Kellersinfonie

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Anditi

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Behutsam steigt Joseph die dunkle, steile Treppe hinab. Der wohlbekannte Geruch des Kellers schlägt ihm entgegen. Die Kerze in seiner Hand flackert und zeichnet ein wechselndes Licht an die kalten, feuchten, aus alten Ziegeln errichteten Mauern. Wie oft ist er auf diesen Treppen schon eingetaucht in eine Welt, in der der beständigen Mangel von Licht die anderen Sinne zu schärfen scheint, geradeso wie ein Schleifstein das Rasiermesser des Barbiers. Die verschiedenen Gerüche, der leichte Moder der alten Wände, das Pech mit dem die großen schweren Eichenfässer abgedichtet worden waren und vor allem der Duft des vergorenen Traubensaftes, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt, ziehen Joseph jedes Mal aufs Neue in ihren Bann.

Die letzte Stufe, Joseph hält inne und lauscht. Hinter sich, fast wie aus einer anderen Welt, hört er das Zwitschern der Vögel, die auf einem der Äste der Linde vor dem Kellereingang nisten. Eine Turmuhr schlägt, sie ist kaum zu hören, fast als würde die Zeit, die sie verkündet, hier unten langsamer verrinnen. In der Tiefe des Kellers sind Schritte zu hören, bedächtige aber dennoch rhythmische Schritte. Ein Lichtschein kommt näher und würde der kleine, weißhaarige Klosterbruder keine Kerze bei sich tragen, so wäre er im Dunkeln des Kellers in seinem schwarzen Habit fast unmöglich auszumachen. „Bruder Antonius! Gelobt sei Jesus Christus!“ „Von nun an bis in Ewigkeit, mein lieber Joseph!“ Den alten Bruder Antonius kennt Joseph schon seit vielen Jahren. Ein frommer Mann, der die Arbeit im Weinkeller seines Ordens sehr ernst nimmt. „Die Trauben, mein lieber Joseph, sind ein Geschenk Gottes!“ pflegt er dann und wann zu sagen, wenn er und Joseph gemeinsam an einem der kleinen Tische im Keller eine Probe des frisch gekelterten Weins verkosten. Außerhalb des Kellers haben er und Joseph noch nie ein Wort miteinander gewechselt, auch nicht vor oder nach den Gottesdiensten, die Joseph in unregelmäßigen Abständen an der Orgel der Klosterkirche begleitet. Nur hier im Keller scheinen die Grenzen zwischen dem Musiker am Hof des Fürsten und dem Ordensmann aufgehoben. Joseph genießt diese Momente im Keller bei Bruder Antonius. Sie sind eine willkommene Abwechslung zu dem Trubel der sonst in seinem Leben am Hof des Fürsten herrscht. Keine Verpflichtungen, kein Trubel, nur die Stille, das Flackern der kleinen Kerze und ein Becher Wein.

„Joseph, lieber Bruder, bitte nehmt Platz.“ Bruder Antonius fasst mit sicherem Griff in die Dunkelheit und nimmt zwei tönerne Becher von einem Wandregal. Aus einem Krug gießt er Rotwein in die beiden Becher. Er schiebt einen der beiden Becher über den Tisch zu dem Platz, an den Joseph sich gesetzt hat. „Ein Blaufränkisch, probiert.“ Joseph legt seine Hand an den Becher und führt ihn mit Bedacht zur Nase. In der Dunkelheit des Kellers kann er das Bouquet viel besser wahrnehmen als sonst. Beeren, verschiedene Waldbeeren und schließlich Kirschen, dunkelrote, volle Kirschen. Joseph legt den Becher an seine Lippen, trinkt einen Schluck und schließt die Augen. „Was sagt ihr, Joseph?“ Bruder Antonius ist ungeduldig. Dieser Wein ist sein ganzer Stolz, ein Kunstwerk wie es ihm noch nie zuvor gelungen ist. Joseph schweigt und lässt den Wein ein wenig um seine Zungenspitze spielen. Vor seinen geschlossenen Augen entsteht ein Bild. Ein Kirschbaum, voll behangen mit reifen Früchten. Er beginnt eine Melodie zu summen. Ein Lied aus seiner Kindheit. Bruder Antonius erkennt es und beginnt leise mitzusingen: „Geh im Gässle rauf und n’unter, hängen rote Kirschen runter.“ Joseph fasst an das Futter seines Rocks. In einer der Taschen müsste er doch…, ja hier sind sie. Einige Blätter Notenpapier. „Habt ihr etwas zu schreiben, Bruder Antonius?“ „Wartet einen Augenblick.“ Der Ordensmann verschwindet im Dunkel des Kellers. Joseph lauscht seinen rhythmischen Schritten die immer leiser werden, je weiter er sich entfernt. Nach einem kurzen Moment der Stille kehren die Schritte zurück. Immer noch rhythmisch, diesmal aber einen Moment schneller. „Hier!“ Er reicht Joseph ein Fässchen Tinte und einen Federkiel. „Was habt ihr vor?“ Joseph rückt die Kerze so zurecht, dass sie die Tischfläche so gut als möglich erhellt und breitet die Notenblätter vor sich aus. „Ich möchte mir etwas notieren, Bruder Antonius. Eine Idee.“ „Eine Idee?“ „Eine Idee, genau. Bitte lasst mich für einige Augenblicke alleine, lieber Bruder.“ „Natürlich, ich muss ohnehin noch nach den anderen Fässern sehen.“ Wieder verschwinden die rhythmischen Schritte in der Dunkelheit.

Joseph beginnt im flackernden Schein der Kerze Noten auf die leeren Seiten zu schreiben, zunächst langsam, dann immer schneller. Die Melodie des Liedes verschwimmt mit den Schritten von Bruder Antonius, dazwischen mischt sich der Ruf der Vögel, der dann und wann über die Kellertreppe hereindringt. Joseph ist wie gebannt von der neuen Melodie, die langsam, aber stetig in seiner Phantasie entsteht. Eine Note nach der anderen wird auf Papier gebannt, dazwischen immer wieder ein kurze Schluck aus dem tönernen Becher. Der Becher ist leer, Joseph füllt ihn erneut. Plötzlich ein Donnern. Die Kellertüre fällt schwer ins Schloss, Joseph erschrickt. Er hört hastige Schritte auf der Treppe, ein Stolpern. Nur mit Mühe kann der Unbekannte einen Sturz verhindern. „Meister Haydn? Meister Haydn, seid ihr hier?“ Joseph spielt einen Augenblick mit dem Gedanken zu schweigen, rasch die Kerze zu löschen und sich in der Dunkelheit zu verstecken. Zu voll ist der Kopf mit Melodien, die er noch notieren möchte. Rasch kritzelt er noch einige Noten auf das Papier. Der letzte Bogen ist gefüllt. „Meister Hadyn!“ Einer der Bediensteten des Fürsten steht vor ihm. Sein Name will Joseph in diesem Moment nicht einfallen. „Ihr werdet dringend erwartet, Meister Hadyn. Ihr sollt die heilige Messe an der Orgel begleiten! Drüben, in der Kirche.“ Joseph blickt von seinen Noten auf. „Wie spät ist es?“ „Schon fast sechs Uhr, Meister Haydn. Habt ihr das Läuten der Glocken denn nicht gehört.“ Joseph wirft einen Blick auf die Notenblätter. Tatsächlich, er hat die Glockenschläge in die Melodie eingearbeitet, bewusst wahrgenommen hat er sie nicht. „Sagt dem Fürsten und den Priestern, ich komme gleich.“ Hastig verschließt er das Tintenfass, ungleich behutsamer ordnet er die Notenblätter und faltet sie um sie wieder in der Tasche seines Rocks verschwinden zu lassen. Dann greift er nach dem Weinbecher und trinkt ihn in einem Zug aus. Er erhebt sich und steigt die Treppe empor. Der letzte Schluck des Weins umspielt seinen Gaumen. „Eine Sinfonie,“ denkt er. Die Kellertüre fällt donnernd hinter ihm ins Schloss. „Mit einem Paukenschlag.“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Anditi,

eine sehr schöne Entstehungsgeschichte eines berühmten Musikstücks! Die durch deine Sprache gezauberten Bilder entstehen beim Lesen automatisch vor dem inneren Auge - gelungen!

Nur den Namen des "Meisters" würde ich erst ganz am Schluss nennen, um die Spannung zu erhöhen und die Auflösung hinauszuzögen.

Viel Freude hier wünscht

DS
 

John Wein

Mitglied
Den Eingang zum Keller hinunter bin ich in meiner Einbildungskraft (mit allen Sinnen) gern mitgegangen und dann der Geschichte gefolgt. Übrigens: nach meinem Wissen nutzt der Barbier eine Streichriemen aus Leder zum Schärfen, den Wetzstein nimmt der Schleifer.

Sehr sacht und sachlich geschildert, ganz mein Geschmack. Aber trotz der Hinweise, Glockenschlag und Pauke, will mir die Symphonie nicht einfallen. Ich kenne Haydn ganz wenig, obwohl ich im Musikantenviertel wohne (Haydnstraße gleich nebenan!), bewusst ist mir nur die Melodie unserer Hymne.

Im letzten Absatz hast du bei Hadyn 2x eine Buchstabendreher. Absicht???

Gruß, John
 
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