1817
Nora zog die Bettdecke hoch bis zur Nase. Es war eisig kalt in ihrem Schlafzimmer, der Wind heulte ums Haus. Auf den Fensterscheiben, hatte sich ihr Atem zu exotischen Eisblumenmustern, niedergeschlagen. Sie genoss noch eine kleine Weile, die warme Höhle unter dem dicken Daunenplumeau. Noch einmal die Lider schwer werden lassen, und zwischen Wachen und Schlafen eingekuschelt, die Zeit vergessen.
Morgen würde Oberst Graf Wersten eintreffen, um mit Papa und den anderen Herren, zu jagen. Sie wusste, das Jagen auf Hirsche und Sauen war kein Vorwand für seinen Besuch, aber nicht der einzige Grund.
Die Werstens besitzen im Livländischen ausgedehnte Ländereien, sind seit Jahrhunderten dort ansässig. Im Verlaufe einer bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte, waren der Deutsche Orden, danach die Könige von Polen und Schweden, jetzt der russische Zar in St. Petersburg, ihre Lehnsherren.
Nora war dem Grafen Boris, erstmals als Oberst in russischen Diensten begegnet. Damals half er, die Trümmer der großen Armee Kaiser Napoleons, nach Westen zu treiben.
Wachträumend sah sie ihn vor sich, in seiner zerrissenen, mit Brandlöchern übersäten, hellblauen Uniform, als er sich artig vor ihr, einem eben flügge werdenden Mädchen, mit den Worten verbeugte: „Staunen Sie nur, Comtess, der eigentliche Zweck des Uniformtragens ist der Krieg, nicht der Tanz.“
Sie war zu verwirrt, um zu parieren. Die plötzliche Anwesenheit so vieler Männer, die jedes Zimmer im Haus belegt hatten, und als die nicht ausreichten, bei den Tieren im Stall schliefen, ängstigte sie.
Ihre Eltern bewegten sich mit sanftmütiger Heiterkeit in dem Durcheinander, die Mama lächelnd, während der Papa den fremden Kriegern, jeden Wunsch von den Augen abzulesen suchte.
Nora wußte, Kaiser Napoleon hatte in Rußland die entscheidende Niederlage erfahren, die seinen Träumen von einem Europa unter seiner Vorherrschaft, hoffentlich ein Ende setzte. Papa war den russischen Soldaten von Herzen dankbar, für ihre tapfere Standhaftigkeit, in diesem mörderischen Krieg gegen das Scheusal Bounaparte.
Die Einquartierung war ihr jedoch nicht Wirklichkeit, noch war ihr Leben eher Traum. Sie versuchte sich so unsichtbar wie möglich zu machen, vor allem als sie bemerkte, wie in der Nähe des Grafen Wersten, ihr Herz schneller schlug. Sie konnte sich keinen Reim auf dieses beängstigende, doch selige Gefühl machen, das ein Blick ihr beim Abendessen über den Tisch zugeworfen, auszulöste.
Heute würde sie ihn nach vier Jahren wiedersehen. Ihre Schwärmerei, diese erste Regung des Gefühls für das starke Geschlecht, war verflogen. Doch es war ein Ereignis in der endlosen Ödnis eines ostpreußischen Winters, Gäste zu haben. Die Damen und Herren von den umliegenden Gütern würden kommen, es würde Tanz, Musik und Unterhaltung in Fülle geben.
Nora zwang sich aus dem Schlaf, lauschte in sich hinein, freute sie sich? Sie war beseelt von hochgestimmter Erwartung, nicht Freude. Also raus aus den Federn, es gab noch einiges zu tun. Als erstes war die Garderobenfrage für den Abend, mit Mama abzuklären. Sie wollte mithalten können, bei dieser fröhlichen Zurschaustellung weiblicher Reize, denn alles von Stand was sich bewegen konnte, ob alt oder jung, würde Eindruck zu schinden suchen.
Möglich war, jemand gefiel ihr, oder sie gefiel jemanden, oder beides ergänzte sich und es gab ein gegenseitiges Gefallen? Und dann? Nicht weiter denken, befahl sie sich. Kam nicht oft vor, solcher Zufall, kam fast immer anders, was kein Unglück war. Mama und Papa lebten nicht im Unglück, obwohl, wie sie ahnte, ihre Ehe nach majoratsherrlichem Kalkül geschlossen worden war.
Wie sollte es anders gehen, in dem dünn besiedelten Land? Sie konnte die für sie in Frage kommenden Herren, im fünfzig Meilen Umkreis, an ihren zehn Fingern abzählen.
Da war Graf Wersten als Russe, Baltendeutscher, Herr über sagenhafte Latifundien und Junggeselle, der absolute Exot bei den ins Haus stehenden Ereignissen. Da würde jede Tochter, aus den besagten fünfzig Meilen dabei sein, um diese hochkarätige Erscheinung zu bewundern, wenn möglich zu bezaubern und einzufangen. Das Gerücht ging, seine alte Mutter habe ihm den Schwur abgenommen, nicht ohne Braut und Verlöbnis heimzukehren, auf das sie in Ruhe sterben könne, nachdem sie ihre Hand auf den Scheitel der Auserwählten gelegt, und sie gesegnet habe.
Nora schlug das Oberbett zurück und spürte die Kälte. Da gab’s kein Zögern mehr, mit Schwung die Beine hoch, den Schwung aufnehmend mit einer Rechtsdrehung den Rumpf nach oben federnd, sprang sie aus dem Bett. Schnell in die Puschen und raus ins Ankleidezimmer, wo ein bis zur Decke reichender Kachelofen, aus kunstvoll geformten, mit Szenen aus dem Landleben bemalten Fayencen, wohlige Wärme verströmte.
Der Raum war ein Achteck und hatte vier Türen, drei führten jeweils zu einem Schlafraum, und jede war bemalt. Ihre Tür mit einer im Flug schwirrenden, blau grün schillernden Königslibelle. Die zu Griseldis Zimmer, ihrer kleinen Schwester, zierte ein gelber Zitronenfalter, dessen Antennen zu vibrieren schienen, und auf der zum Zimmer der Mamsell, kauerte eine Haselmaus, eine Nuß zwischen possierlichen Vorderpfötchen, vorsichtig äugend beknabbernd. Die vierte Tür schlicht weiß, die Paneele gold gefaßt, führte ins Treppenhaus. Auf der Treppenhausseite stand in zierlichen Goldbuchstaben: „Mannspersonen, haben nur nach Anmeldung durch eine Weibsperson zutritt!“
Eine Weibsperson, in Gestalt von Gräfin Natascha, Noras Mutter, die Mascha genannt wurde, betrat in dem Augenblick das Ankleidezimmer, als Nora sich an den warmen Kachelofen schmiegte.
„Nora Liebes! Doch bitte nicht gar so verwöhnt, Bewegung! Das Blut in Wallung gebracht, wärmt mehr als deine Kachelofen Umarmung! Du bist eben erst hoch, vermute ich richtig? Also dann, schon über die Garderobe des heutigen Abends nachgedacht? Du nickst, dann lass mal sehen, du freust dich doch auf das Fest?“
„Bestimmt Mama, ich hab mir das durchgeknöpfte Kleid zurechtgelegt, das saphir-blaue, erinnerst du dich? Seit ich es vor zwei Jahren zum ersten Mal trug, hängt es im Schrank. Ich glaube, es steht mir besonders gut!“
„Da bin ich deiner Meinung, Nora, nur, hast du es noch einmal anprobiert seit damals? Bedenke bitte, zwei Jahre sind in deinem Alter eine lange Zeit. Du wirst es nicht bemerkt haben, aber ich sicher, du bist fraulicher geworden, mein Kind, besonders deine Büste hat sich entwickelt.“
„Du fürchtest, da könnte etwas rausrutschen, Mama?“
Gräfin Mascha nickte. „Könnte!“
Nora lachte. Nein, lachen war das nicht, eher ein verschmiztes, verschwörerisches Kichern. Sie ging zum Schrank, griff das Kleid, schwenkte es wie eine Fahne,
„mein schönstes Stück unter all dem Gebretzele“, verkündete sie.
„Ich bin ja einverstanden, Nora, nur zieh es bitte an!“
„Nur überwerfen, Mama, ohne all den Unterschnickschnack?
„Sicher, das genügt, wir wollen feststellen, ob Deine Büste nicht den Rahmen sprengt.“
Nora zog das Nachthemd über den Kopf, und stand nackt vor ihrer Mutter. Die trat näher, versuchte ihre Taille zu umspannen, was ihr nicht ganz gelang. Sie formte die Hände zu Schalen, und schob sie gegen Noras Brüste, die kräftig aber nicht üppig, aus eigener Kraft ihre Stellung hielten.
„Mama, ich bin kein Pferd!“ Unwillig entzog sie sich den kennerischen Vermessungen, und Betastungen ihrer Mutter. Mascha von Kelm pflegte von sich zu sagen, sie sehe durch die Hände. Was ihr am Herzen lag, Mensch oder Tier, wurde im Rahmen des Schicklichen betastet. Sie galt als Autorität auf dem Gebiet der Heilkunst. Nichts konnte sie hindern, während des Sommers mindestens jede Woche mit Klapaida, der Kräuterfrau, als Hexe bei Knechten und Mägden verschrien, auf der Suche nach heilenden Pflanzen, durch die Wälder zu streifen. Klapaida stand bei Gräfin Mascha ganz hoch in Gunst.
Was die Heilkräuter und deren Anwendung angeht, gibt es keine kenntnisreichere Frau, behauptete sie. Streng hielt sie sich an die Vorgaben ihrer Waldfreundin, wenn es um das Wohlergehen der ihr auf Steinfeld Anvertrauten, Mensch oder Tier, ans Heilen oder vorbeugendes Verhindern ging.
„Zieh über“, fast schon ungeduldig nahm sie das Kleid vom Bügel und hielt es Nora hin. „Könnte passen“ nickte sie, während sie die Schlingen über die Knöpfe zog, die das Kleid vom Rücken her zusammenhielten.
Nora drehte sich zum Spiegel. Sie wollte den ersten Blick, auf ihr passendes oder schon nicht mehr passendes, Decollete werfen. Sie atmete tief durch, als sie sah, wie das Kleid ihr eine zweite Haut war, dehnte den Brustkorb übermütig, ließ die Brüste hoch zum Rand des Ausschnittes schwellen, jedoch nicht weiter, als schicklich. Maschas Gesicht erschien hinter ihr im Spiegel, „Perfectement, Mademoiselle Nora“ flüsterte sie, und war bei allem Stolz auf ihre schöne Tochter, ein klein wenig neidisch als sie erkannte, wie einmalig sie ihr Decollete, an Nora vererbt hatte. Gleichzeitig schalt sie sich eine dumme Ziege, das war der Lauf der Zeit, auch Nora würde nicht ewig jung sein. Beschämt ob dieser Dummheit gestand sie:
„Nora, eben war ich eine winzige Sekunde eifersüchtig auf dich. Du bist so absolut hinreißend, dass es mich, wie gesagt, für einen kleinen Moment zum Weibchen machte.“
Nora nahm sie in die Arme,
„Mama, du bist eine so wunderbar schöne Frau, und die ehrlichste Mutter die es gibt! Ich bin so stolz auf dich! Das Kleid trag ich heute Abend?“
„Selbstverständlich, Kind, es ist dir wie auf den Leib geworfen!“
„Aber die Wäsche, Mama? Sollt ich Wäsche darunter tragen, wird, glaube ich, viel von der Perfektion verloren gehen?“
„Nora, das bleibt unter uns! Kein Wort zu Griseldis oder der Mamsell. Ich helfe dir beim An-und Auskleiden und kein Wäschestück wird das Bild zerstören. Auf eins verlass dich, die Herren werden um Fassung ringen!“
„Ganz ohne, Mama, nur das Kleid und ich?“
„Sicher, warum nicht? Sei distanziert, freundlich zwar, aber lass durchscheinen: Ich weiß um meine Erscheinung und ihre Wirkung. Nur wenig Alkohol! Lass dich beschwipsen von den bewundernden Augen der Männer!“
„Und was ist mit den Frauen, Mama?“
„Feindinnen werden sie dir sein, wenn du deine Schönheit bewahrst, ein Leben lang. Damit lässt sich gut leben, Kind, sie werden deine Nähe suchen, um etwas abzukriegen von deinem Glanz!“
„Nun lass gut sein, Mama, nacher werd ich noch zur hochmütigen Gans!“
„Wirst du nicht, Nora, ich werd das nicht ständig wiederholen. Einmal jedoch muss es gesagt werden, es hilft dir, dich zu bewerten. Menschen lassen sich oft unter Wert handeln, weil niemand ihnen die Augen öffnete. Ich lass dich jetzt allein. Häng das Kleid zurück in den Schrank, wie abgesprochen bin ich heute Abend deine Zofe.“
Nora machte ihre Morgentoilette, warf sich ein warmes Hauskleid über, und bezog Posten in der Bibliothek, von wo aus sie die Ankunft der Schlitten mit den Gästen für das heutige Fest, beobachten konnte. Sie klingelte nach einem der Mädchen, und ließ sich ihr Frühstück auf dem kleinen Tisch am Fenster servieren, so hatte sie alles was sich auf Steinfeld zubewegte, im Auge. Hier zwischen den Büchern, verbrachte sie oft ganze Tage lesend und stöbernd, nur unterbrochen vom gemeinsamen Mittag und Abendessen der Familie.
Ankömmlinge beobachten, wirklich Nora, fragte sie sich? All die bekannten Gesichter von Baron X und Gräfin Y, mit den immer gleichen Redensarten. Das leichte Fremdeln der gleichaltrigen Mädchen, die sie zwar zwei, dreimal im Jahr traf, aber nie lang genug, um Freundschaften wachsen zu lassen. Von den Jungs ganz zu schweigen. Gestern noch wilde kleine Tiere, waren sie als Halberwachsene zu verdrucksten Niemanden geworden. Nicht einmal den Blick zu heben, um einem Mädchen in die Augen zu schauen, wagten sie.
Doch was soll’s. Sie war nicht bereit, einen Gedanken an einen Mann zu verschwenden, der einst Partner einer Vernunftsehe sein würde. Noch träumte sie vom Glück oder von dem, was sie für Glück hielt, da kamen Männer vorerst nur als Tanzpartner vor. Geführt von einem guten Tänzer, vergaß sie auf dem Parkett die Zeit, verklang die Musik, war der Tanz zu Ende, wachte sie auf wie aus einem berauschenden Traum.
Sie sah aus dem Fenster auf die endlose, verschneite Ebene. Das gleißende Sonnenlicht, ließ Eis- und Schneekristalle in unzähligen Brechungen funkeln, jeder Schlitten würde lange vor Ankunft auf Steinfeld zu sehen sein.
Erst als kleiner Punkt beim Überschreiten des Horizonts, mit der Zeit größer werdend, in einer Senke verschwindend, wieder auftauchend, um endlich erkannt zu werden als die Dollgies, die Dönbergs, Hilgendorfs, Jablonskis oder wer sonst erwartet wurde.
Nora liebte die Spannung die ihren Puls beschleunigte, bis sie erkannte wessen Schlitten gleich auf Steinfeld eintreffen würde. Bei Onkel Fedja Jablonski war das leicht, da musste sie nicht raten. Von Jablonskis Schlitten flatterten die rot-weiß polnische Fahne auf der linken Herzseite, und eine schwarz-weiß preußische auf der rechten Gesetzesseite. Herzseite, hatte er Nora erklärt, weil ich von Herzen Pole bin, Gesetzesseite, als treuer Untertan des preußischen Königs, den ich nicht liebe, seine penible Verwaltung und Gesetzestreue jedoch hochachte.
Auf Onkel Fedja freute sie sich besonders. Graf Jablonski war ein excellenter, unermüdlicher Tänzer und standfester Trinker, den der Alkohol nicht veränderte und zur Freude der Damen, ein amüsanter Unterhalter beim ausgedehnten Frühstück am nächsten Morgen. Da war er Hahn im Korb, wenn er es vorzog, die Herren ihren Jagdtrieb ohne ihn fröhnen zu lassen.
Nora dehnte sich voll Vorfreude und Vorahnung. Noch strich sie um diese Ahnung wie die Katze um den heißen Brei, war nicht bereit, sich den höher und höher gehenden Schlag ihres Herzens einzugestehen. Nichts als unaufgeklärte Jungmädchen Schwärmerei, ging sie mit sich ins Gericht. Angehimmelt hatte sie ihn damals, es war der Einbruch der Welt in ihre Idylle, und er der Zeremonienmeister dieser Welt. Sie schloß die Augen, und das seit damals unveränderte Bild des Offiziers, in seiner Brandlöcher versehrten Uniform, stand vor ihr. Sie fahndete nach seiner Stimme, doch die Figur blieb stumm, stand da wie ausgestopft und bedeutete ihr rein garnichts. Noch nicht einmal aufgeklärt war sie, als sie ihn erstmals sah. Von nichts eine Ahnung, aber verliebt, so weit kommt das. Sie öffnete die Augen und ließ das glitzernde, schneereflektierte Sonnenlicht sie blenden, bis Tränen kamen.
Aufklärung, ein Seminar an dem teilzunehmen, in der ganzen Provinz sicher nur sie das Glück hatte. Es war Sommer und Mascha hatte sie früh geweckt, um ihr einige Aufträge zu übertragen, die während ihrer Abwesenheit zu erledigen waren. Sie würde bis Spät -abends mit Klapaida in den Kräutern sein, erklärte sie und beugte sich hinunter, um ihre Tochter zum Abschied auf die Stirn zu küssen. Da erst bemerkte sie, dass Nora wie erstarrt in den Kissen lag.
„Was ist dir, Kind?“
„Mama!“ Nora schlug die Bettdecke zurück, und sie begriff.
„Ich bin gleich bei dir, Liebes, Klapaida geht für diesmal allein in die Kräuter.“
Sie kam zurück mit einem Kartenständer, einer aufgerollten Karte und ihrem Kräuterwägelchen, einem kleinen vierrädrigem Karren, den der Wagner für sie gebaut hatte. Vier Räder und drei Etagen voll Keramiktöpfchen und Fläschchen, ein jedes handbeschriftet und mit einer Nummer versehen. Über die Nummer fand sie in ihrem Medizinbuch, die Erläuterung zum Inhalt der Fläschchen und Töpfchen, sowie deren Bestandteile und Wirkungsweise.
Mascha nahm eines der Fläschen, zählte zehn Tropfen in einen kellenförmigen, weissen Porzellanlöffel mit blauen Streublümchenmuster, reichte den Nora und befahl:
„Nase zuhalten und runter.“
Nora schluckte gehorsam, schnappte nach Luft, beschwerte sich aber nicht, über die adstringierende Wirkung der Medizin in ihrem Mund.
„Die Tropfen lindern den Krampfschmerz, erläuterte Mascha, die Krämpfe jedoch müssen sein.“ Mit diesen Worten rückte sie den Ständer zurecht und hängte die Karte auf, doch an Stelle der Umrisse eines Landes oder Kontinents, erschien das Abbild eines weiblichen Torsos, dessen klaffend geöffneter Bauch, die inneren Organe zeigte.
„So sehen wir Frauen von Innen aus, dozierte Mascha, wir werden jetzt über die Funktion der weiblichen Organe sprechen.
Was dir Schmerzen bereitet, fuhr sie fort, ist die Gebärmutter, und sie zeigte auf ein birnenförmiges Organ. Die Gebärmutter ist der Aufenthaltsort des werdenden Menschen, während der Schwangerschaft. Um schwanger zu werden, bedarf es der Befruchtung durch den Mann. Erfolgt diese Befruchtung nicht, stösst die Gebärmutter ein für das Kind vorbereitetes, blutreiches Polster ab. Dies geschieht während der Empfängnisfähigkeit der Frau, einmal im Monat. Die Krämpfe und das Blut aus deiner Scheide sind das Resultat dieser Tätigkeit der Gebärmutter, die auf die gleiche Art bei der Geburt das fertige Kind austreibt.
Hier oben, dieses Paar blütenförmiger Gebilde, sind die Eierstöcke. Sie sind durch je einen Schlauch mit der Gebärmutter verbunden. Durch die Schläuche rechts oder links, wandert das befruchtete oder unbefruchtete Ei in die Gebärmutter.“
Sie nahm eine Tasche und zog eine Art gestrickten Zopf hervor, der mit einem Gürtel verbunden war. Dies ist eine Binde, sie hielt das Ding hoch, schürzte den Rock und befestigte es mit schnellem Griff zwischen ihren Beinen.
„Nimm das, wasche dich, und versorge dich mit der Binde. Wenn die durchgeblutet ist, wirfst du sie in den Eimer, der voll Seifenlauge dort in der Ecke stehen wird. Ich lass uns einen Tee bringen, danach nehmen wir Teil zwei, die Befruchtung, durch.“
In Teil zwei wurde Nora umfassender eingeführt. Teil eins war mehr eine Bedienungsanleitung, bei Teil zwei ging Mascha besonders auf den emotionalen Aspekt der Befruchtung ein. Wie von der weiblichen, so hatte sie ein Rollbild von der männlichen Anatomie.
Die Lektion beanspruchte den ganzen Morgen, aber noch nach Wochen beantwortete Mascha ihrer Tochter manche Frage. Am Ende war Nora klar: Männer und Frauen sind füreinander geschaffen, quasi aus einer Form, was dem Einen fehlt, spendet das Andere, und umgekehrt.
„Sieh dir die jungen Männer an, sieh, wie sie an ihrer erwachenden Männlichkeit leiden," ermahnte Mascha. „Bemerke, wie schwer sie an unserer Doppelmoral tragen, die von uns verlangt, unsere Brüste zur Schau zu stellen, die hervorgerufene Wirkung jedoch ignoriert, so tut als gäbe es die Geschlechtslust nicht."
So einerseits beunruhigt von Ahnungen, andererseits kühl und ihre Chancen kennend, hatte Nora es sich auf ihrem Ausguckposten am Fenster der Bibliothek vor der großen, weißen Weite bequem gemacht, als der erste kleine, schwarze Punkt über dem Horizont auftauchte. Er verschwand, tauchte wieder auf, wurde größer und größer. Sie erkannte, das war kein einzelner Schlitten, das war ein ganzer Tross. Also kein Nachbar und nicht Onkel Fedja, dies war, da gab es nichts zu deuteln, der Gast aus Livland, Graf Wersten. Nora fühlte ihr Herz klopfen und gleichzeitig eine Wut, die auf sie selbst und beileibe nicht den Oberst gerichtet war.
Sie kniff sich mit aller Kraft in den Hintern, dahin, wo niemand den blauen Fleck je sehen würde, ausser Mama, und die würde ihre Erklärung akzeptieren. Als es weh tat, griff sie nochmal nach und drehte das Fleisch, bis der Schmerz einen Augenblick lang unerträglich war. Sie verließ die Bibliothek, rief eines der Mädchen und bat sie der Mama auszurichten, Graf Wersten träfe in einer halben Stunde ein.
Sie ging auf ihr Zimmer, versenkte sich vor dem Schminkspiegel auf dem Toilettentisch in ihr Konterfei, sah sich in die Augen, versuchte durch das helle Grün hindurch, dahin in ihren Kopf zu schauen, wo, wie ihr schien, dass saß, was sie nicht in den Griff bekam.
Ruhe, schnauzte sie sich an, absolute Ruhe, und jetzt das grüne Kleid mit dem kleinen Ausschnitt, das Samtband mit dem Medallion um den Hals, die Frisur hochgesteckt. Sie stellte sich vor den grossen Ankleidespiegel, musterte sich. Das genügt, befand sie.
Von unten hörte sie Türenschlagen und lautes Gelächter, Hochwohlgeboren war eingetroffen, na dann, auf zur Besichtigung.
Sie trat aus dem Zimmer, durchquerte das Oktagon, plötzlich stand Klapaida vor ihr. Nora verschlug es die Sprache. Die Kräuterfrau war noch nie in den Privatgemächern der Familie gewesen. Wenn Mama mit ihr im Hause zu tun hatte, geschah das in der Küche.
Klapaida bemerkte ihre Verwirrung, sprach jedoch kein Wort, sah sie nur an. Stand da, stumm mit schwarzen Blick. Nora wich einen Schritt zurück, Klapaida tat eben diesen Schritt auf sie zu. Dann sagte sie, nein, sie sagte nichts, ihr Gesicht, ihr Mund blieben starr, unbewegt wie eine Maske, doch Nora hörte ihre Stimme, ihre Worte:
„Lass uns auf dein Zimmer gehen, Mädchen“.
Nora wich zurück, öffnete rücklings die Zimmertür, betrat, ohne sich umzuwenden, den Raum. Klapaida folgte in gleichem Abstand.
„Setz dich“ befahl sie und zeigte auf einen Stuhl. Sie selbst blieb stehen, schlug ihren Umhang zurück, kramte in einer augenscheinlich tiefen Tasche ihres Kleides, in die sie ihren Arm bis über den Ellenbogen hinein schob. Zum Vorschein brachte sie ein kaum fingerlanges Holzgebinde, einer Rute ähnlich. Sie hielt das Bündelchen vor den Mund, spuckte dreimal darauf, murmelte Unverständliches. Dann hielt sie Nora die Hölzchen hin. „Da nimm!“ fuhr sie nun mit Stimme sprechend fort: „Am Tag deiner ersten Verliebtheit, kochst du das in sprudelndem Wasser. Auf die Länge eines halben Zylinders der Sanduhr, die dort auf dem Schrank steht, atmest du den emporsteigenden Duft ein. Weil ich deiner Mutter gut bin, schenk ich dir den Zauber. Du wirst seine Wunderwirkung spüren, solltest du ihrer bedürfen.“ Sprach’s und war verschwunden.
Nora kam kaum hoch von ihrem Stuhl, mit weichen Knien klammerte sie sich an die Lehne, doch Klapaidas befehlende Stimme stützte sie: „Tief durchatmen Mädchen, ganz tief!“ Sie gehorchte, nach einer Weile gelang es ihr sich zu sammeln, hätte gerne gedacht, ein kurzer Albtraum, eine Halluzination, wenn da vor ihr auf dem Tischchen nicht das hölzerne Bündelchen gelegen hätte. Sie betrachtete die Zweige eingehend, dürre Reiser vom Haselnussstrauch, befand sie.
Den Duft aus dem Sud dieser trockenen Hölzer, kochen, einatmen, und ich werde seiner Wunderwirkung teilhaftig. Gut, warum nicht, jedenfalls eins ist klar, das Geraune aus der Gesindestube, die Alte sei eine Hexe, stimmt. Also verberge ich den Zauber sorgfältig bis zu dem Tag, an dem ich ihn vielleicht versuchen möchte.
„Gut so!“ hallte die Hexenstimme, und als ob sie Noras spontanen Widerwillen ob soviel Aufdringlichkeit gespürt hätte, kam noch ein: „Reg dich nicht auf,“ hinterher.
Nora legte die Zauberzweige in die Geheimschublade ihres Sekretärs, zu ihren anderen, aus der Kinder- und Jungmädchenzeit stammenden Andenken. Mein erstes wirkliches Geheimnis, dachte sie, und wieder, wie beinah alles, das sie erinnern konnte, der Mama zu verdanken.
Unten war Wersten mittlerweile begrüsst worden, also hieß es sich zusammenreißen, einen guten Auftritt hinlegen, der Mama eine Freude machen. Nichts konnte sie so freuen wie ein Lob für ihre Kinder, wobei es leichter war, eins für die Mädchen einzuheimsen als für die Jungen.
Diesmal gelangte Nora unangefochten ins Paterre, die Eltern hatten den Gast schon in die Wohnräume geleitet. Nora hörte ihn beim Eintreten zu ihrem Vater sagen:
„Wisst Ihr, Kelm, wie ganz anders es heute hier aussieht als bei meinem Besuch vor vier Jahren?!“ und den Vater antworten:
„Und wie völlig anders seht Ihr aus! Wisst Ihr noch, wie ich Euch hier, in Eurer von Brandlöchern ruinierten Uniform empfing, und Ihr mir eröffnetet, mein Gut sei vorläufig für Eure Truppe requiriert, Widerstand sei zwecklos, gegebenenfalls würde der gebrochen?“
„Hab ich das so böse gesagt?“
„Nein nicht böse, eher charmant, Graf Wersten,“ mischte sich Gräfin Mascha in das Gespräch, „aber nichtsdestoweniger bestimmt.“
„Cest la guerre, meine Gnädigste, aber vergessen wir den und freuen wir uns, dass wir obsiegt haben!“
„Da pflichte ich Euch von ganzem Herzen bei, Oberst. Oh, ich sehe da eine junge Dame zur Tür hereinkommen, deren Bekanntschaft Ihr schon gemacht habt, die sich seitdem jedoch ein wenig verändert hat!“ Mascha blickte zu ihrer eben eintretenden Tochter hin.
Nora ging auf den Gast zu und fragte,
„Kennt Ihr mich noch, Graf Wersten?“
Der führte in etwas übertriebenem Erstaunen, eine Hand zum Mund und rief aus:
„Die kleine Comtess!“ verbesserte sich aber sofort, „Was red ich, Ihr wart einmal die kleine Comtess!“
„Ist sie noch, Graf, nur ein wenig ins Kraut geschossen!“erwiderte Nora.
„Ein gediegenes Kraut gedeiht hier, Comtess, dieses Kompliment mache ich, um es zu runden, auch Euren Eltern.“
„Danke, mein Herr,“ Nora deutete einen kleinen Knicks an, trat zu ihrer Mutter und schlang einen Arm um deren Taille.
Hat genügt zur Einführung, dachte sie, und der sanfte Druck, der von Mascha kam, bestätigte ihre Annahme.
Der Vater wandte sich ihnen zu, und fragte:
„Gestatten die Damen, dass ich unseren Gast herumführe?“ Gerne wurde das gestattet, und die Herren traten nach draußen auf den Hof, der durch das große Viereck der Wirtschaftsgebäude gebildet wurde.
Mutter und Tochter sahen ihnen eine Weile nach, bis sie durch eine der Türen, die zu den Ställen, Scheunen und Werkstätten führten, verschwanden.
„Hast du ihn wiedererkannt, Kind?“
„Sicher, Mama, ich wusste doch wen wir erwarten, jedoch irgendwo in Lyck oder Insterburg, ohne weiteren Anhaltspunkt, nicht auf den ersten Blick. Er hat sich verändert, das Heroische hat sich verflüchtigt. Ich hatte ihn jünger in Erinnerung, jetzt scheint er mir eher in Papa’s Alter zu sein?“
„Da tust du ihm aber Unrecht, er ist nicht älter als fünfunddreissig, und dein Papa wird nächstes Jahr fünfzig.“
„Also siebzehn Jahre älter als ich, wenn du dich nicht täuschst?“
„Richtig, Nora, in meinem Alter. Dein Papa wird nächstes Jahr fünfzig, ist also auch fünfzehn Jahre älter als ich.“
„Warum das auch, Mama,?“
„Wie meinst du das, Kind?“ Mascha sah Nora mit ein wenig hochgezogenen Brauen an. „Wie ich es gesagt habe, wenn du feststellst, Papa sei fünfzehn Jahre älter als du, Wersten siebzehn Jahre älter als ich, und fügst das Wörtchen auch hinzu, so deutet das einen Vergleich zwischen eurer Beziehung, und einer zwischen Graf Wersten und mir an, die es nicht gibt.“
„Heißa, liebe Tochter, da legst du aber Goldschmiedsmaße an. Doch sorg dich nicht, war von mir nur so daher gesagt. Wollte weder andeuten noch anreißen.“
„Ist schon klar, liebe Mama, doch du kennst mich, will alles stimmig haben.“
Klapaida war wieder von Fleisch und Blut, auf dem Wege zu ihrem Häuschen im Erlengrund. Sie schritt kräftig aus, summte vor sich hin. Hübsches Weib, die kleine Nora, schmunzelte sie, fest im Fleisch und hell im Köpfchen. Die wird es schwer haben, da wird der Zauber oft die letzte Lösung sein. Gut, dass ich mich durchgesetzt habe. Wird es der Mascha nicht erzählen, die Kleine, hält sicher dicht, ist so eine.
„Dich durchgesetzt, dass ich nicht lache, geklaut hast du meinen Zauber!“ Von überall her hieb die kreischende Stimme auf Klapaida ein, doch die verdross das nicht im mindesten.
„Halts Maul, ungehobelter Kerl!“ Schrie sie mit ebensolcher Stimme zurück, doch beim genauen Hinhören war noch Gezisch darin, wie von tausend Sägen.Jedoch außer Klapaida und ihrem Widersacher, schien niemand den Höllenlärm zu hören.
Die Amseln flöteten ihre Melodien, und die sonst jedes Ungewöhnliche, mit lautem Schimpfen vermeldenden Eichelhäher, blieben stumm. Die Meisen hingen pickend an den Zweigen, auf der Rinde der Linden und Eichen, turnten kopfüber die Kleiber auf der Suche nach kleinstem Lebendigen.
„Wenn ich erst hier rauskomme, erst einmal hier rauskomme, frei bin, dreh ich dir den Hals hundertmal um, Klapaida, du falsche Hexe,“ brüllte es wieder.
„Nu Jungchen, kreisch nicht so, machst dir die Stimme kapput,“ lachte die Alte Antwort, und das hörte sich an, als ob fauchende Blitze vom Himmel herunterzackten.
„Bald ist Walpurgisnacht, da lass ich dich raus, darfst auf den Blocksberg mit mir bis Sonnenaufgang tanzen und lieben!“
„Ja, ja weiß ich, schrie es zurück, seit Ewigkeiten immer das gleiche! Oooooh Klapaida, hab doch Erbarmen, lass mich frei!“
„Damit du mir den Hals umdrehst? Nein, Kreischer du taugst nicht für die Freiheit. Mach du nur brav weiter Wasser, das ist wohlgefällig. Wird von jeglichem was Durst hat gebraucht. Pflanzen, Getier, den Menschen, Seen und Flüssen, Wolken und Brunnen, dem Meer und den Fischen.“
„Klapaida, das Wasser, mein Elend, meine Tränen, wie lang soll ich leiden, sag doch, wie lang?“
„Frag doch nicht dauernd, wie oft hab ich dir gesagt, auf ewig! Ohne deine Leiden, deine Tränen kein Wasser, ohne Wasser kein Leben. Also jammere nicht, sei dankbar! Erinnere, du Unhold, was war, bevor ich dich zähmte!“
Noch ein paar Schritte und sie war Zuhaus. Die Tür öffnete sich, herrlicher Bratenduft stieg ihr in die Nase. Klapaida freute sich, schön hast du das gemacht, Rumpel, lobte sie und punktgenau gebraten, ich riech es. Sie setzte sich an den Tisch und machte sich mit Behagen über den Braten her, während Rumpel, der nirgends zu sehen war, ihr erzählte, wie er den Frischling gefangen.
Klapaida hörte schon nicht mehr zu. Sie stellte sich vor, was in den Händen von Nora aus ihrem Zauber würde. Würde sie die große Macht des Duftes erkennen? Würde sie erfassen, das Glück wohnte nicht in dem kleinen Bündel, jedoch der Weg zum Glück. Ging es zum Glück hin, konnte sie nicht mehr einschreiten, weder belehrend noch korregierend, da waren ihr die Hände gebunden. Sollte es schief gehen, gab es eine einzige Chance. Sie seufzte und reckte sich. Wie lang währt ein Menschenleben? Nicht lang, Leid oder Unglück leicht zu ertragen, wenn sie Wissende waren, die Menschen. Wenn sie abließen von ihrem verfluchten Aberglauben vom ewigen Leben, erkennen würden: Humbug, Lüge. Auch wir Geister und Hexen lösen uns auf, kommt unsere Stund. Nichts gewesen, weder vorher noch nachher. Klapaida träumte sinnierend. Wer das Nichts findet, hat Gott gefunden.
Rumpel fand sie leise schnarchend am Tisch. Hat einen schweren Tag gehabt, die Chefin, wusste er. Wie lange war es her, dass einem Menschen ein Zauber geschenkt worden war? Er krauste die Stirn, dachte nach, nahm die Finger zur Hilfe, zählte durch.
Zehntausend Jahre, wie die Menschen sie zur Zeit zählten, reichten nicht. War länger her. Weit bevor sie Hütten bauten, hatte Klapaida einmal an einem den Narren gefressen, ihm den Zauber geliehen. Unzählbar lange her, Rumpel setzte sich, nickte ein neben der Alten.
Die indes war unterwegs im Traumwagen auf Traumwegen. War in Noras Gestalt in deren Zukunft geschlüpft, war unterwegs dahin, wo hinzukommen war mit dem Zauber. Eilte rastlos durch Jahrzehnte, scheute vor Ähnlichem, verwarf, was sie kannte.
Sah voll Entsetzen die Schrecken der Kriege, konnt nicht fassen, was Menschen sich taten. Weiter nur weiter, Traum suchte sie, nicht Albtraum. Der Wirklichkeit nah, ganz nah, hellwach war sie, als mit einem Mal der Schrecken sich löste, aufstieg wie Nebel, verblasste, die Farbe verlor, verschwand. Da war ihr’s plötzlich wie daheim im Wald, im Erlengrund beim Häuschen. Leib war sie wieder, Hand, Arm, Bein, Fuß und Kopf. Ringsherum Häuser und feste Wege, Kutschen, die ohne Pferde fuhren. Häuser im Bau, Häuser zusammengestürzt, total zerschlagen, auf Wagen ohne Pferde abtransportiert. Durchatmen Klapaida, sammeln, mein Zauber, wusste sie, mein Zauber bewirkt dies. Ein spiegelndes Wasser oder Spiegel brauch ich. Ihr zwar verhasstes, jedoch nötiges Rüstzeug.
In dieser Zeit bleib ich, beschloß sie, werd Nora sein, eine Weile. Trag Rumpel auf, mich zu wecken, sollt er spüren, ich vergess mich.
Vorbei kam ein Riesenwagen, viele Menschen schienen auf sein Erscheinen gewartet zu haben, stiegen ein durch die zischend wie von Geisterhand sich öffnenden Türen. Innen Bänke, Haltestangen und Enge. Dicht gedrängt, eingekeilt wie noch nie, stand sie.
In einen Kasten wurden Zettel geschoben. Sie hielt einen solchen Zettel in der Hand, der Zauber sorgt für mich, freute sie sich. Sie hob den Blick, da war ein Spiegel an der Wand gegenüber, sie sah in Nora‘s Gesicht, Frau Nora‘s. Jahre und Gesicht kannten sich gut. Jetzt sie finden, die Nora, ihr folgen, dorthin, wo sie lebte. Wappnen für das, was kommt, Kinder, Ehemann, Glück oder Unglück?
Traum, Klapaida, Traum. Doch da stand die Frage, wollte nicht weichen. Lebte sie Noras zukünftiges Leben? Das ging nicht, wäre Zerstörung, hätte Nora zur Puppe, zur Hülse gemacht.
Doch jetzt war sie Nora, werde sie zerstören, gibt sie erst seit dem Blick in den Spiegel.
Klapaida stieg aus mit den Anderen. Stand einen Moment an dem Weg, den die Wagen mit dem Schutt der Häuser befuhren. Als einer heranbrauste, sprang sie unter die Räder. Ein Schreckensschrei aus vielen Kehlen. Kreischende Bremsen, hinzuspringende Helfer, wenn auch Hilfe wohl nicht mehr half. Da lag ein Leib unter den Rädern, dann ein Rauch, dann nichts. Der Fahrer rangierte zurück, stieg aus. Da war nichts, er lachte erleichtert. Sie hatten es alle gesehen, war doch vor ihren Augen geschehen. Die Dame stand in der Bahn neben mir, sagte einer, ich erinnere genau ihren Duft, berauschend. Die Menge zerstreute sich, Halluzination, Massensuggestion, solche Worte wurden gesagt.
Nora zog die Bettdecke hoch bis zur Nase. Es war eisig kalt in ihrem Schlafzimmer, der Wind heulte ums Haus. Auf den Fensterscheiben, hatte sich ihr Atem zu exotischen Eisblumenmustern, niedergeschlagen. Sie genoss noch eine kleine Weile, die warme Höhle unter dem dicken Daunenplumeau. Noch einmal die Lider schwer werden lassen, und zwischen Wachen und Schlafen eingekuschelt, die Zeit vergessen.
Morgen würde Oberst Graf Wersten eintreffen, um mit Papa und den anderen Herren, zu jagen. Sie wusste, das Jagen auf Hirsche und Sauen war kein Vorwand für seinen Besuch, aber nicht der einzige Grund.
Die Werstens besitzen im Livländischen ausgedehnte Ländereien, sind seit Jahrhunderten dort ansässig. Im Verlaufe einer bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte, waren der Deutsche Orden, danach die Könige von Polen und Schweden, jetzt der russische Zar in St. Petersburg, ihre Lehnsherren.
Nora war dem Grafen Boris, erstmals als Oberst in russischen Diensten begegnet. Damals half er, die Trümmer der großen Armee Kaiser Napoleons, nach Westen zu treiben.
Wachträumend sah sie ihn vor sich, in seiner zerrissenen, mit Brandlöchern übersäten, hellblauen Uniform, als er sich artig vor ihr, einem eben flügge werdenden Mädchen, mit den Worten verbeugte: „Staunen Sie nur, Comtess, der eigentliche Zweck des Uniformtragens ist der Krieg, nicht der Tanz.“
Sie war zu verwirrt, um zu parieren. Die plötzliche Anwesenheit so vieler Männer, die jedes Zimmer im Haus belegt hatten, und als die nicht ausreichten, bei den Tieren im Stall schliefen, ängstigte sie.
Ihre Eltern bewegten sich mit sanftmütiger Heiterkeit in dem Durcheinander, die Mama lächelnd, während der Papa den fremden Kriegern, jeden Wunsch von den Augen abzulesen suchte.
Nora wußte, Kaiser Napoleon hatte in Rußland die entscheidende Niederlage erfahren, die seinen Träumen von einem Europa unter seiner Vorherrschaft, hoffentlich ein Ende setzte. Papa war den russischen Soldaten von Herzen dankbar, für ihre tapfere Standhaftigkeit, in diesem mörderischen Krieg gegen das Scheusal Bounaparte.
Die Einquartierung war ihr jedoch nicht Wirklichkeit, noch war ihr Leben eher Traum. Sie versuchte sich so unsichtbar wie möglich zu machen, vor allem als sie bemerkte, wie in der Nähe des Grafen Wersten, ihr Herz schneller schlug. Sie konnte sich keinen Reim auf dieses beängstigende, doch selige Gefühl machen, das ein Blick ihr beim Abendessen über den Tisch zugeworfen, auszulöste.
Heute würde sie ihn nach vier Jahren wiedersehen. Ihre Schwärmerei, diese erste Regung des Gefühls für das starke Geschlecht, war verflogen. Doch es war ein Ereignis in der endlosen Ödnis eines ostpreußischen Winters, Gäste zu haben. Die Damen und Herren von den umliegenden Gütern würden kommen, es würde Tanz, Musik und Unterhaltung in Fülle geben.
Nora zwang sich aus dem Schlaf, lauschte in sich hinein, freute sie sich? Sie war beseelt von hochgestimmter Erwartung, nicht Freude. Also raus aus den Federn, es gab noch einiges zu tun. Als erstes war die Garderobenfrage für den Abend, mit Mama abzuklären. Sie wollte mithalten können, bei dieser fröhlichen Zurschaustellung weiblicher Reize, denn alles von Stand was sich bewegen konnte, ob alt oder jung, würde Eindruck zu schinden suchen.
Möglich war, jemand gefiel ihr, oder sie gefiel jemanden, oder beides ergänzte sich und es gab ein gegenseitiges Gefallen? Und dann? Nicht weiter denken, befahl sie sich. Kam nicht oft vor, solcher Zufall, kam fast immer anders, was kein Unglück war. Mama und Papa lebten nicht im Unglück, obwohl, wie sie ahnte, ihre Ehe nach majoratsherrlichem Kalkül geschlossen worden war.
Wie sollte es anders gehen, in dem dünn besiedelten Land? Sie konnte die für sie in Frage kommenden Herren, im fünfzig Meilen Umkreis, an ihren zehn Fingern abzählen.
Da war Graf Wersten als Russe, Baltendeutscher, Herr über sagenhafte Latifundien und Junggeselle, der absolute Exot bei den ins Haus stehenden Ereignissen. Da würde jede Tochter, aus den besagten fünfzig Meilen dabei sein, um diese hochkarätige Erscheinung zu bewundern, wenn möglich zu bezaubern und einzufangen. Das Gerücht ging, seine alte Mutter habe ihm den Schwur abgenommen, nicht ohne Braut und Verlöbnis heimzukehren, auf das sie in Ruhe sterben könne, nachdem sie ihre Hand auf den Scheitel der Auserwählten gelegt, und sie gesegnet habe.
Nora schlug das Oberbett zurück und spürte die Kälte. Da gab’s kein Zögern mehr, mit Schwung die Beine hoch, den Schwung aufnehmend mit einer Rechtsdrehung den Rumpf nach oben federnd, sprang sie aus dem Bett. Schnell in die Puschen und raus ins Ankleidezimmer, wo ein bis zur Decke reichender Kachelofen, aus kunstvoll geformten, mit Szenen aus dem Landleben bemalten Fayencen, wohlige Wärme verströmte.
Der Raum war ein Achteck und hatte vier Türen, drei führten jeweils zu einem Schlafraum, und jede war bemalt. Ihre Tür mit einer im Flug schwirrenden, blau grün schillernden Königslibelle. Die zu Griseldis Zimmer, ihrer kleinen Schwester, zierte ein gelber Zitronenfalter, dessen Antennen zu vibrieren schienen, und auf der zum Zimmer der Mamsell, kauerte eine Haselmaus, eine Nuß zwischen possierlichen Vorderpfötchen, vorsichtig äugend beknabbernd. Die vierte Tür schlicht weiß, die Paneele gold gefaßt, führte ins Treppenhaus. Auf der Treppenhausseite stand in zierlichen Goldbuchstaben: „Mannspersonen, haben nur nach Anmeldung durch eine Weibsperson zutritt!“
Eine Weibsperson, in Gestalt von Gräfin Natascha, Noras Mutter, die Mascha genannt wurde, betrat in dem Augenblick das Ankleidezimmer, als Nora sich an den warmen Kachelofen schmiegte.
„Nora Liebes! Doch bitte nicht gar so verwöhnt, Bewegung! Das Blut in Wallung gebracht, wärmt mehr als deine Kachelofen Umarmung! Du bist eben erst hoch, vermute ich richtig? Also dann, schon über die Garderobe des heutigen Abends nachgedacht? Du nickst, dann lass mal sehen, du freust dich doch auf das Fest?“
„Bestimmt Mama, ich hab mir das durchgeknöpfte Kleid zurechtgelegt, das saphir-blaue, erinnerst du dich? Seit ich es vor zwei Jahren zum ersten Mal trug, hängt es im Schrank. Ich glaube, es steht mir besonders gut!“
„Da bin ich deiner Meinung, Nora, nur, hast du es noch einmal anprobiert seit damals? Bedenke bitte, zwei Jahre sind in deinem Alter eine lange Zeit. Du wirst es nicht bemerkt haben, aber ich sicher, du bist fraulicher geworden, mein Kind, besonders deine Büste hat sich entwickelt.“
„Du fürchtest, da könnte etwas rausrutschen, Mama?“
Gräfin Mascha nickte. „Könnte!“
Nora lachte. Nein, lachen war das nicht, eher ein verschmiztes, verschwörerisches Kichern. Sie ging zum Schrank, griff das Kleid, schwenkte es wie eine Fahne,
„mein schönstes Stück unter all dem Gebretzele“, verkündete sie.
„Ich bin ja einverstanden, Nora, nur zieh es bitte an!“
„Nur überwerfen, Mama, ohne all den Unterschnickschnack?
„Sicher, das genügt, wir wollen feststellen, ob Deine Büste nicht den Rahmen sprengt.“
Nora zog das Nachthemd über den Kopf, und stand nackt vor ihrer Mutter. Die trat näher, versuchte ihre Taille zu umspannen, was ihr nicht ganz gelang. Sie formte die Hände zu Schalen, und schob sie gegen Noras Brüste, die kräftig aber nicht üppig, aus eigener Kraft ihre Stellung hielten.
„Mama, ich bin kein Pferd!“ Unwillig entzog sie sich den kennerischen Vermessungen, und Betastungen ihrer Mutter. Mascha von Kelm pflegte von sich zu sagen, sie sehe durch die Hände. Was ihr am Herzen lag, Mensch oder Tier, wurde im Rahmen des Schicklichen betastet. Sie galt als Autorität auf dem Gebiet der Heilkunst. Nichts konnte sie hindern, während des Sommers mindestens jede Woche mit Klapaida, der Kräuterfrau, als Hexe bei Knechten und Mägden verschrien, auf der Suche nach heilenden Pflanzen, durch die Wälder zu streifen. Klapaida stand bei Gräfin Mascha ganz hoch in Gunst.
Was die Heilkräuter und deren Anwendung angeht, gibt es keine kenntnisreichere Frau, behauptete sie. Streng hielt sie sich an die Vorgaben ihrer Waldfreundin, wenn es um das Wohlergehen der ihr auf Steinfeld Anvertrauten, Mensch oder Tier, ans Heilen oder vorbeugendes Verhindern ging.
„Zieh über“, fast schon ungeduldig nahm sie das Kleid vom Bügel und hielt es Nora hin. „Könnte passen“ nickte sie, während sie die Schlingen über die Knöpfe zog, die das Kleid vom Rücken her zusammenhielten.
Nora drehte sich zum Spiegel. Sie wollte den ersten Blick, auf ihr passendes oder schon nicht mehr passendes, Decollete werfen. Sie atmete tief durch, als sie sah, wie das Kleid ihr eine zweite Haut war, dehnte den Brustkorb übermütig, ließ die Brüste hoch zum Rand des Ausschnittes schwellen, jedoch nicht weiter, als schicklich. Maschas Gesicht erschien hinter ihr im Spiegel, „Perfectement, Mademoiselle Nora“ flüsterte sie, und war bei allem Stolz auf ihre schöne Tochter, ein klein wenig neidisch als sie erkannte, wie einmalig sie ihr Decollete, an Nora vererbt hatte. Gleichzeitig schalt sie sich eine dumme Ziege, das war der Lauf der Zeit, auch Nora würde nicht ewig jung sein. Beschämt ob dieser Dummheit gestand sie:
„Nora, eben war ich eine winzige Sekunde eifersüchtig auf dich. Du bist so absolut hinreißend, dass es mich, wie gesagt, für einen kleinen Moment zum Weibchen machte.“
Nora nahm sie in die Arme,
„Mama, du bist eine so wunderbar schöne Frau, und die ehrlichste Mutter die es gibt! Ich bin so stolz auf dich! Das Kleid trag ich heute Abend?“
„Selbstverständlich, Kind, es ist dir wie auf den Leib geworfen!“
„Aber die Wäsche, Mama? Sollt ich Wäsche darunter tragen, wird, glaube ich, viel von der Perfektion verloren gehen?“
„Nora, das bleibt unter uns! Kein Wort zu Griseldis oder der Mamsell. Ich helfe dir beim An-und Auskleiden und kein Wäschestück wird das Bild zerstören. Auf eins verlass dich, die Herren werden um Fassung ringen!“
„Ganz ohne, Mama, nur das Kleid und ich?“
„Sicher, warum nicht? Sei distanziert, freundlich zwar, aber lass durchscheinen: Ich weiß um meine Erscheinung und ihre Wirkung. Nur wenig Alkohol! Lass dich beschwipsen von den bewundernden Augen der Männer!“
„Und was ist mit den Frauen, Mama?“
„Feindinnen werden sie dir sein, wenn du deine Schönheit bewahrst, ein Leben lang. Damit lässt sich gut leben, Kind, sie werden deine Nähe suchen, um etwas abzukriegen von deinem Glanz!“
„Nun lass gut sein, Mama, nacher werd ich noch zur hochmütigen Gans!“
„Wirst du nicht, Nora, ich werd das nicht ständig wiederholen. Einmal jedoch muss es gesagt werden, es hilft dir, dich zu bewerten. Menschen lassen sich oft unter Wert handeln, weil niemand ihnen die Augen öffnete. Ich lass dich jetzt allein. Häng das Kleid zurück in den Schrank, wie abgesprochen bin ich heute Abend deine Zofe.“
Nora machte ihre Morgentoilette, warf sich ein warmes Hauskleid über, und bezog Posten in der Bibliothek, von wo aus sie die Ankunft der Schlitten mit den Gästen für das heutige Fest, beobachten konnte. Sie klingelte nach einem der Mädchen, und ließ sich ihr Frühstück auf dem kleinen Tisch am Fenster servieren, so hatte sie alles was sich auf Steinfeld zubewegte, im Auge. Hier zwischen den Büchern, verbrachte sie oft ganze Tage lesend und stöbernd, nur unterbrochen vom gemeinsamen Mittag und Abendessen der Familie.
Ankömmlinge beobachten, wirklich Nora, fragte sie sich? All die bekannten Gesichter von Baron X und Gräfin Y, mit den immer gleichen Redensarten. Das leichte Fremdeln der gleichaltrigen Mädchen, die sie zwar zwei, dreimal im Jahr traf, aber nie lang genug, um Freundschaften wachsen zu lassen. Von den Jungs ganz zu schweigen. Gestern noch wilde kleine Tiere, waren sie als Halberwachsene zu verdrucksten Niemanden geworden. Nicht einmal den Blick zu heben, um einem Mädchen in die Augen zu schauen, wagten sie.
Doch was soll’s. Sie war nicht bereit, einen Gedanken an einen Mann zu verschwenden, der einst Partner einer Vernunftsehe sein würde. Noch träumte sie vom Glück oder von dem, was sie für Glück hielt, da kamen Männer vorerst nur als Tanzpartner vor. Geführt von einem guten Tänzer, vergaß sie auf dem Parkett die Zeit, verklang die Musik, war der Tanz zu Ende, wachte sie auf wie aus einem berauschenden Traum.
Sie sah aus dem Fenster auf die endlose, verschneite Ebene. Das gleißende Sonnenlicht, ließ Eis- und Schneekristalle in unzähligen Brechungen funkeln, jeder Schlitten würde lange vor Ankunft auf Steinfeld zu sehen sein.
Erst als kleiner Punkt beim Überschreiten des Horizonts, mit der Zeit größer werdend, in einer Senke verschwindend, wieder auftauchend, um endlich erkannt zu werden als die Dollgies, die Dönbergs, Hilgendorfs, Jablonskis oder wer sonst erwartet wurde.
Nora liebte die Spannung die ihren Puls beschleunigte, bis sie erkannte wessen Schlitten gleich auf Steinfeld eintreffen würde. Bei Onkel Fedja Jablonski war das leicht, da musste sie nicht raten. Von Jablonskis Schlitten flatterten die rot-weiß polnische Fahne auf der linken Herzseite, und eine schwarz-weiß preußische auf der rechten Gesetzesseite. Herzseite, hatte er Nora erklärt, weil ich von Herzen Pole bin, Gesetzesseite, als treuer Untertan des preußischen Königs, den ich nicht liebe, seine penible Verwaltung und Gesetzestreue jedoch hochachte.
Auf Onkel Fedja freute sie sich besonders. Graf Jablonski war ein excellenter, unermüdlicher Tänzer und standfester Trinker, den der Alkohol nicht veränderte und zur Freude der Damen, ein amüsanter Unterhalter beim ausgedehnten Frühstück am nächsten Morgen. Da war er Hahn im Korb, wenn er es vorzog, die Herren ihren Jagdtrieb ohne ihn fröhnen zu lassen.
Nora dehnte sich voll Vorfreude und Vorahnung. Noch strich sie um diese Ahnung wie die Katze um den heißen Brei, war nicht bereit, sich den höher und höher gehenden Schlag ihres Herzens einzugestehen. Nichts als unaufgeklärte Jungmädchen Schwärmerei, ging sie mit sich ins Gericht. Angehimmelt hatte sie ihn damals, es war der Einbruch der Welt in ihre Idylle, und er der Zeremonienmeister dieser Welt. Sie schloß die Augen, und das seit damals unveränderte Bild des Offiziers, in seiner Brandlöcher versehrten Uniform, stand vor ihr. Sie fahndete nach seiner Stimme, doch die Figur blieb stumm, stand da wie ausgestopft und bedeutete ihr rein garnichts. Noch nicht einmal aufgeklärt war sie, als sie ihn erstmals sah. Von nichts eine Ahnung, aber verliebt, so weit kommt das. Sie öffnete die Augen und ließ das glitzernde, schneereflektierte Sonnenlicht sie blenden, bis Tränen kamen.
Aufklärung, ein Seminar an dem teilzunehmen, in der ganzen Provinz sicher nur sie das Glück hatte. Es war Sommer und Mascha hatte sie früh geweckt, um ihr einige Aufträge zu übertragen, die während ihrer Abwesenheit zu erledigen waren. Sie würde bis Spät -abends mit Klapaida in den Kräutern sein, erklärte sie und beugte sich hinunter, um ihre Tochter zum Abschied auf die Stirn zu küssen. Da erst bemerkte sie, dass Nora wie erstarrt in den Kissen lag.
„Was ist dir, Kind?“
„Mama!“ Nora schlug die Bettdecke zurück, und sie begriff.
„Ich bin gleich bei dir, Liebes, Klapaida geht für diesmal allein in die Kräuter.“
Sie kam zurück mit einem Kartenständer, einer aufgerollten Karte und ihrem Kräuterwägelchen, einem kleinen vierrädrigem Karren, den der Wagner für sie gebaut hatte. Vier Räder und drei Etagen voll Keramiktöpfchen und Fläschchen, ein jedes handbeschriftet und mit einer Nummer versehen. Über die Nummer fand sie in ihrem Medizinbuch, die Erläuterung zum Inhalt der Fläschchen und Töpfchen, sowie deren Bestandteile und Wirkungsweise.
Mascha nahm eines der Fläschen, zählte zehn Tropfen in einen kellenförmigen, weissen Porzellanlöffel mit blauen Streublümchenmuster, reichte den Nora und befahl:
„Nase zuhalten und runter.“
Nora schluckte gehorsam, schnappte nach Luft, beschwerte sich aber nicht, über die adstringierende Wirkung der Medizin in ihrem Mund.
„Die Tropfen lindern den Krampfschmerz, erläuterte Mascha, die Krämpfe jedoch müssen sein.“ Mit diesen Worten rückte sie den Ständer zurecht und hängte die Karte auf, doch an Stelle der Umrisse eines Landes oder Kontinents, erschien das Abbild eines weiblichen Torsos, dessen klaffend geöffneter Bauch, die inneren Organe zeigte.
„So sehen wir Frauen von Innen aus, dozierte Mascha, wir werden jetzt über die Funktion der weiblichen Organe sprechen.
Was dir Schmerzen bereitet, fuhr sie fort, ist die Gebärmutter, und sie zeigte auf ein birnenförmiges Organ. Die Gebärmutter ist der Aufenthaltsort des werdenden Menschen, während der Schwangerschaft. Um schwanger zu werden, bedarf es der Befruchtung durch den Mann. Erfolgt diese Befruchtung nicht, stösst die Gebärmutter ein für das Kind vorbereitetes, blutreiches Polster ab. Dies geschieht während der Empfängnisfähigkeit der Frau, einmal im Monat. Die Krämpfe und das Blut aus deiner Scheide sind das Resultat dieser Tätigkeit der Gebärmutter, die auf die gleiche Art bei der Geburt das fertige Kind austreibt.
Hier oben, dieses Paar blütenförmiger Gebilde, sind die Eierstöcke. Sie sind durch je einen Schlauch mit der Gebärmutter verbunden. Durch die Schläuche rechts oder links, wandert das befruchtete oder unbefruchtete Ei in die Gebärmutter.“
Sie nahm eine Tasche und zog eine Art gestrickten Zopf hervor, der mit einem Gürtel verbunden war. Dies ist eine Binde, sie hielt das Ding hoch, schürzte den Rock und befestigte es mit schnellem Griff zwischen ihren Beinen.
„Nimm das, wasche dich, und versorge dich mit der Binde. Wenn die durchgeblutet ist, wirfst du sie in den Eimer, der voll Seifenlauge dort in der Ecke stehen wird. Ich lass uns einen Tee bringen, danach nehmen wir Teil zwei, die Befruchtung, durch.“
In Teil zwei wurde Nora umfassender eingeführt. Teil eins war mehr eine Bedienungsanleitung, bei Teil zwei ging Mascha besonders auf den emotionalen Aspekt der Befruchtung ein. Wie von der weiblichen, so hatte sie ein Rollbild von der männlichen Anatomie.
Die Lektion beanspruchte den ganzen Morgen, aber noch nach Wochen beantwortete Mascha ihrer Tochter manche Frage. Am Ende war Nora klar: Männer und Frauen sind füreinander geschaffen, quasi aus einer Form, was dem Einen fehlt, spendet das Andere, und umgekehrt.
„Sieh dir die jungen Männer an, sieh, wie sie an ihrer erwachenden Männlichkeit leiden," ermahnte Mascha. „Bemerke, wie schwer sie an unserer Doppelmoral tragen, die von uns verlangt, unsere Brüste zur Schau zu stellen, die hervorgerufene Wirkung jedoch ignoriert, so tut als gäbe es die Geschlechtslust nicht."
So einerseits beunruhigt von Ahnungen, andererseits kühl und ihre Chancen kennend, hatte Nora es sich auf ihrem Ausguckposten am Fenster der Bibliothek vor der großen, weißen Weite bequem gemacht, als der erste kleine, schwarze Punkt über dem Horizont auftauchte. Er verschwand, tauchte wieder auf, wurde größer und größer. Sie erkannte, das war kein einzelner Schlitten, das war ein ganzer Tross. Also kein Nachbar und nicht Onkel Fedja, dies war, da gab es nichts zu deuteln, der Gast aus Livland, Graf Wersten. Nora fühlte ihr Herz klopfen und gleichzeitig eine Wut, die auf sie selbst und beileibe nicht den Oberst gerichtet war.
Sie kniff sich mit aller Kraft in den Hintern, dahin, wo niemand den blauen Fleck je sehen würde, ausser Mama, und die würde ihre Erklärung akzeptieren. Als es weh tat, griff sie nochmal nach und drehte das Fleisch, bis der Schmerz einen Augenblick lang unerträglich war. Sie verließ die Bibliothek, rief eines der Mädchen und bat sie der Mama auszurichten, Graf Wersten träfe in einer halben Stunde ein.
Sie ging auf ihr Zimmer, versenkte sich vor dem Schminkspiegel auf dem Toilettentisch in ihr Konterfei, sah sich in die Augen, versuchte durch das helle Grün hindurch, dahin in ihren Kopf zu schauen, wo, wie ihr schien, dass saß, was sie nicht in den Griff bekam.
Ruhe, schnauzte sie sich an, absolute Ruhe, und jetzt das grüne Kleid mit dem kleinen Ausschnitt, das Samtband mit dem Medallion um den Hals, die Frisur hochgesteckt. Sie stellte sich vor den grossen Ankleidespiegel, musterte sich. Das genügt, befand sie.
Von unten hörte sie Türenschlagen und lautes Gelächter, Hochwohlgeboren war eingetroffen, na dann, auf zur Besichtigung.
Sie trat aus dem Zimmer, durchquerte das Oktagon, plötzlich stand Klapaida vor ihr. Nora verschlug es die Sprache. Die Kräuterfrau war noch nie in den Privatgemächern der Familie gewesen. Wenn Mama mit ihr im Hause zu tun hatte, geschah das in der Küche.
Klapaida bemerkte ihre Verwirrung, sprach jedoch kein Wort, sah sie nur an. Stand da, stumm mit schwarzen Blick. Nora wich einen Schritt zurück, Klapaida tat eben diesen Schritt auf sie zu. Dann sagte sie, nein, sie sagte nichts, ihr Gesicht, ihr Mund blieben starr, unbewegt wie eine Maske, doch Nora hörte ihre Stimme, ihre Worte:
„Lass uns auf dein Zimmer gehen, Mädchen“.
Nora wich zurück, öffnete rücklings die Zimmertür, betrat, ohne sich umzuwenden, den Raum. Klapaida folgte in gleichem Abstand.
„Setz dich“ befahl sie und zeigte auf einen Stuhl. Sie selbst blieb stehen, schlug ihren Umhang zurück, kramte in einer augenscheinlich tiefen Tasche ihres Kleides, in die sie ihren Arm bis über den Ellenbogen hinein schob. Zum Vorschein brachte sie ein kaum fingerlanges Holzgebinde, einer Rute ähnlich. Sie hielt das Bündelchen vor den Mund, spuckte dreimal darauf, murmelte Unverständliches. Dann hielt sie Nora die Hölzchen hin. „Da nimm!“ fuhr sie nun mit Stimme sprechend fort: „Am Tag deiner ersten Verliebtheit, kochst du das in sprudelndem Wasser. Auf die Länge eines halben Zylinders der Sanduhr, die dort auf dem Schrank steht, atmest du den emporsteigenden Duft ein. Weil ich deiner Mutter gut bin, schenk ich dir den Zauber. Du wirst seine Wunderwirkung spüren, solltest du ihrer bedürfen.“ Sprach’s und war verschwunden.
Nora kam kaum hoch von ihrem Stuhl, mit weichen Knien klammerte sie sich an die Lehne, doch Klapaidas befehlende Stimme stützte sie: „Tief durchatmen Mädchen, ganz tief!“ Sie gehorchte, nach einer Weile gelang es ihr sich zu sammeln, hätte gerne gedacht, ein kurzer Albtraum, eine Halluzination, wenn da vor ihr auf dem Tischchen nicht das hölzerne Bündelchen gelegen hätte. Sie betrachtete die Zweige eingehend, dürre Reiser vom Haselnussstrauch, befand sie.
Den Duft aus dem Sud dieser trockenen Hölzer, kochen, einatmen, und ich werde seiner Wunderwirkung teilhaftig. Gut, warum nicht, jedenfalls eins ist klar, das Geraune aus der Gesindestube, die Alte sei eine Hexe, stimmt. Also verberge ich den Zauber sorgfältig bis zu dem Tag, an dem ich ihn vielleicht versuchen möchte.
„Gut so!“ hallte die Hexenstimme, und als ob sie Noras spontanen Widerwillen ob soviel Aufdringlichkeit gespürt hätte, kam noch ein: „Reg dich nicht auf,“ hinterher.
Nora legte die Zauberzweige in die Geheimschublade ihres Sekretärs, zu ihren anderen, aus der Kinder- und Jungmädchenzeit stammenden Andenken. Mein erstes wirkliches Geheimnis, dachte sie, und wieder, wie beinah alles, das sie erinnern konnte, der Mama zu verdanken.
Unten war Wersten mittlerweile begrüsst worden, also hieß es sich zusammenreißen, einen guten Auftritt hinlegen, der Mama eine Freude machen. Nichts konnte sie so freuen wie ein Lob für ihre Kinder, wobei es leichter war, eins für die Mädchen einzuheimsen als für die Jungen.
Diesmal gelangte Nora unangefochten ins Paterre, die Eltern hatten den Gast schon in die Wohnräume geleitet. Nora hörte ihn beim Eintreten zu ihrem Vater sagen:
„Wisst Ihr, Kelm, wie ganz anders es heute hier aussieht als bei meinem Besuch vor vier Jahren?!“ und den Vater antworten:
„Und wie völlig anders seht Ihr aus! Wisst Ihr noch, wie ich Euch hier, in Eurer von Brandlöchern ruinierten Uniform empfing, und Ihr mir eröffnetet, mein Gut sei vorläufig für Eure Truppe requiriert, Widerstand sei zwecklos, gegebenenfalls würde der gebrochen?“
„Hab ich das so böse gesagt?“
„Nein nicht böse, eher charmant, Graf Wersten,“ mischte sich Gräfin Mascha in das Gespräch, „aber nichtsdestoweniger bestimmt.“
„Cest la guerre, meine Gnädigste, aber vergessen wir den und freuen wir uns, dass wir obsiegt haben!“
„Da pflichte ich Euch von ganzem Herzen bei, Oberst. Oh, ich sehe da eine junge Dame zur Tür hereinkommen, deren Bekanntschaft Ihr schon gemacht habt, die sich seitdem jedoch ein wenig verändert hat!“ Mascha blickte zu ihrer eben eintretenden Tochter hin.
Nora ging auf den Gast zu und fragte,
„Kennt Ihr mich noch, Graf Wersten?“
Der führte in etwas übertriebenem Erstaunen, eine Hand zum Mund und rief aus:
„Die kleine Comtess!“ verbesserte sich aber sofort, „Was red ich, Ihr wart einmal die kleine Comtess!“
„Ist sie noch, Graf, nur ein wenig ins Kraut geschossen!“erwiderte Nora.
„Ein gediegenes Kraut gedeiht hier, Comtess, dieses Kompliment mache ich, um es zu runden, auch Euren Eltern.“
„Danke, mein Herr,“ Nora deutete einen kleinen Knicks an, trat zu ihrer Mutter und schlang einen Arm um deren Taille.
Hat genügt zur Einführung, dachte sie, und der sanfte Druck, der von Mascha kam, bestätigte ihre Annahme.
Der Vater wandte sich ihnen zu, und fragte:
„Gestatten die Damen, dass ich unseren Gast herumführe?“ Gerne wurde das gestattet, und die Herren traten nach draußen auf den Hof, der durch das große Viereck der Wirtschaftsgebäude gebildet wurde.
Mutter und Tochter sahen ihnen eine Weile nach, bis sie durch eine der Türen, die zu den Ställen, Scheunen und Werkstätten führten, verschwanden.
„Hast du ihn wiedererkannt, Kind?“
„Sicher, Mama, ich wusste doch wen wir erwarten, jedoch irgendwo in Lyck oder Insterburg, ohne weiteren Anhaltspunkt, nicht auf den ersten Blick. Er hat sich verändert, das Heroische hat sich verflüchtigt. Ich hatte ihn jünger in Erinnerung, jetzt scheint er mir eher in Papa’s Alter zu sein?“
„Da tust du ihm aber Unrecht, er ist nicht älter als fünfunddreissig, und dein Papa wird nächstes Jahr fünfzig.“
„Also siebzehn Jahre älter als ich, wenn du dich nicht täuschst?“
„Richtig, Nora, in meinem Alter. Dein Papa wird nächstes Jahr fünfzig, ist also auch fünfzehn Jahre älter als ich.“
„Warum das auch, Mama,?“
„Wie meinst du das, Kind?“ Mascha sah Nora mit ein wenig hochgezogenen Brauen an. „Wie ich es gesagt habe, wenn du feststellst, Papa sei fünfzehn Jahre älter als du, Wersten siebzehn Jahre älter als ich, und fügst das Wörtchen auch hinzu, so deutet das einen Vergleich zwischen eurer Beziehung, und einer zwischen Graf Wersten und mir an, die es nicht gibt.“
„Heißa, liebe Tochter, da legst du aber Goldschmiedsmaße an. Doch sorg dich nicht, war von mir nur so daher gesagt. Wollte weder andeuten noch anreißen.“
„Ist schon klar, liebe Mama, doch du kennst mich, will alles stimmig haben.“
Klapaida war wieder von Fleisch und Blut, auf dem Wege zu ihrem Häuschen im Erlengrund. Sie schritt kräftig aus, summte vor sich hin. Hübsches Weib, die kleine Nora, schmunzelte sie, fest im Fleisch und hell im Köpfchen. Die wird es schwer haben, da wird der Zauber oft die letzte Lösung sein. Gut, dass ich mich durchgesetzt habe. Wird es der Mascha nicht erzählen, die Kleine, hält sicher dicht, ist so eine.
„Dich durchgesetzt, dass ich nicht lache, geklaut hast du meinen Zauber!“ Von überall her hieb die kreischende Stimme auf Klapaida ein, doch die verdross das nicht im mindesten.
„Halts Maul, ungehobelter Kerl!“ Schrie sie mit ebensolcher Stimme zurück, doch beim genauen Hinhören war noch Gezisch darin, wie von tausend Sägen.Jedoch außer Klapaida und ihrem Widersacher, schien niemand den Höllenlärm zu hören.
Die Amseln flöteten ihre Melodien, und die sonst jedes Ungewöhnliche, mit lautem Schimpfen vermeldenden Eichelhäher, blieben stumm. Die Meisen hingen pickend an den Zweigen, auf der Rinde der Linden und Eichen, turnten kopfüber die Kleiber auf der Suche nach kleinstem Lebendigen.
„Wenn ich erst hier rauskomme, erst einmal hier rauskomme, frei bin, dreh ich dir den Hals hundertmal um, Klapaida, du falsche Hexe,“ brüllte es wieder.
„Nu Jungchen, kreisch nicht so, machst dir die Stimme kapput,“ lachte die Alte Antwort, und das hörte sich an, als ob fauchende Blitze vom Himmel herunterzackten.
„Bald ist Walpurgisnacht, da lass ich dich raus, darfst auf den Blocksberg mit mir bis Sonnenaufgang tanzen und lieben!“
„Ja, ja weiß ich, schrie es zurück, seit Ewigkeiten immer das gleiche! Oooooh Klapaida, hab doch Erbarmen, lass mich frei!“
„Damit du mir den Hals umdrehst? Nein, Kreischer du taugst nicht für die Freiheit. Mach du nur brav weiter Wasser, das ist wohlgefällig. Wird von jeglichem was Durst hat gebraucht. Pflanzen, Getier, den Menschen, Seen und Flüssen, Wolken und Brunnen, dem Meer und den Fischen.“
„Klapaida, das Wasser, mein Elend, meine Tränen, wie lang soll ich leiden, sag doch, wie lang?“
„Frag doch nicht dauernd, wie oft hab ich dir gesagt, auf ewig! Ohne deine Leiden, deine Tränen kein Wasser, ohne Wasser kein Leben. Also jammere nicht, sei dankbar! Erinnere, du Unhold, was war, bevor ich dich zähmte!“
Noch ein paar Schritte und sie war Zuhaus. Die Tür öffnete sich, herrlicher Bratenduft stieg ihr in die Nase. Klapaida freute sich, schön hast du das gemacht, Rumpel, lobte sie und punktgenau gebraten, ich riech es. Sie setzte sich an den Tisch und machte sich mit Behagen über den Braten her, während Rumpel, der nirgends zu sehen war, ihr erzählte, wie er den Frischling gefangen.
Klapaida hörte schon nicht mehr zu. Sie stellte sich vor, was in den Händen von Nora aus ihrem Zauber würde. Würde sie die große Macht des Duftes erkennen? Würde sie erfassen, das Glück wohnte nicht in dem kleinen Bündel, jedoch der Weg zum Glück. Ging es zum Glück hin, konnte sie nicht mehr einschreiten, weder belehrend noch korregierend, da waren ihr die Hände gebunden. Sollte es schief gehen, gab es eine einzige Chance. Sie seufzte und reckte sich. Wie lang währt ein Menschenleben? Nicht lang, Leid oder Unglück leicht zu ertragen, wenn sie Wissende waren, die Menschen. Wenn sie abließen von ihrem verfluchten Aberglauben vom ewigen Leben, erkennen würden: Humbug, Lüge. Auch wir Geister und Hexen lösen uns auf, kommt unsere Stund. Nichts gewesen, weder vorher noch nachher. Klapaida träumte sinnierend. Wer das Nichts findet, hat Gott gefunden.
Rumpel fand sie leise schnarchend am Tisch. Hat einen schweren Tag gehabt, die Chefin, wusste er. Wie lange war es her, dass einem Menschen ein Zauber geschenkt worden war? Er krauste die Stirn, dachte nach, nahm die Finger zur Hilfe, zählte durch.
Zehntausend Jahre, wie die Menschen sie zur Zeit zählten, reichten nicht. War länger her. Weit bevor sie Hütten bauten, hatte Klapaida einmal an einem den Narren gefressen, ihm den Zauber geliehen. Unzählbar lange her, Rumpel setzte sich, nickte ein neben der Alten.
Die indes war unterwegs im Traumwagen auf Traumwegen. War in Noras Gestalt in deren Zukunft geschlüpft, war unterwegs dahin, wo hinzukommen war mit dem Zauber. Eilte rastlos durch Jahrzehnte, scheute vor Ähnlichem, verwarf, was sie kannte.
Sah voll Entsetzen die Schrecken der Kriege, konnt nicht fassen, was Menschen sich taten. Weiter nur weiter, Traum suchte sie, nicht Albtraum. Der Wirklichkeit nah, ganz nah, hellwach war sie, als mit einem Mal der Schrecken sich löste, aufstieg wie Nebel, verblasste, die Farbe verlor, verschwand. Da war ihr’s plötzlich wie daheim im Wald, im Erlengrund beim Häuschen. Leib war sie wieder, Hand, Arm, Bein, Fuß und Kopf. Ringsherum Häuser und feste Wege, Kutschen, die ohne Pferde fuhren. Häuser im Bau, Häuser zusammengestürzt, total zerschlagen, auf Wagen ohne Pferde abtransportiert. Durchatmen Klapaida, sammeln, mein Zauber, wusste sie, mein Zauber bewirkt dies. Ein spiegelndes Wasser oder Spiegel brauch ich. Ihr zwar verhasstes, jedoch nötiges Rüstzeug.
In dieser Zeit bleib ich, beschloß sie, werd Nora sein, eine Weile. Trag Rumpel auf, mich zu wecken, sollt er spüren, ich vergess mich.
Vorbei kam ein Riesenwagen, viele Menschen schienen auf sein Erscheinen gewartet zu haben, stiegen ein durch die zischend wie von Geisterhand sich öffnenden Türen. Innen Bänke, Haltestangen und Enge. Dicht gedrängt, eingekeilt wie noch nie, stand sie.
In einen Kasten wurden Zettel geschoben. Sie hielt einen solchen Zettel in der Hand, der Zauber sorgt für mich, freute sie sich. Sie hob den Blick, da war ein Spiegel an der Wand gegenüber, sie sah in Nora‘s Gesicht, Frau Nora‘s. Jahre und Gesicht kannten sich gut. Jetzt sie finden, die Nora, ihr folgen, dorthin, wo sie lebte. Wappnen für das, was kommt, Kinder, Ehemann, Glück oder Unglück?
Traum, Klapaida, Traum. Doch da stand die Frage, wollte nicht weichen. Lebte sie Noras zukünftiges Leben? Das ging nicht, wäre Zerstörung, hätte Nora zur Puppe, zur Hülse gemacht.
Doch jetzt war sie Nora, werde sie zerstören, gibt sie erst seit dem Blick in den Spiegel.
Klapaida stieg aus mit den Anderen. Stand einen Moment an dem Weg, den die Wagen mit dem Schutt der Häuser befuhren. Als einer heranbrauste, sprang sie unter die Räder. Ein Schreckensschrei aus vielen Kehlen. Kreischende Bremsen, hinzuspringende Helfer, wenn auch Hilfe wohl nicht mehr half. Da lag ein Leib unter den Rädern, dann ein Rauch, dann nichts. Der Fahrer rangierte zurück, stieg aus. Da war nichts, er lachte erleichtert. Sie hatten es alle gesehen, war doch vor ihren Augen geschehen. Die Dame stand in der Bahn neben mir, sagte einer, ich erinnere genau ihren Duft, berauschend. Die Menge zerstreute sich, Halluzination, Massensuggestion, solche Worte wurden gesagt.