Kindergeburtstag

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Nun war es aber genug. Wutentbrannt knallte Svennie die Kuchengabel auf seinen Teller, sprang auf, zwängte sich zwischen den dicht zusammengedrängt um den niedrigen Wohnzimmertisch hockenden Kindern hindurch und stürmte zur Tür hinaus. Am Ende des langgezogenen, mit nutzlosem Krempel, grellbunten Kinderfahrrädern und ausrangierten Möbeln zugestellten Korridors angekommen, verlangsamte er seinen Lauf, stoppte, hielt einen Augenblick lang inne, eilte entschlossenen Schritts zurück und zog die Wohnzimmertür derart schwungvoll hinter sich zu, dass die dort über den Sofas an den Wänden hängenden gerahmten Familienfotos heftig klapperten.
Zugegeben, er war noch ein Kind, doch alles musste er sich darum nun auch nicht gefallen lassen. Als hätte es nicht schon vollkommen ausgereicht, ihn vor seinen ihretwegen ohnehin nur widerwillig erschienenen Freunden mit ihrem anzüglichen Gefasel zu beschämen, mussten seine Eltern ausgerechnet an seinem zwölften Geburtstag, zu dem sie ihm seit Wochen schon hoch und heilig versprochen hatten, es würde ein Tag ohne das sonst übliche Gekeife und Gezänk werden, wieder mit dieser uralten und, wie sie ganz genau wussten, ihm noch immer schrecklich peinlichen Geschichte anfangen. Und das nur, weil sie es nicht einmal an einem für ihn so bedeutsamen Tag wie diesem zuwege brachten, länger als zwei, drei Stunden hintereinander nüchtern zu bleiben. Das, was sie ihm heute angetan hatten, würde er ihnen niemals verzeihen.
Die Tür des Aufzugs, den er hatte benutzen wollen, war auch wieder mal verklemmt; unbeherrscht trat er mehrmals mit aller Kraft dagegen, ehe er in gewagten Sprüngen die Treppe hinunterzujagen begann. Er hasste es, das Treppenhaus zu benutzen, denn es war verdreckt, stank nach Armut und Pisse und war streckenweise vollkommen dunkel, da die viel zu tief angebrachten Lampen immerfort der Zerstörungswut betrunken heimkehrender Bewohner zum Opfer fielen, und die angeblich irgendwo in England sitzenden Eigentümer der Wohnanlage sich beharrlich weigerten, sie zu ersetzen.
Endlich im Erdgeschoss angekommen, schnaufte er erlöst auf und ließ sich in der Nähe der verbeulten, größtenteils aufgebrochenen Briefkästen auf den Stufen der Treppe nieder; bevor er sich draußen sehen lassen konnte, musste er erst mal wieder zu Atem kommen. Da gerade niemand zu sehen war, zog er rasch Kamm und Spiegel aus der Hosentasche hervor und versuchte, die vor dem Eintreffen der Gäste kunstvoll arrangierte, durch die ganze Aufregung allerdings ziemlich in Mitleidenschaft geratene Frisur wieder herzurichten. Als er einigermaßen zufriedengestellt war, stand er auf, klopfte sich den Hosenboden sauber und begab sich gelassenen Schritts hinaus ins Freie. Doch sobald er unter dem überdachten Teil des Hauseingangs angekommen war, wusste er schon nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte. Alle Kinder, mit denen er sich nachmittags für gewöhnlich traf, saßen oben bei seinen Eltern in der Wohnung, schaufelten den aus dem Laden der Arbeiterwohlfahrt geholten Kuchen in sich hinein, tranken Limonade, Eistee oder Kakao und lachten sich vermutlich dumm und dusselig über seinen geräuschvollen Abgang.

Eine tiefe, senkrechte Falte auf der erhitzten Stirn, die Lippen fest aufeinander gepresst und die Fäuste tief in den Hosentaschen vergraben begann er, unentschlossen stadteinwärts zu schlendern; ganz deutlich spürte er, wie das Blut in den Adern an seinen Schläfen pochte.
Eines Tages würde er es ihnen schon noch zeigen, grollte er, währenddessen einem am Gehwegrand stehenden Süßwarenautomaten ein paar nicht sehr ernst gemeinte Fausthiebe verpassend, dann wären es zur Abwechslung einmal die anderen, die Grund hätten, dumm dreinzuschauen.
Eine im Rinnstein liegende Getränkedose lenkte ihn von dem Automaten ab, er schob sie in Position, kickte sie gekonnt quer über die Straße hinweg und trippelte ihr Haken schlagend hinterher. Vielleicht sollte er ja doch wieder in die Fußballmannschaft eintreten, begann er zu überlegen, eine Fußballerkarriere, das wäre doch was; da hätte er Geld ohne Ende und die versoffenen Alten könnten ihm getrost den Buckel runterrutschen. Und das ganze selbstgerechte Erwachsenengesindel, das er kannte, auch. Und die Mehrzahl der Lehrer aus der Schule gleich mit, schob er dann noch nach.

Als er die Stufen des weiträumigen, in den letzten beiden Jahren mit mehreren Einkaufsmärkten zugebauten Plateaus, auf dem früher die staatlich verordneten Aufmärsche stattgefunden hatten, hinaufzusteigen begann, rief ihn einer aus der ein wenig seitwärts lagernden Schar gelangweilt vor sich hintrinkender Müßiggänger, die sommers wie winters dort herumlungerten, zu sich. Er näherte sich ihnen nicht ohne Argwohn; je nach Laune waren diese Burschen manchmal unberechenbar und hatten einen Heidenspaß daran, Kindern, die es an Vorsicht mangeln ließen, schmerzhafte Kopfnüsse zu verpassen.
„Hey, Svennie, hast du wieder mal Ärger mit deinen Alten?“ fragte einer, der im selben Hause wohnte wie er und früher einmal Prokurist gewesen sein wollte, was ihm aber keiner glaubte, „komm, hock dich her und trink einen mit uns!“
Svennie, der noch immer nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was er unternehmen könnte, um nicht der Langeweile anheim zu fallen, kam der Aufforderung gern nach, ließ sich mitten zwischen ihnen auf den Stufen nieder und ergriff eine der ihm entgegen gereckten Flaschen. Es war ein ekelhaftes süßes, pastellfarbenes Zeug, das ihm nun die Kehle hinunter rann, aber immerhin brannte ihm die Gurgel danach nicht ganz so teuflisch wie nach dem Fusel, der bei ihm zu Hause bevorzugt wurde.
Nach einigen Schlucken spürte er bereits, wie ihm der Alkohol heiß durch die Adern zu rollen begann, und verlangte eine Zigarette. Anstandslos wurde ihm eine zugeschoben. Dann saß er da, die mit künstlichem Schaffell ausgepolsterte Jeansjacke geschickt über die gespreizten Schultern geworfen, damit er breiter wirkte, als er in Wirklichkeit war, versuchte möglichst erwachsen dreinzuschauen, rauchte, trank in zusehends kürzer werdenden Abständen aus den unterschiedlichen ihm dargebotenen Flaschen und scharrte mit seinen Turnschuhen den zu seinen Füssen liegenden Unrat von einer Seite zur anderen. Die Gespräche, die geführt wurden, waren aggressiv und stumpfsinnig wie immer, weshalb er nicht die geringste Neigung verspürte, sich daran zu beteiligen.
Je mehr er von dem Schnaps er in sich hineingoss, desto freier und leichter wurde ihm zumute. Als er sich zu fragen begann, warum er vorhin so fuchsteufelswild von seiner Geburtstagsfeier abgehauen war, wollte es ihm schon nicht mehr einfallen. Na, auch egal, dachte er, ich werde schon einen triftigen Grund gehabt haben, und spie in wiedererwachtem Übermut einen dicken Fladen grüngelben Schleims vor sich auf den Asphalt.
„Verdammt, Svennie, du bist eine widerwärtige Drecksau“, beschwerte sich ein schräg hinter ihm sitzender Koloss, dessen signalfarbene Plastikweste ihn als einen der stundenweise bei der Straßenreinigung zwangsverpflichteten Langzeitarbeitslosen auswies, „tu das ekelhafte Zeug da vorne weg, mir wird schon ganz übel.“
Svennie, der überhaupt nicht daran dachte, sich heute noch irgendetwas, das ihm nicht in den Kram passte, gefallen zu lassen, drehte sich um, grinste herausfordernd und gab zurück: „Geh halt hin und leck es auf, dann siehst du es nicht mehr.“
Jähzornig schnellte der Mann, der gerade eben noch bis in die letzte Einzelheit geschilderte Zoten über seine Erfolge als Frauenheld zum Besten gegeben hatte, hoch, besann sich aber mitten in der Bewegung eines anderen und ließ sich, seiner Geringschätzung durch wildes Herumfuchteln in der Luft Ausdruck verleihend, wieder zurückfallen; sich an einem Minderjährigen zu vergreifen, so tief war er nun doch noch nicht gesunken.
Ein trotz der frühlingshaften Temperaturen in gleich zwei dicke Mäntel gehüllter vollbärtiger Stadtstreicher, der sich die ganze Zeit über damit beschäftigt hatte, mit andächtiger Hingabe ein streng riechendes Eintopfgericht aus einer Konservendose zu löffeln, sah unvermittelt auf, stellte die Dose zur Seite, wandte sich zu Svennie hin und pöbelte ihn in einer Lautstärke, dass es weithin jeder mitbekommen musste, an: „Auf einen Lümmel, der so flink und versaut ist wie du, da warten wir hier alle schon lange. Ganz bestimmt hast du nichts dagegen, dem einen oder anderen von uns mal etwas Gutes zu tun. Mir beispielsweise.“ Mit stark übertriebenen Bewegungen lehnte er sich zurück und tat, als wolle er den Reißverschluss seiner schmuddeligen Hose herunterziehen. „Na komm schon her und fass mal an! So etwas bekommst du nicht alle Tage zwischen deine schmierigen Griffel.“
Svennie lachte: „Das sollte mir einfallen, dem berüchtigtsten Schmutzfinken weit und breit da unten reinzulangen. Anschließend könnte ich mir meine Pfoten wochenlang schrubben, und würde deinen Gestank doch nicht runter kriegen.
Gejohle brandete auf, und man schlug ihm auf die Schulter; wacker geschlagen, Junge.
Der durchaus herzlich gemeinte Zuspruch tat Svennies angeschlagenem Selbstwertgefühl wohl, doch aus leidiger Erfahrung wusste er, dass es jetzt vermutlich gescheiter wäre, sich nun allmählich davonzumachen; denn nicht selten diente eine zunächst unter beifälligem Gelächter aufgenommene witzige oder schlagfertige Bemerkung kurze Zeit später als willkommene Rechtfertigung handgreiflich zu werden, überkam den einen oder anderen dieser von unvorhersehbaren Stimmungen getriebenen Radaubrüder plötzlich die Rauflust. Und heute noch ein paar auf`’s Maul kriegen, nee, das musste nicht sein.
Er erhob sich, schnappte sich noch eine Zigarette, steckte sie sich in den Mundwinkel, ließ sie herunterhängen, wie er es bei den älteren Jungen des Viertels abgeguckt hatte, und begann davon zu stolzieren..

Ganz so beeindruckend, wie er sich das vorgestellt hatte, wollte ihm der Abgang allerdings nicht gelingen. Irgendetwas war mit seinen Beinen passiert. Es kam ihm so vor, als sie seien auf einmal ungleichmäßig lang.
Da er nicht die geringste Lust verspürte, sich seines unsicheren Ganges wegen dem Gespött der von der Arbeit oder vom Einkaufen nach Hause strebenden Erwachsenen, die nun zuhauf die Straßen zu bevölkern begannen, auszusetzen, oder gar noch von irgendeinem, der ihn kannte, angesprochen und zur Rede gestellt zu werden, gab er sich große Mühe, sich auf das Gehen zu konzentrieren, und konnte doch nicht verhindern, dass sich seine Füße immerfort ineinander verhedderten. Einige Male war er schon nahe dran gewesen, der Länge nach auf den Asphalt zu schlagen, wodurch ihm die bis dahin gar nicht so üble Stimmung erneut gehörig verdorben worden war.
Dass er in Richtung Innenstadt aufgebrochen war, hatte nicht unbedingt in seiner Absicht gelegen; doch wieder umzukehren, dazu hatte er auch keine Lust. Letzten Endes war es ja ohnehin vollkommen gleichgültig, wohin er ging; denn nirgends wartete jemand auf ihn. Während er in wachsendem Missmut vor sich hin trottete, machte er sich Gedanken darüber, ob es nicht besser wäre, gleich für immer abzuhauen. Die Idee war nicht schlecht, fand er, doch leider wollte ihm einfach nichts Gescheites zu der Frage einfallen, wo ein zwölfjähriger Junge die Chance geboten bekäme, so zu leben, wie es ihm gefiel.
Die mehrspurige, die Wohnsiedlung durchschneidende Straße, der er nun folgte, schien immer länger zu werden, und trostloser obendrein. Mit jedem Schritt, den er voran kam, nahm sein dumpfes Brüten zu. Er begann vor sich hin zu fluchen, doch die Erleichterung, die er sich davon erhofft hatte, wollte sich nicht einstellen.
Als er an einer über die Straße führenden Fußgängerbrücke vorbeikam, überlegte er, dass es gewiss kein Fehler wäre, wechselte er auf die andere Straßenseite hinüber. Dort, das wusste er, gab es immerhin ein paar Einzelhandelsgeschäfte, deren Schaufensterauslagen er sich ansehen könnte. Während er drei oder vier Meter über den unter ihm dahin schießenden Autos vor sich hin trödelte, machte er sich einen Spaß daraus zu versuchen, auf sie herunter zu spucken. Doch die Spucke ging ihm bald aus; so sehr er auch sog, es wollte einfach nichts Rechtes mehr zustande kommen. Nach einem Ausweg suchend, fing er an, kleine Steinchen aufzulesen und hinunterzuwerfen, was sogar viel lustiger war, als nur zu spucken. Seine Laune besserte sich.
Am entgegengesetzten Ende der Überführung angekommen, war allerdings Schluss mit dem Vergnügen; Steine auf den leeren Gehsteig unter sich zu werfen, das war ja wohl Kinderkram. Plötzlich erhaschte sein Blick einen am Fahrbahnrand liegenden klobigen, teilweise schon ausgeschlachteten Fernsehapparat. Das gäbe einen Spaß, knallte der einige Meter tief hinab.
Der Gedanke ließ ihn nicht los. Kurzentschlossen packte er das Gerät, achtete darauf, nichts von dessen heraushängenden Innereien zu berühren, da er es nicht riskieren wollte, infolge des möglicherweise noch enthaltenen Hochspannungsstroms einen Schlag zu erhalten, und schleppte den unerwartet schweren Kasten auf die Brücke hinauf.
Es war richtig harte Arbeit, das sperrige Ding auf das Geländer hoch zu wuchten, und er musste einen Moment lang warten und verschnaufen, ehe er ihm den entscheidenden Stoß versetzen konnte. Es war ein herrliches Gefühl, es zeitlupengleich vom Geländer kippen und herunterfallen zu sehen, und sich währenddessen auszumalen, mit welchem Höllenlärm es gleich zerschellen würde.
Der Fahrer des Wagens, auf den der Fernseher hinabsauste, versuchte ihm noch auszuweichen, doch er schaffte es nicht. Es knallte und splitterte, und das Auto raste mit jählings aufheulendem Motor und quietschenden Reifen quer über mehrere Fahrspuren und den Gehweg hinweg und noch etliche Meter die Böschung hinauf, bevor es mit einem entsetzlichen Geräusch gegen die Betonwand eines Transformatorenhäuschens stieß und eine riesige Staubwolke aufwirbelnd stehen blieb.
Svennie schluckte, das hatte er nicht gewollt. Sich nur unter Aufbietung aller Kräfte aus seiner Erstarrung lösend, wandte er sich um und rannte fort. Nur weg von hier. Er rannte, ohne auch nur ein einziges Mal inne gehalten zu haben, bis er, aufgewühlt wie nie, völlig durchgeschwitzt und mit pfeifenden Atem zu Hause angekommen war.
Seine Eltern, die, wie ihnen anzusehen war, den ganzen Nachmittag über weiter getrunken hatten, waren weder willens noch in der Lage, seinen Zustand zu erfassen; auch von dem, was er ihnen in wirr heraussprudelnden Worten mitzuteilen versuchte, mochten sie nichts wissen. Sie wollten ihre Ruhe haben und schickten ihn so, wie er war, ins Bett. Warum er so ein verstörtes Gesicht machte, und weshalb ihm hin und wieder Tränen über die Wangen liefen, es interessierte sie nicht.
Ohne sich entkleidet zu haben, ließ Svennie sich in sein Bett fallen, kugelte sich so eng es ging zusammen und schluchzte sich schlechten Gewissens in den Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte er mit rasenden Kopfschmerzen und höllischem Durst. An das, was sich tags zuvor ereignet hatte, erinnerte er sich nicht. Da er noch immer kaum in der Lage war, sich aufrecht auf den Beinen zu halten, rief seine Mutter, die daran nichts zu beanstanden fand, in der Schule an, um ihn krank zu melden. Und wie üblich hatte sie auch nichts dagegen einzuwenden, dass er den ganzen Tag über im Bett lag und sich einen Videofilm nach dem anderen ansah.

Erst als er am Nachmittag des folgenden Tages wieder durch die Straßen strich, erfuhr er von dem schweren Verkehrsunfall, über den seit vorgestern alle im Viertel sprachen. Die Sache war gar nicht weit entfernt passiert, und musste sich ziemlich genau zu der Zeit zugetragen haben, als er besoffen auf den Stufen zu den Discountmärkten herumgelungert und mit den anderen zusammen geistloses Zeug geschwätzt hatte. Es hieß, irgendein Hohlkopf hätte ein Fernsehgerät von einer Fußgängerbrücke herab und auf einen darunter durchfahrenden Wagen geworfen, weshalb der gegen eine Betonwand gerast wäre. Zwei kleine Kinder hätten bei dem Unfall ihr Leben lassen müssen, der Fahrer und seine Frau lägen schwer verletzt im Krankenhaus.
Svennie hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Hohlkopf war, und hätte es ihm einer gesagt, so hätte er es ganz gewiss nicht geglaubt.
 



 
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