Kindertage - Kindernächte

Opa schläft seit Wochen wieder in meinem kleinen Zimmer. Er sagt, die Frau hat es mit den Nerven, und überlässt ihr das große Schlafzimmer zum Garten, das mit der schönen Aussicht. Unsere Betten stehen hintereinander an der Wand. Im Dunkeln kann ich Opa nicht sehen, nur hören, wie er sich umdreht. Manchmal stöhnt er minutenlang und schüttelt und massiert sich, dann weiß ich, er hat wieder seinen Krampf im Bein. Wenn Opa nachts im Zimmer ist, ist er mir weniger vertraut als bei Tag, ein beinahe fremder Mann, von dem ich zufällig einiges weiß. Er ist sechzig Jahre älter als ich, mindestens. Ich glaube, er mag mich nicht besonders, lässt es sich aber kaum anmerken. Er hat mir die Uhr genau erklärt, er hat mir gezeigt, wie man Schnürsenkel bindet. Nur fragt er mich nie irgendwas, wie Oma es oft tut, zum Beispiel ob mir etwas gefällt oder was ich mal werden will.

Opa mag auch Papa nicht, Papa mag Opa nicht. Sie reden nur miteinander, wenn es nicht anders geht, und sprechen sich nie direkt an, weder per Du noch per Sie. Komisch, wie sie dann aneinander vorbeireden, um rasch irgendwas loszuwerden. Meine Eltern haben ein eigenes Haus, weiter draußen. Sie haben immer viel im Betrieb zu tun, von früh bis spät. Deshalb bin ich die halbe Woche bei Mamas Eltern. Mama ist hier geboren, hier oben, wo wir jetzt schlafen oder gerade wachliegen, und hier auch hat sie mich auf die Welt gebracht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Mama hat lieber mit Opa zu tun als mit Oma, das fällt mir ab und zu auf.

Ich mag es nicht, wenn Opa nachts im Zimmer ist, wenn er stöhnt oder sein Bett knarrt. Dann noch lieber im Dunkeln allein sein und sich vor diesen Gestalten fürchten. Natürlich glaube ich nicht mehr an Gespenster, dafür bin ich schon zu groß. Nur merke ich eben deutlich, wenn draußen auf dem Gang einer ist, und manchmal kommt er herein, öffnet lautlos die Tür, will sich an mich heranschleichen. Ich muss mich sehr auf diesen fremden Mann konzentrieren, in seine Richtung starren, dann kommt er nicht näher. Ich kann ihn nicht wirklich sehen, es ist zu dunkel im Zimmer. Das geht abends oft lange so, eine Stunde, zwei Stunden, bis ich doch einschlafe. Wovor fürchte ich mich denn? Angegriffen zu werden, erdrosselt, zerstückelt, was weiß ich …

Das Zimmer hier oben geht auf die schmale Straße. Genau gegenüber steht Tante Marias Haus. Sie ist Opas Schwester und kommt oft zu uns. Sie lacht gern, dabei nie laut heraus, wie Oma es tut, eher seufzt sie dabei auch ein bisschen. Wenn sie mit einem spricht, hat man das Gefühl, sie möchte einen am liebsten streicheln, tut es dann aber doch nicht. Sie ist dick und schnauft oft. Der Onkel, ihr Mann, ist gelähmt, nach einem Schlaganfall sitzt er im Rollstuhl, kommt nie aus dem Haus. Ich weiß schon, sie hat mal ein Kind gehabt, einen Sohn. Wenn sie nicht dabei ist, sagen die anderen leise, ach ja, er ist im Krieg gefallen, und reden dann von etwas anderem.

Auf unserer Seite, ein Haus weiter Richtung Bahnhof, da wohnt Tante Alma. Wir sind nur entfernt mit ihr verwandt. Auch ihr Mann ist gelähmt, er war es schon immer, sitzt ständig nur daheim. Tante Alma hat als schöne junge Frau einen gelähmten Mann geheiratet. Sie sieht ein bisschen streng aus, geht schweigend durch ihren Garten und grüßt uns von da nur, wenn es nicht anders geht. Noch ein Haus weiter wohnt Minchen, eine kleine, schmale alte Frau, mit der wir bestimmt nicht verwandt sind. Sie ist immer ganz in Schwarz. Sie redet viel mit Oma, auch wenn ich dabei bin, und hält sich geradezu an ihr fest. Sie geht es immer wieder durch: Wie sie ihren Mann damals in diese Klinik gebracht, wie sie ihn dort besucht hat, wie er gestorben ist. Und dann dasselbe mit ihrer Schwester: Krankheit, Tod – ihre Stimme wird im Verlauf der Geschichten immer dünner, dann weint sie, geht irgendwann fort, untröstlich. Wenn sie mal ausnahmsweise guter Stimmung ist, erzählt sie, wie sie das Gras in den Ritzen vorm Haus verbrennt: indem sie kochendes Wasser drüberschüttet.

Und noch etwas weiter, da steht Omas und Opas neues Haus, beide Wohnungen vermietet. Mit den Leuten unten haben wir mehr zu tun. Sie ist Kriegerwitwe. Oma sagt, die bekommt eine schöne Kriegerwitwenpension. Mit ihr lebt jetzt einer aus Ostpreußen, arbeitet in der Grube, sogar unter Tage, und nebenbei als Friseur. Er kommt auch zu uns, schneidet mir die Haare und sagt: Merk es dir, auf zwei Sachen schaut man bei einem Jungen, auf die Schuhe und auf die Frisur. Er hat eine Tochter aus dem Osten mitgebracht, sie ist schon eine junge Frau, kräftig, wird wohl bald heiraten, braucht Aussteuer, sagt meine Mutter. Einmal habe ich gehört, dass die Frau des Ostpreußen auf der Flucht hierher gestorben ist. Sonst ist das kein Thema.

Wenn ich eingeschlafen bin, habe ich oft Alpträume. In den schlimmsten ist eine dicke ältere Frau um mich herum, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, was sie mit mir vorhat, und ich will vor ihr fliehen. Manchmal schreie ich dann. Einmal bin ich träumend aus meinem hohen Bett hier gefallen und habe mir dabei die Schulter verrenkt. Oma hat daraus eine große Geschichte gemacht und mich zu verschiedenen Ärzten geschleppt.

Noch mehr Nachbarn gibt es Richtung Dorfmitte. Gleich im Nachbarhaus wohnt Opas jüngerer Bruder allein mit seiner Frau. Auch ihr Junge ist im Krieg gefallen. Mit dem Bruder redet Opa ab und zu ein paar Worte, mit der Frau ist Oma schon lange verfeindet, mit ihr spricht keiner mehr von uns. Das nächste Haus gehört Opas älterem Bruder. Man redet auf der Straße miteinander, besucht sich aber nur selten. Opa macht sich bei uns zu Hause über alle dort lustig, den älteren Bruder, der mal Direktor war, seine vornehme Frau, seine zwei Töchter - eine davon nennt Oma alte Jungfer -, den Schwiegersohn – scheint auch nicht viel zu taugen, sagt Opa – und den Enkel, in meinem Alter. Der wird mal studieren, das hat der Alte ihm schon an der Wiege prophezeit, sagt Opa hämisch.

Ein Haus weiter ist das Dachgeschoss vermietet. Dort wohnt mit seiner Frau ein junger Mann, über den sich die ganze Straße aufregt: ein Faulenzer, sagen sie, arbeitet nicht, liegt den ganzen Tag nur im Bett. Manchmal sehe ich ihn trotzdem auf der Straße. Na, wenigstens ist er hübsch und er grinst gern. Er neigt schon zur Fülle. Ich muss an eines von meinen Mecki-Büchern denken: Mecki im Schlaraffenland. Ich selbst bleibe spindeldürr und Oma hat von mir gesagt: Der wird noch nicht mal zwanzig! Der Faulenzer ist mir ziemlich sympathisch.

Zwei Häuser weiter wohnt der dickste Junge der Straße, erst lang aufgeschossen und später schwammig geworden. Seine Mutter schiebt es auf die Hormone. Seine Oma hat gerade schon zum zweiten Mal versucht, sich umzubringen. Sie ist zum Fluss gerannt, ins Wasser gegangen, und als ihr Sohn sie hat herausziehen wollen, da hat sie ihn mit hinunterreißen wollen ins tiefe Wasser. Nur ist er stärker gewesen und hat sie herausgeholt, das weiß jetzt die ganze Straße.

Oma hat oft Besuch von weiter weg, unser Dorf ist ja groß. Dann geht es hoch her, stundenlang ein Reden ohne Pause. Am lautesten wird es, wenn diese andere Kriegerwitwe kommt. Wahrscheinlich sind wir auch mit ihr irgendwie verwandt, noch entfernter als mit Tante Alma. Die Witwe ist klein, zierlich, sehr lebhaft. Sie hat Großes vor, sie steckt schon mitten drin. Sie hat ihre Witwenpension abfinden lassen und baut mit dem Geld am Dorfrand ein neues Haus für sich und ihre Tochter und eine Mietpartei. Davon kann sie lang und breit erzählen. Oma kann nicht genug davon hören, aber ich langweile mich sehr.

Es ist nicht immer derselbe Mann, der mir abends im Flur hier oben auflauert. Da sind verschiedene, die mich töten wollen, und einer aus ihrer Schar kommt dann aus dem Dunkel auf mich zu. Ich glaube nicht an Gespenster und ich erzähle Oma nie von meiner Angst, nie von den Gestalten im Dunkeln. Denn ich weiß ja, wie sie reagieren würde: So, da wollen wir doch gleich mal sehen … Du kommst jetzt sofort mit mir rauf … Da ist doch keiner, gar keiner, siehst du?! Meinst du vielleicht, die verstecken sich tagsüber auf dem Dachboden? Oma reißt die Tür zur Bodentreppe auf, zieht mich an der Hand hinter sich her, dahin wo sonst keiner von uns in Jahren mal hinkommt. Und dann finden wir sie natürlich. Keine Rettung, aussichtslos.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gute Bebachtung von Kinderängsten und -vorstellungen, manchmal dachte ich beim Lesen, dass das Ganze eventuell in eine Missbrauchsszene gleitet, aber es ging wohl eher um die Darstellung diffuser Ängste und Gespenster.
Stephen King hat seine Romane aus seinen Kindheitsängsten gespeist - hier würde er auch fündig!
LG Doc
 
Danke, DocSchneider, für die Beschäftigung mit meinem Text sowie den Kommentar. Ja, die Anklänge an Missbrauchsgeschichten sind bewusst hineingeschrieben worden, als falsche Fährte. Primär geht's natürlich um eine Straße, eine Nachbarschaft in den 1950ern, die alles andere als eine idyllische Zeit waren: einerseits noch ziemlich kaputt vom Krieg, andererseits schon recht raffgierig. Die Angstvorstellungen des Kindes im Haus können also als Internalisierung des Unguten draußen verstanden werden (Gefallene, Gelähmte, Selbstmordgeneigte usw.).

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Gefällt mir sehr mit seinen genauen Beobachtungen.

Nur manchmal (wirklich nicht oft) bricht das Bild, das ich vom Kind habe, weil eine Formulierung schon zu erwachsen ist. Mein Hauptproblem (wenn man von Problem überhaupt sprechen will) ist die Länge – ich kann mir im realen Leben schon so viel "Personal" nicht merken, hier war ich ab der Hälfte ungefähr etwas überfordert (vor allem die "vielen" Kriegstoten erzeugten eher Einheitsbrei als Persönlichkeitsbilder zu schärfen). Irgendwo da begann ich, quer zu lesen und nach Stichworten zu schauen, wie die "Geschichte mit dem Opa" denn nun weitergeht.
Aber das ist "Meckern auf hohem Niveau" …
 
Danke, jon, für kritische wie lobende Anmerkungen. Mir ist selbst bewusst, dass Ton wie genaue Analyse gelegentlich nicht kindlich genug wirken. Im Ganzen ist es eher eine Kindergeschichte für Erwachsene geworden, etwas zwischen den Genres. Daran kann man sich stören.

Feststellen möchte ich allerdings, dass die Opa-Kind-Beziehung hier nur eine Nebenrolle spielt. Es ging mir mehr um den Abriss einer Nachkriegs-Vorort-Gesellschaft mit dem Kind als Beobachter.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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