Kind (etwas zurückgeblieben)

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sufnus

Mitglied
Kind (etwas zurückgeblieben)

Sakrale Leere
kein Ort
keine Freudlosigkeit

Der Name Mutter ist eine blaue Flamme
der Name Vater wurde geräumt
und die Erinnerungsmails
die mit den Fotos vom Geburtstag
oder so
irgendwie kryptisch

Beim Hinlegen dann
voll spätgotisch
bloß die Frau an der Orgel
spielte was von Brahms

Jetzt würd ich ja auf die Stelle zeigen
wo es nach Weihrauch riecht
aber ich find halt
die Hände nicht
 
Zuletzt bearbeitet:

Frodomir

Mitglied
Hallo sufnus,

ein interessantes Gedicht präsentierst du hier dem geneigten Leser. Ich möchte mich an eine Deutung wagen, auch wenn ich diesem Text eine gewisse Hermetik nicht absprechen kann.

Zunächst würde ich als Ort des Gedichtes eine Kirche, einen Dom oder eine Kathedrale annehmen. Entsprechend handeln die Strophen vom Thema Religion, genauer genommen vom Thema der christlichen Religion. Der Titel

Kind (etwas zurückgeblieben)
ließe sich dabei auf zwei unterschiedliche Weisen deuten. Zum einen lese ich hier die Anspielung auf das Jesuskind, wobei das Zurückgebliebene nicht auf dessen Degeneration hinweist, sondern viel mehr auf seine Obsoletheit in der modernen Welt. Zurückgeblieben im degenerierten Sinne wäre aber das Kind meiner zweiten Lesart. Es ist das Kind der neuen Generation, nicht im Kontakt stehend mit der Geschichte seiner Vorgänger, insbesondere nicht mit der christlichen Tradition.

Mit dieser Prämisse starte ich nun in die erste Strophe:

Sakrale Leere
kein Ort
keine Freudlosigkeit
Diese Strophe hält für den geneigten Leser nur drei kurze, aber dafür ausdrucksstarke Verse bereit. Gezeichnet wird hier mit wenigen Worten die Ahnung von einer Kirchenstätte, welche der Leser aber nicht betreten kann wie ein Heiligtum, sondern wie eine sinnentleerte Hülle - nein, nicht einmal das, es ist nicht mal mehr ein Ort. Mit dem Verlust seines Sinns hat sich der Ort selbst aufgelöst, die doppelte Verneinung in Vers drei (keine Freudlosigkeit) weist auch sprachlich diese Leere aus: Ein Ort, den man emotionsloser nicht betrachten könnte. Er ist schlichtweg egal.
Der Name Mutter ist eine blaue Flamme
der Name Vater wurde geräumt
und die Erinnerungsmails
die mit den Fotos vom Geburtstag
oder so
irgendwie kryptisch
Wir schauen uns in der sinnleeren Kirche um. Maria, die Mutter Jesu', wird dabei gleich doppelt degradiert. Wir finden sie nicht mehr als Ikone bildhaft an einer Säule oder an einer Wand hängend, sondern sie ist nur noch eine Abstraktion, ein Name. Die Farbe blau weist überdies auf ihre in der christlichen Ikonografie typische Farbe hin, es fällt mir allerdings schwer, die Flamme meiner Interpretation nachgehend begründet zu deuten. Ich gehe Richtung Auflösung des Ikonischen, vielleicht hast du Maria sogar ins Fegefeuer geworfen, aber das wäre vielleicht ein bisschen zu extrem gedacht. Ich freue mich hier bereits auf deine Antwort.

Selbst der Vater, also Gott, wurde ikonografisch aus der Kirche entfernt, wobei die Aktivität räumen nicht mit vielleicht vermuteter Bilderstürmerei gleichzusetzen ist. Man könnte es auch als Haushaltsräumung betrachten, die alte Tradition hat schlichtweg abgewirtschaftet, also trägt man nun ihre Ikonen auf den Sperrmüll.

Die biblische Erzählung von Jesu' Geburt dann als Erinnerungsmails zu bezeichnen, trägt einen leichten Spott in sich, aber hievt auch die sakrale Geschichte mit einem Ruck ins Weltliche. Oder so (was impliziert, dass es ja vielleicht auch, und es könnte dem Sinn des Gedichtes nach nicht egaler sein, auch anders hätte passiert sein können) - eine zweitausend Jahre währende Tradition wird in deinem Gedicht zur lapidaren Geburtstagsstory. Dabei lässt das Gedicht die Wertung des Autors offen, es legt nur dar, welche Stellung das Christentum in weiten Teilen der Gesellschaft mittlerweile inne hat.
Beim Hinlegen dann
voll spätgotisch
bloß die Frau an der Orgel
spielte was von Brahms
Hm, ich habe bezüglich des Wortes Hinlegen zwar verschiedene Assoziationen, aber es wäre zu viel Spekulation dabei, um dabei von einer stringenden Interpretation zu sprechen. Deshalb lasse ich diese Strophe lieber aus.

Jetzt würd ich ja auf die Stelle zeigen
wo es nach Weihrauch riecht
aber ich find halt
die Hände nicht
Auch das fordert meine grauen Zellen sehr massiv. Reden wir hier vielleicht sogar schon über den vollkommen entfremdeten und damit entkörperten Menschen einer möglichen Zukunftsdystopie des postdigitalen Zeitalters? Oder schieße ich damit übers Ziel hinaus?

Jedenfalls fand ich dein Gedicht sehr interessant, auch wenn ich nicht zu allem Worte gefunden habe, weil es mir schwer fiel, diese in Klarheit zu formulieren. In meinem Kopf allerdings hat dieses Gedicht kohärent funktioniert und seine Stärke in der Verbindung aus Lyrik, Gesellschaftsbeobachtung und Bildung gezeigt.

Deshalb möchte ich dir abschließend rückmelden, dass ich dein Gedicht sehr gerne gelesen habe und dass es mir Freude bereitet hat, mich damit auseinanderzusetzen.

Liebe Grüße
Frodomir
 

wirena

Mitglied
@sufnus, Frodomir, Hallo ihr Beiden

Sakrale Leere
kein Ort
keine Freudlosigkeit
Ja, welch starke Verse – das erlebe ich ebenfalls – inkl. der doppelten Verneinung, die zur Freude wird. Ja, und damit ist eigentlich alles gesagt. Weil diese Erfahrung/Erleben irgendwo mit irgendetwas stattfinden kann. Je nach Situation – doch Frodimir bringt die Kirche ins Spiel und schreibt:

Frodimir - Zitat:
«Diese Strophe hält für den geneigten Leser nur drei kurze, aber dafür ausdrucksstarke Verse bereit. Gezeichnet wird hier mit wenigen Worten die Ahnung von einer Kirchenstätte, welche der Leser aber nicht betreten kann wie ein Heiligtum, sondern wie eine sinnentleerte Hülle - nein, nicht einmal das, es ist nicht mal mehr ein Ort. Mit dem Verlust seines Sinns hat sich der Ort selbst aufgelöst, die doppelte Verneinung in Vers drei (keine Freudlosigkeit) weist auch sprachlich diese Leere aus: Ein Ort, den man emotionsloser nicht betrachten könnte.etc …» Zitatende


Spontan, ohne dass ich darüber schlafen und hirne
(frau/mann kann auch alles zu Tode reden und analysieren)
erlaube ich mir, Folgendes aus meinem Erleben beizutragen:

Frodimir – Zitat:

«Sakrale Leere
kein Ort
keine Freudlosigkeit

Diese Strophe hält für den geneigten Leser nur drei kurze, aber dafür ausdrucksstarke Verse bereit. Gezeichnet wird hier mit wenigen Worten die Ahnung von einer Kirchenstätte, welche der Leser aber nicht betreten kann wie ein Heiligtum, sondern wie eine sinnentleerte Hülle - nein, nicht einmal das, es ist nicht mal mehr ein Ort. Mit dem Verlust seines Sinns hat sich der Ort selbst aufgelöst, die doppelte Verneinung in Vers drei (keine Freudlosigkeit) weist auch sprachlich diese Leere aus: Ein Ort, den man emotionsloser nicht betrachten könnte. Er ist schlichtweg egal.

Der Name Mutter ist eine blaue Flamme
der Name Vater wurde geräumt
und die Erinnerungsmails
die mit den Fotos vom Geburtstag
oder so
irgendwie kryptisch» Zitatende


Für mich überhaupt nicht kryptisch – sondern absolut stimmig.
Vielleicht daher: Mann und Frau sind anders. Psychologisch: Mann ist mit Anima verbunden und Frau mit Animus.


Mit dem Hinweis auf Kirche bin ich in der christlichen Tradition. In dieser kann, so wie ich es bisher verstehe, die Gotteserfahrung, die Erfahrung eines «Gottes» sein (deren Namen dafür gibt es viele), oder ein Ruf für Etwas, ein Auftrag, eine Tätigkeit wofür/wozu auch immer.

Frodimir – Zitat:
«Wir schauen uns in der sinnleeren Kirche um. Maria, die Mutter Jesu', wird dabei gleich doppelt degradiert. Wir finden sie nicht mehr als Ikone bildhaft an einer Säule oder an einer Wand hängend, sondern sie ist nur noch eine Abstraktion, ein Name. Die Farbe blau weist überdies auf ihre in der christlichen Ikonografie typische Farbe hin, es fällt mir allerdings schwer, die Flamme meiner Interpretation nachgehend begründet zu deuten. Ich gehe Richtung Auflösung des Ikonischen, vielleicht hast du Maria sogar ins Fegefeuer geworfen, aber das wäre vielleicht ein bisschen zu extrem gedacht. Ich freue mich hier bereits auf deine Antwort.

Selbst der Vater, also Gott, wurde ikonografisch aus der Kirche entfernt, wobei die Aktivität räumen nicht mit vielleicht vermuteter Bilderstürmerei gleichzusetzen ist. Man könnte es auch als Haushaltsräumung betrachten, die alte Tradition hat schlichtweg abgewirtschaftet, also trägt man nun ihre Ikonen auf den Sperrmüll. «Zitatende


sorry- nein, Frodimir, da gehe ich nicht mit Dir einig:

Auch wenn ich mich entschieden habe,
meinen Weg ohne einen namentlichen Gott zu gehen,
ich mir meinen Gott mit Namen frei wähle –
ist eine Kirche, ohne Vater und Mutter etc. nicht sakral leer.

Die Architektur spricht –
Gedanken, Material, Hände –
Menschen haben gewirkt –
auch ein Weg um die Urquelle des Seins zu erleben –
ohne Worte und Namen –
Bild und Bilderleben wirkt.

So auch die Natur/z.B. ein Baum ist auch «sakral leer» – dennoch spricht das Leben – da nur das Leben lebt; ausser Menschen züchten neue Form –

….weiter kann ich nur sufnus zitieren:

«Beim Hinlegen dann
voll spätgotisch
bloß die Frau an der Orgel
spielte was von Brahms

Jetzt würd ich ja auf die Stelle zeigen
wo es nach Weihrauch riecht
aber ich find halt
die Hände nicht»

Zitatende


persönliche Anmerkung: ….mir fehlen oft Hände, oder eine Hand im Alltag – ich bin eine bejahrte privilegierte Rentnerin in der friedlichen Schweiz… kann zum Glück aber Hilfe holen – oder sehen wie es andere unkompliziert machen und lachend diesem Beispiel folgen –

So, nun gehen die Bits Bytes über die Leitung, bevor mich mein Mut verlässt -
LG wirena
 

sufnus

Mitglied
Hey Ihr Lieben,

da muss ich wohl mehrmals antworten - Eure Überlegungen sind so "reichhaltig", dass ich da mit einer Antwort nicht alles Aspekte abgedeckt bekomme.
Also ich bleib erstmal bei Deiner schönen Deutung, lieber Frodomir, und Deiner Anmerkung zum Titel, liebe wirena.... :)

Den Dreiklang "Kind - Mutter - Vater" hast Du, Frodomir, vor dem Hintergrund der "kirchlichen" Buzzwords (sakral, hochgotisch und Orgel) völlig logisch als einen Verweis auf Gott, Maria und das Jesuskind gedeutet. Da gehe ich im Prinzip auch voll mit und tatsächlich hat der Bezug auf Maria auch einen gewissen Anteil daran, dass die erwähnte Flamme eine, wie Du ganz richtig erkannt hast, marienfarbige Tönung verpasst bekommen hat. :)

Wenn man aber (und jetzt schiele ich schon leicht zu wirena rüber) stark vom Titel ausgeht, dann ist bei dem klaren Fokus auf das zurückgebliebene (!) Kind auch vorstellbar, dass hier ein Kind seine Eltern "verloren" hat (wobei sowohl ein Verlust im endgültigen Wortsinn als auch ein Beziehungsverlust gemeint sein könnte), dass also das Kind (allein) zurückgeblieben ist oder zumindest "etwas" allein zurückgeblieben ist (vielleicht gibt es ja noch irgendwelche anderen, entfernteren Bezugspersonen). Natürlich liest jeder (mich eingeschlossen) bei "zurückgeblieben" gleich ein "geistig" mit und dann ist das ein Titel, der gar nicht mal so nett rüberkommt. Aber wenn man die "Gedichtstimme" nicht einer übergeordneten, kommentierenden Instanz zuordnet, sondern dem Kind, dann "klingt" es nicht besonders "zurückgeblieben" im üblichen, abwertenden Wortsinn. Eine solche Identifizierung der Gedichtstimme mit dem "Kind" scheint mir dabei nicht unnaheliegend zu sein, wenn im Text von einem "ich" und von Vater & Mutter die Rede ist.

Womöglich wird anhand dieser Überlegungen klar, dass meine ganze Idee bei dem Gedicht in sich zusammenfallen würde, wenn ich den Titel in einen "allgemeineren" wie von Dir vorgeschlagen, wirena, ändern würde. Vor allem das "zurückgeblieben", das natürlich erstmal Provokations- und Erschreckpotenzial hat, bekommt dann, wie oben von mir angedeutet, plötzlich eine ganz andere Bedeutung.

Und damit nochmal zu eben dieser meiner Idee: Tatsächlich ging es mir darum, in dem Gedicht mindestens zwei (wenn nicht sogar mehr) unterschiedliche "Geschichten" gleichzeitig zu erzählen, durchaus auch die von Dir, Frodomir, erkannte, also die "Neutralisierung" von Religiosität in einer post-aufgeklärten Gesellschaft, zum anderen aber auch eine Verlustgeschichte aus der Sicht des Kindes (das dabei jetzt nicht Jesus ist, sondern ein normales Menschenkind).

... wobei... die leidende Kreatur, die am Kreuz geschrien hat "... warum hast Du mich verlassen?!" - das ist ja, wenn man "eloi"/"eli" = Gott mit dem Vater gleichsetzt, geradezu ein Archetypus des verzweifelten Kindes.

Mehr folgt noch in einem separaten Sermon, wenn noch etwas mehr Zeit vorhanden ist. :)

LG!

S.
 

Perry

Mitglied
Hallo Snufus,
über die ersten beiden Stroohen wurde ja bereits ausgiebig diskuttiert, weshalb Ich mich mehr an den beiden leztzten versuche.
Hinlegen ist in der katholischen Kirche eine übliche Zeremonie bei Weihen oder Gelöbnissen.
Vielleicht gehen die geschilderten Gedanken dem Protagonisten des Textes während seiner Weihe zum Priester durch den Kopf, oder es ist vielleicht -dem abschweifenden Blick geschuldet- ein hingefallener Ministrant, der nach dem verschütteten Weihrauch sucht.
Konstruktiv könnte Ich mir statt des "zurückgeblieben" gut auch "zurückgelassen" vorstellen, denn es ist wohl mehr eine Art "altes Testament", das hier zurückgelassen wird.
LG
Manfred
 



 
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