Kindheitserinnerungen

5,00 Stern(e) 1 Stimme
Ludmilla
Das unablässige Ruckeln im hartgefederten Bus nervte. Jo wurde durchgeschüttelt und rutschte auf seinem aufgeblähten Sitz von einer Seite auf die andere. Er war müde und jetzt begann auch noch seine Ausgangshose unangebracht zu spannen. Ein Gedankenkarussel kreiste in seinem Kopf. Er hielt es für einen Moment an und fand sich in seiner Kindheit wieder, sah sich an der unbarmherzigen Hand seiner mit Dederon-Einkaufsnetzen bepackten Mutter, die, wie immer, eilig voranschritt. Es hatte einen guten Grund, dass er sich umso mehr von ihr ziehen ließ, je näher sie der heruntergekommenen Baracke am Stadtrand kamen, in der ihn seine Klavierlehrerin Ludmilla einmal in der Woche unterrichtete. Besser gesagt malträtierte.
»Wenn du deine kleine Finger nicht krum machst, ich muss deine kleine Finger weichkochen!«, drohte sie ihm mit ihrem osteuropäischen Akzent. Ludmilla war eine langsam im Verblassen begriffene Schönheit, mit schmalem Gesicht und hohen Wangenknochen. Sie erwartete ihn zum Unterricht geschminkt, als wollte sie ausgehen. Ihre schlanken Finger schwebten beneidenswert leicht über die Tasten des verstimmten Klaviers. Sie waren so gepflegt, dass es selbst dem Sechsjährigen auffiel.
Wenn er sich unter Qualen, nach wochenlangem Üben endlich ein Stück eingehämmert hatte, suchte Ludmilla wieder ein neues für ihn heraus. Es folgte ein Ritual, das Jo faszinierte: Sie schlug das dicke, in schnödes, graues Kunstleder eingeschlagene Buch mit den russischen Etüden auf und blätterte darin wie in einem Kartenspiel. Nach einer Weile hielt sie bei einem beliebigen Stück inne. Und dann passierte es: Sie rückte ihre halbe Brille zurecht und fing an zu spielen. Mit beiden Händen. Gleichzeitig! Jo vergaß jedes Mal, den Mund zu schließen. Dafür hätte er sich wochenlang schinden müssen und Ludmilla spielte aus diesem Buch, wie andere aus einer Zeitung vorlasen.
»Ach ich glaube, das ist zu schwär«, murmelte sie manchmal resigniert nach wenigen Takten vor sich hin, blätterte zum nächsten Stück und es begann von vorn.

Obwohl Ludmilla keine Kinder hatte, erhellte von Zeit zu Zeit etwas wohltuend Mütterliches ihre Melancholie, mit der sie Jo immer dann ein schlechtes Gewissen bereitete, wenn er unvorbereitet zum Unterricht erschienen war. Statt der berechtigten Schelte erntete er lediglich vorwurfsvolle Blicke, die ihn wiederum noch mehr trafen, als wenn sie ihn ausgeschimpft hätte. Mit der umarmenden Schwermütigkeit ihrer russischen Seele zog sie ihn in diesen Momenten nach unten, und in Jo breitete sich ein diffuses Unwohlsein aus.
Zu seinem Geburtstag hatte sie ihn für die Unterrichtsstunde zu sich, in ihre Altbauwohnung gebeten. Hier roch es nach schwerem Parfüm und Kräutern. Es gab grusinischen Tee (und für Jo Pfefferminztee), den sie mit heißem Wasser aus einem antiken, russischen Samowar aufbrühte. Ein aufgeklappter, lackschwarz-glänzender Flügel ragte mitten aus dem Parkett des geräumigen Wohnzimmers, wie ein Altar.
Ludmilla entnahm dem Regal ihrer altmodischen Anbauwand mit einer theatralisch anmutenden Geste ein großes Buch mit vergoldeter Prägung: das Klavierkonzert No 1, e-Moll von Frédéric Chopin. Ihm daraus vorzuspielen war seine Geburtstagsüberraschung. Mit entrücktem Blick schlug sie das Buch feierlich auf und strich mit den Fingerspitzen zärtlich über die verschnörkelten Noten. Sie bedeutete ihm, sich neben sie auf die Klavierbank zu setzen. Seine Füße baumelten in der Luft. Auf einem kleinen Beistelltisch stand der Tee, selbstgebackener Kuchen und russisches Konfekt, auf das der brav seitengescheitelte Jo unablässig schielte. Auf ihr Kopfnicken hin, durfte er die Seiten umblättern. Obwohl er nicht verstand wozu, denn die, sich im Rhythmus ihrer eigenen Musik wiegende Ludmilla, spielte die ganze Zeit mit geschlossenen Augen. Er saß neben ihr, eingehüllt in eine Wolke orientalischen Parfüms und Achselschweiß. Die Klaviermusik perlte angenehm, schwoll nach einigen Minuten an, wurde expressiver und immer lauter. Auf einmal stoppte Ludmilla unvermittelt an einer fulminanten Stelle und atmete schwer. Jo bekam Angst. Sie starrte auf die Noten, presste eine Hand auf ihre Brust und schlug mit letzter Kraft das Buch mit der anderen Hand zu, als müsste sie den Geist, der soeben daraus entweichen wollte, zurückdrängen. Von dem, was Joe gehört hatte, war er überwältigt und verstört. Die Szene brannte sich ihm ein: Er sah Ludmilla von jetzt an vor seinem geistigen Auge in einem prunkvollen Konzertsaal, in einem glänzenden (komischerweise scharlach-roten) Abendkleid, mit hochaufgesteckter Frisur, an einem großen, lackschwarzen Flügel, über dem ein überdimensionaler, goldener Kronleuchter schwebte. Aber in Wahrheit hatte sie einen deutschen Offizier geheiratet, war in einer Provinzstadt der DDR gestrandet, um für den Rest ihres Lebens, lustlose Kinder wie ihn zu unterrichten.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten