässig die Hand an den Mützenschirm.
"Einen Moment." Der Mann kramte in seinen Taschen. Er besaß keinen Urlaubsschein, nur eine Ausgangskarte. Als der Streifenführer einen Blick darauf geworfen hatte, wurde sein Gesicht mißtrauisch.
"Ausgang bis Null-Zwo-Uhr, recht ungewöhnlich", knurrte er.
"Habe ich als Belobigung für ausgezeichneten Grenzdienst erhalten." Vor wenigen Stunden wäre diese Erklärung nicht ohne Stolz abgegeben worden. Doch jetzt kamen ihm die Worte völlig gleichgültig von den Lippen.
"Aha", sagte der Streifenführer nur. Er blickte hinüber zur schwach erleuchteten Bahnhofsuhr und schien kurz zu überlegen. "Wir müssen ohnehin zum Regiment. Steigen Sie ein. Wir setzen Sie bei der vierten Kompanie ab."
War das nun ein freundliches Angebot oder eine Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete? Der junge Grenzer dachte nicht darüber nach. Wortlos klemmte er sich auf die harte Rückbank. Schon schoß das Fahrzeug über den Bahnhofsvorplatz, durchquerte einige enge Straßenzüge und raste dann auf der Ausfallstraße der Kaserne entgegen. Durch die Ritzen des Verdecks drang ein eisiger Luftzug. Eisig, wie das Schweigen in dem engen Gefährt. Man wechselte kein Wort. Der Grenzer spürte, wie sich nach und nach Nervosität in ihm breit machte.
"Ob sie es wissen?" dachte er. ‚Bestimmt haben sie es erfahren und jetzt... Wer weiß, wo die mich hin bringen.'
Zu dem dumpfen Schmerz in seinem Inneren gesellte sich jetzt eine nicht zu unterdrückende Unruhe. Unwillkürlich ging sein Atem schneller.
Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Nach knapp zehn Minuten hielt der Kübel direkt vor dem Schlagbaum seiner Kompanie. Der Grenzer bedankte sich, erntete aber nur ein kurzes "Schon gut." Dann jagte das Fahrzeug wieder hinaus in die Nacht.
"Das war ja ein sehr merkwürdiges Taxi", staunte der Posten und lugte mit neugierigen Augen unter dem Stahlhelm hervor. "Wohl zuviel getankt, was?"
Der Angesprochene reagierte nicht, sondern ließ den Posten mit seiner Neugier allein. Er betrat den zweistöckigen, lieblos hingeklatschten Neubau, der seiner Einheit als Kaserne diente. Auf dem Flur schlug ihm der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Waffenöl entgegen. Mit schlurfenden Schritten tappte er den langen halbdunklen Gang entlang. Er bemerkte den wachhabenden Offizier erst, als der bereits vor ihm stand.
"Na, Genosse Wiesner. Irgendwelche Vorkommnisse im Ausgang?" Die Frage war reine Routine, kein lauernder Unterton zu spüren. Wußten sie immer noch nichts?
"Nein, Genosse Leutnant. Keine Vorkommnisse."
Der Offizier nickte und teilte ihm dann mit, daß er für morgen vom Dienstplan gestrichen sei.
"Sie melden sich um neun Uhr im Dienstzimmer des Politoffiziers. Verstanden?"
"Jawohl, Genosse Leutnant!"
Also doch! Die Meldung war bereits bis hierher vorgedrungen. Merkwürdig - wie gleichgültig ihn das auf einmal ließ.
"Kopf hoch, Wiesner! Ihnen passiert nichts. Sie sind doch einer meiner besten Postenführer. Auf meine Fürsprache können sie zählen."
Der Gefreite Wiesner murmelte ein "Danke" und bat dann, auf seine Stube gehen zu dürfen. Es wurde ihm gewährt. Doch Wiesner ging an der Tür, wo seine Zimmerkammeraden der Frühschicht entgegen schnarchten, vorbei. Wie hätte er sich jetzt einfach ins Bett legen können, wo er doch keinen Schlaf finden würde. Er wollte, er mußte allein sein. Allein mit diesem dumpfen Schmerz.
Er betrat den dunklen Waschraum und öffnete beide Fensterflügel. Die herein strömende Kälte schien er kaum zu spüren. Sein Blick glitt hinüber zu der unendlich langen Reihe von Peitschenlampen, die wie eine leuchtende Perlenschnur den Grenzverlauf markierten. Und irgendwo dahinter tauchte plötzlich eine Gestalt am nächtlichen Himmel auf. Sie wuchs auf ihn zu - schien zum Greifen nah, und doch blieb sie so unendlich fern. Ihm war, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um die feinen Linien des geliebten Gesichts mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen.
"Oh Karin", flüsterte er. "Warum muß es ausgerechnet so enden? Es wäre mir lieber gewesen, Du hättest mich belogen. Ein Brief von dir mit der Nachricht, daß es zwischen uns aus sei - vielleicht, weil ein anderer in dein Leben getreten ist. Was meinst Du, wieviele von meinen Kammeraden schon solche Briefe erhalten haben? Gewiß, auch das wäre ein riesiger Schock gewesen. Doch ich hätte wütend sein dürfen. Wut auf den anderen überlagert den Schmerz und läßt die Trennung leichter ertragen. Aber so. Du liebst mich noch genauso wie früher. Und trotzdem hat diese Liebe nicht die Spur einer Chance. Warum mußte uns Deine Mutter das antun? Woher auf einmal ihre Sehnsucht, plötzlich wieder mit deinem Vater zusammen sein zu wollen? Es ist doch schon so lange her, daß er damals von seiner Dienstreise in den Westen nicht zurück gekehrt ist. Fast schon vergessen. Aber jetzt gibt es ja neuerdings die Möglichkeit einer Familienzusammenführung, oder wie das heißt. Und nun, wo sie für sich die eventuelle Chance sieht, legal ausreisen zu dürfen, da stellt sie auch prompt den vielleicht längst vorbereiteten Antrag.
Und Du? Du bist doch volljährig! Warum kannst nicht wenigstens Du bleiben? Hier bei uns - bei mir! Du hast von Gründen gesprochen, die ich nicht verstanden habe. Werde ich sie je verstehen? Und wenn ja - was nützt es uns?"
Er sah zu ihr hinüber, blickte in ihr tränenüberströmtes Gesicht. Und er fühlte sich plötzlich wieder so, wie in den letzten Minuten auf dem Bahnsteig - ausgebrannt, leer, ohne Worte.
Fauchend schoß eine Leuchtkugel in den frostklaren Himmel. Ihr flackerndes Licht ließ das Bild des geliebten Mädchens verschwimmen.
"Karin! Geh nicht!"
Als die Leuchtkugel erlosch, gab es nur noch die Schwärze der Nacht und das höhnische Flimmern der Grenzbeleuchtung.
"K a r i n!"
Ein Schrei, der den Posten unten am Schlagbaum zusammenzucken ließ. Ein Schrei, geboren aus der Qual unbändiger Sehnsucht und hilfloser Verzweiflung. Er brachte keine Befreiung, aber er schuf Platz für die Erkenntnis, daß diese Grenze, die er nun schon seit Monaten aus ehrlicher Überzeugung zu bewachen half, von nun an nicht mehr irgendwo dort vorn in der Dunkelheit, sondern mitten durch sein eigenes Ich verlief.