Graf Bern rannte den Trägern entgegen, die durch die Diele gepoltert kamen.
„Abstellen!“ befahl er und beugte sich über den Verletzten, kniff ihn leicht in die Wange. „Ohnmächtig,“ befand er. „Mascha! Bitte veranlasst, dass er nackt ausgezogen wird. Ihr berührt ihn nicht, seid gewaschen! Schnell, schnell! Er spürt nichts, solange er ohnmächtig ist. Gut, das ging schnell, die Hose aufschneiden, auch die Unterhose, weg mit dem Lappen. Zier sie sich nicht! Auf den Tisch mit ihm, dann alle raus, bis auf Mascha und die Kerzenwache!"
Er untersuchte die Wunde. „Hat ihn hoch am Oberschenkel erwischt, den großen Muskel abgeschält, haarscharf an seiner Männlichkeit vorbei, Glück im Unglück! Ich anästhesiere, er wird den Eingriff nicht spüren. Mascha, habt ständig acht auf sein Gesicht. Er muss völlig entspannt bleiben, bei der kleinsten Grimasse spritze ich ein Narkotikum nach. Also gut beobachten. Ich säubere jetzt die Wunde und das Operationsfeld. Später nähe ich den Muskel mit den Sehnen zusammen. Wird zwei, drei Stunden dauern. Mit einem Auge mich beobachten, sobald Blut fließt, sag ich Tupfer, dann mit den Bäuschen dort, das Blut aus der Wunde tupfen. Ich muss viel trinken, mir bitte einige Kannen Wasser hinstellen, Schweiß wird rinnen, den Wasserverlust gilt es zu ersetzen.“
Die Operation verlief ohne Komplikation, einmal sagte Mascha: „Er rührt sich," und folgte ohne Zagen des Doctors Anweisung, eine bereitliegende Spritze zu applizieren.
„Tüchtig Mascha,“ lobte Bern. Nach gut zwei Stunden, im Zimmer war es von den brennenden Kerzen unerträglich heiß geworden, war es geschafft. Die letzte Naht war gelegt, nun galt es einen Verband anzulegen.
„Was, Mascha, würdet Ihr gegen den Wundbrand einsetzen?“
„Doctor, auf die Naht, legte Klapaida den Giest. Giest ist ein Gebräu aus verschiedenen Kräutern, die das Wundfieber zuverlässig verhindern. Gewechselt wird morgens und abends. Dazu gibt es einen Tee, der den Blutumlauf stützt. Was in dem Giest drin ist habe ich sorgfältig notiert, auch die Teekräuter sind aufgezeichnet. Der Tee lindert zudem den Schmerz und fördert den Schlaf.“
„Machen wir so. Ich überlass Euch den Mann. Verfahrt wie gewohnt. Ich bin schrecklich müde, habe zwanzig Stunden auf dem Buckel, ein oder zwei Glas Wein und dann schlafen. Lasst Wersten hier, ich werde mich neben ihn legen. Nein Unfug, ich würde nicht wach, brauchte er mich. Gebt mir ein anderes Zimmer, er muss eine Nachtwache bekommen. Sollte er sich rühren oder sonst wie unruhig werden, ruft mich.“
Mascha versorgte Boris, wie sie es bei Klapaida abgesehen hatte, bedeckte Naht und Oberschenkel, soweit die Schwellung reichte, dick mit Giest. Das Ganze umwickelte sie mit einem lockeren Verband, sollte genügen den Brand zu verhindern, des war sie sicher.
Als sie fertig war, fiel ihr Blick auf die Instrumente, die der Doctor in einen Eimer mit Wasser geworfen hatte, mit der Bitte, sie in der Küche vor sich hinköcheln zu lassen, bis er sie morgen einräumen würde. Sie nahm eine der mattschimmernden Zangen in die Hand und war erstaunt, wie leicht und exakt verarbeitet die war, fast wie ein Schmuckstück, fand sie.
Wir sind doch ziemlich hinter dem Mond in unserem Masuren, wenn man anderswo Dinge herstellen konnte, von deren Existenz und Funktion, wir nicht einmal ahnen. Auch die Spritze, die sie selbst in Boris hineingestochen, dann durch Druck auf das obere Ende in in hinein entleert hatte, um ihm den Schmerz zu nehmen, unglaublich war das. Der Doctor schnitt, zog, zerrte, nähte, und der Patient rührte sich nicht Sie dachte an die vor rasendem Schmerz tobenden Menschen, denen man, was bei Wundbrand oder Unfällen oft vorkam, ein Bein oder einen Arm amputieren musste.
Sie war gespannt, was Klapaida dazu sagen würde. Es war nicht allein die Schmerzlosigkeit der Behandlung, auch die Instrumente, sowie die unglaubliche Geschicklickeit, mit der der Doctor die benutzt hatte, beeindruckten Mascha zutiefst. Ohne diesen erstaunlich fähigen Medicus, läge Boris jetzt amputiert und vor Schmerz delirierend auf dem Bett.
Je nun, es gibt vieles auf Gottes Erde, wovon wir nichts wissen. Tröstlich war, so schrecklich weit vom Zentrum der Welt, müssen wir uns nicht mehr fühlen, wenn ein so außerordentlicher Heiler sich in Lyck niederlassen würde. Sie hörte die Uhr elf schlagen, meine Nachtwache wird Nora übernehmen beschloss sie. Als sie im Begriff war sie zu wecken, trat sie ins Krankenzimmer.
„Mama! Ablösung, du hast für heute genug getan. Schluss jetzt, ich achte auf Boris. Gibt es Instruktionen?“
„Nein, nur sollte er wirklich unruhig werden, den Doctor wecken.“
„Ist ja ausserordentlich, Mama, er hat nicht amputiert. Ich saß bei Papa, als der Doctor nach vollbrachtem Werk in die Bibliothek kam, um schnellstens zwei Glas Rotspon in sich hineinzuschütten. Schade um den Wein, bedauerte er, zu schade um sich nur damit zu betäuben. Ein interessanter Mann, er strahlt etwas aus, ich kann es nicht definieren. Jedenfalls Angenehmes, als kenne man ihn schon lange.
Papa fragte sofort, wie hoch er amputiert habe, und ob weitere Verletzungen zu versorgen gewesen seien. Die Antwort, das Bein sei noch dran, in längstens einem Monat, wenn auch behutsam, benutzbar, ließ Papa den Doctor mit offenem Mund anstarren.
Noch dran? Das zerfleichte Ding noch dran? Wie, wie ging das zu?
Bern, der sein zweites Glas eben hintergekippt hatte, antwortete lachend: Sollt ich Euch das erklären, brauchtet ihr einige Jahre Medizinstudium, nebst ausreichender Praxis im täglichen Einsatz. Aber Scherz beiseite, sein Bein ist gerettet. Vor allem dem Umstand zu verdanken, dass Hilfe so zeitig geleistet werden konnte. Zwei Stunden längeres Liegen, ohne antiseptische Versorgung, mit dieser gewaltigen Fleischwunde, hätte ihn das Leben gekostet.
So hab ich Papa noch nie erlebt, Mama. Er stand auf, zog Bernhard, so nannte er ihn, aus seinem Sessel hoch und umarmte ihn, falsch, er drückte ihn, drückte, bis es dem Doctor den Atem nahm. Als er von ihm abließ, liefen ihm die Freudentränen über die Wangen. Ich möchte niederknien vor dir, Bernhard, einfach niederknien, wiederholte er ein um das andere Mal. Bernhard versuchte beschwichtigend, sein Handeln als alltäglich hinzustellen. Graf Kelm, versteht doch, es ist mein Beruf...Nix da Graf Kelm, fiel ihm Papa ins Wort, ich bin Claus, meine Frau die Mascha, und meine Tochter die Nora, für dich unseren Wohltäter.
Bernhard, Boris gerettet, nicht nur das, zweibeinig geblieben, der mir teure Freund. Das ist mehr als er und ich, dir im Leben vergelten können. Bernhard, der sich ob des unerwarteten Gefühlsausbruchs, ein drittes Glas eingeschüttet hatte, entgegnete ein wenig beschämt und hilflos ob der Ovation: Dann möchte ich doch bitte Bernd, und nicht Bernhard genannt werden.
„Da hab ich wohl einiges versäumt, Nora?“
„Ach Mama, ich glaube, du kennst Papa in Situationen, wo ihn das Gefühl überwältigt, für mich aber war es neu und angenehm, ihn so offen und dankbar zu erleben.“
„Er ist ein guter Mensch, Nora. Es stimmt, was mit dieser Operation auf Steinfeld geschehen ist, sprengt den Rahmen, ist, nein war, bislang unvorstellbar. Fraglos wäre Boris uns mit dieser Wunde unter den Händen gestorben. Ich leg mich, Liebes, setz dich in den großen Sessel, die Beine hoch und versuch zu schlafen. Du schläfst leicht, wirst sicher hören, wenn Boris sich regt oder sonstiges Bedürfnis hat. Gute Nacht.“
Nora rutschte sich zurecht, legte, wie Mascha empfohlen, die Beine hoch, zog den Plaid bis zum Hals, kontrollierte mit einem Blick die einzige, noch im Raum brennende Kerze, und schloss die Augen. Schlafen wollte sie noch nicht, eher summieren, aufrechnen, sich Rechenschaft geben. Sie war nicht im Reinen mit sich. Dass Boris so furchbar verletzt worden war, hatte sie merkwürdig kalt gelassen. Ja, gestand sie sich, befreit hatte sie sich gefühlt. Sie musste ihm nun keinen, für die Eltern mit schwierigen Erklärungen verbundenen, Korb geben. Da Hoffnung auf seine völlige Genesung bestand, also kein schlechtes Gewissen, ihrer Mitleidlosigkeit wegen.
Nur, meine Liebe, hier weichst du dir aus, nahm sie sich an die Kandarre. Ist etwas zu seicht, dieses rettende Wasser. Boris als Bewerber um deine Hand, war bis zu Sonjas locker skizzierten Szenen aus künftigem Eheleben, nicht hochwillkommen aber willkommen.
Jede Ehe, wusste sie, war mit Nachwuchs verbunden, ja Nachwuchs zu gebären ihr eigentlicher Zweck. Die Liebe, wie sie heutzutage gesehen wurde, und erlebt werden wollte, kannte Mama nicht, als sie heiratete. Hatte damals nicht den Werther gelesen. Ich hörte von der Schrift, bemerkte sie. Zu meiner Zeit wurden Ergüsse dieser Art, nicht in Lebensentscheidungen einbezogen. Jedenfalls nicht bei uns preußischen Krautjunkern.
Wenn du, liebes Töchterchen, Gefühle hegen willst, werde ich dich nicht hindern. Nur merke, Gefühle sind höchst anspruchsvoll. Einmal gezüchtet, hoch empfindlich. Der kleinste Eishauch, kann für ein Gefühl tödlich sein. Das vertrackte ist, Leben geht nicht ohne Eishauch, und wie den defininieren? Was du als kalt empfindest, mag für den Anderen ein laues Lüftchen sein, und vice versa. Mit Gefühl sperrst du dich in einen Käfig, dessen Gitter du nicht siehst. Erst wenn du dir den Kopf angestoßen hast, erkennst du wo du bist.
Mochte Recht haben, die Mama, hatten es ja gut getroffen miteinander, die Mascha und der Claus. Verstanden sich ohne Worte, dazu kam, Mascha’s Mitgift wog den Wert von Steinfeld auf. Waren jederzeit ebenbürtig, die zwei. Und ich? Meine beachtliche Mitgift ist verglichen mit Boris’ Liegenschaften Taschengeld. Dazu das fremde Land. Außer Boris und seiner alten Mutter, spricht kaum jemand deutsch. In dem Teil Livlands ist lettisch Umgangssprache, wäre zu erlernen, genau wie russisch. Nur fremd würde das Land, der ständig mit einem Kind unter dem Herzen beglückten oder beschwerten, Deutschen bleiben.
Sie fühlte, wie der Schlaf sie in den Arm nahm. War wunderschön, einzuschlafen hier auf Steinfeld, ohne ein Leben in fremdem Land im Nacken.
Am nächsten Morgen, ging es dem Patienten gut. Bernd war als erster an seinem Bett, Nora wurde wach, als er ins Zimmer trat. Er legte einen Finger an die Lippen, ihr zu Schweigen signalisierend. Er fühlte Boris Puls, nickte zufrieden.
Nora sah ihn fragend an, er wies auf die Tür, und sie schlichen auf Zehen hinaus.
„Nora, er hat kein Fieber und sein Puls schlägt gleichmässig. Ein Patient, wie ihn der Arzt liebt, ausgestattet mit einer Bärennatur. Du brauchst nicht länger bei ihm zu bleiben, ich werde stündlich nach ihm sehen. Sag Mascha, ich möchte gegen Mittag den Verband wechseln. Bin hochgespannt wie der Giest gewirkt hat. Das heißt, ich weiß, dass er gewirkt hat, das zeigt Werstens Zustand. Mich interessiert, wie Wunde und Schwellungen sich entwickelt haben. Nora, ich darf doch Nora sagen?“
„Gern, es macht die Unterhaltung so einfach, Bernd, wenn ich Bernd sagen darf.“
„Ganz sicher darfst du. Ich kann jetzt schon sagen, ihr Krautjunker, wie ihr bei uns im westlichsten Preußen genannt werdet, seid herrlich unkompliziert. Möchte gern einen der Naserümpfer hier haben, die die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, als sie erfuhren ich ginge ins östlichste Preußen. Da gibt es nur Wölfe und Bären, wurde ich verspottet, die Bewohner seien kaum der Sprache mächtig, die Knechte und Mägde hätten es nur zu Bellen und Fauchen gebracht.“
„Und das hat dich nicht abgehalten, hierher zu kommen, Bernd? Ich bin schon neugierig, was einen im Westen sicher hochgeachteten Doctor veranlasst hat, sich zu uns in die Wildnis verschlagen zu lassen? Die Liebe? Gibt es eine Dame, die deiner voll Sehnsucht harrt?“
„Ich weiß die Liebe in all ihren Erscheinungsformen zu schätzen, Nora. Doch ganz ehrlich, die einzigen Damen die ich hier kenne, seid ihr, du und deine Mama.
Zugegeben, ich verließ Cleve gern, es zog mich etwas nach Masuren. Ein nicht auslotbares Sehnen, ein nie empfundenes Wollen, ließ mich beinah überstürzt das Stadtmedicusamt von Lyck annehmen.
Das Verrückte ist, ich kannte zwar die Grenzen Preußens, aber Masuren innerhalb dieser Grenzen war mir kein Begriff, hörte zum ersten Male davon bei der Beschreibung des Lycker Amtes.“
„Bernd, bevor ich es vergesse, Mama war vor zwei Stunden bei mir, hat mir aufgetragen auszurichten, sie stehe erst gegen Spätmittag zur Verfügung. Klapaida, die Kräuterfrau, ist plötzlich ohne Verabredung aufgetaucht, hat Mama dringend gebeten, mit ihr in die Kräuter zu gehen.“
„In die Kräuter, heißt das in den Wald, wo das Keilerungeheuer sein Unwesen treibt?“
„Ich glaub schon, Bernd. Doch zu befürchten ist nichts, solange Klapaida, die alte Hexe, bei ihr ist.“
„In übler Nachrede, unterscheidet ihr euch im Osten, in nichts vom Westen. Auch bei uns werden Frauen die helfen, seien es Hebammen oder kräuterkundigen Heilerinnen, als Hexen diffamiert. Heutzutage lacht man darüber, aber vor hundert Jahren konnte das mancherorts brandgefährlich sein, in des Wortes wahrster Bedeutung!“
„Bernd, ich meine das nicht bös, Mama würd mir ein Ohr abreißen, hörte sie mich so von der Alten reden, aber du hast Klapaida noch nicht gesehen, erschrecklich!“
„Eben, Nora, weil sie ihr Leben im Freien zugebracht hat, bei Wind und Wetter auf der Suche nach dem Seltenen, das Heilung bringt. Es bedarf langer Erfahrung, um unter all dem Grün, das Besondere herauszufinden. Lange Erfahrung wächst in langen Jahren, Menschen die sie erwarben, sind zwangsläufig alte Menschen, sich ihres Äußeren gar nicht bewusst. Keine Ballprinzessinnen, wie die schöne Nora von Kelm.“
„Danke für das Kompliment, Bernd, aber eine Ballprinzessin bin ich nicht, dafür gibt es auf Steinfeld nicht genug zu tanzen. Obwohl, getanzt wird schon. Erst vorige Woche hab ich ein Paar Ballschuhe durchgetanzt. Wärst du eher gekommen, hättest du teilnehmen können, sofern du tanzt. Das tust du doch hoffentlich?“
„Darauf verlass dich, kleine Schönheit, der Doctor tanzt gut und gern!“
„Fabelhaft! Für eine kleine Veranstaltung, sähe ich bald einen Anlass. Sollte Boris Wersten wieder zweibeinig werden, wär das ein Grund zu feiern. Ein Hauptgrund, von Papa kein Widerstand zu erwarten. Mach ihn nur recht schnell gesund, und ich fliege in deinem Arm über das Parkett.“
„Nora, was ich tun konnte, hab ich getan. Der Rest liegt beim lieben Gott und deiner in Anführungszeichen, Kräuterhexe. Doch ich bin allerbester Hoffnung, Wersten hat eine starke Natur.“
Klapaida
Klapaida stürmte mit langen Schritten, vor Mascha her durch den Wald. Es ist meine Schuld, es kann noch mehr geschehen! Ich muss Einhalt gebieten, hämmerte sie sich ein, seit sie Mascha in aller Frühe ohne weitere Erklärung gebeten hatte mit ihr zu kommen.
Sie wollte Rogar erklären was geschehen war. Ihm Mascha zeigen, ihn ihr Blut riechen lassen, das Noras Blut war. Nora, die den Zeitriss verursacht, der jetzt unbedingt verschlossen werden sollte. Rogar würde wüten, war ihr klar, zu Recht wüten, sah sein Regime verletzt. Sein erstes Opfer, Graf Wersten, unschuldig wie alle weiteren, an denen er sein Mütchen kühlen würde, sollte er nicht versöhnt werden können.
Sie kamen an die Lichtung, wo der Keiler Wersten mit seinen riesigen Hauern, das Bein mit einem einzigen Schlag zerrissen hatte. Klapaida fand den Blut getränkten Fleck sofort. Sie warf sich bäuchlings darüber, befahl Mascha sich neben sie zu hocken, reglos und stumm zu verharren, gleich was geschähe.
Eine Weile geschah nichts, dann gab es ein Brechen und Schnauben, in der Dickung. Mascha glaubte schier zu ersticken, von dem dicken Schweinsgeruch, der herüberwehte. Bald jedoch galt es allen Mut zusammenzuraffen. Aus dem Unterholz schob sich zuerst der grauschwarze Kopf, dann der gewaltige Rumpf eines Keilers, groß wie ein Pferd. Sein Gestank verschlug ihr den Atem, sie fühlte eine Ohnmacht nahen, die nur äusserste Willensanstrengung, in Schach halten konnte.
Das Tier sicherte nach allen Seiten, riss den Boden mit seinen an blanke Säbel gemahnenden Hauern auf, stemmte Wurzeln heraus, zerkaute die genüßlich, wobei ihm der weiße Geifer aus dem Maul flockte. Plötzlich gefror das Biest zum Bild, ein grollendes Grunzen kollerte aus seiner Brust, von einem Moment zum anderen war es nur noch Bewegung, rannte schnurstraks auf die zwei Figuren zu, die es gewagt hatten sein Revier zu verletzen.
Mascha erstarrte. Die Panik, die sie erfaßte, machte sie denk- und bewegungsunfähig. Der Keiler verharrte vor ihr und der reglos am Boden liegenden Klapaida. Die runde, tellergroße Nasenscheibe, stieß schnuppernd ohne die Haut zu berühren, gegen Maschas Gesicht vor. Sie sah den Rüssel sich riechend runzeln, beim geräuschvollen Schmecken der Luft. Dann schien es, als ob das Ungeheuer die am Boden liegende Gestalt erkannte, der gewaltige Körper fuhr herum, der seitwärts gedrehte Kopf, ließ die schrecklichen Säbelzähne sehen, als er wie ein Blitz auf Klapaida niederfuhr.
Als Mascha erwachte, lag sie auf nämlicher Lichtung, den Kopf in Klapaidas Schoß gebettet.
„Nur Ruhe, hast dich erschreckt, es ist vorbei, Mascha," flüsterte Klapaida. „Hab keine Angst mehr vorm schrecklichen Keiler, es ist vorbei." Klapaida massierte ihr zärtlich die Schläfen, flüsterte beruhigend, keine Angst vor dem Keiler, nur Ruhe Mascha, Ruhe.“
Es dauerte eine Weile, bis Mascha fühlte, die Beine würden sie wieder tragen. Auf dem Weg nach Hause erzählte ihr Klapaida, sie seien auf den verendeten, verwesenden Keiler gestossen, dessen widerlicher Gestank und Anblick sie, Mascha, in eine Ohnmacht hätte fallen lassen.
Auch sie, habe noch nie, ein so riesiges Schwein gesehen, sei vor Schreck hingestürzt, wie Mascha sich sicher erinnere. Mascha schüttelte den Kopf, versuchte, ihre Erinnerung, die so anders war, vorzubringen, als aus dem blauen, wolkenlosen Winterhimmel ein Blitz, keine zwanzig Fuß entfernt, begleitet von einem gewaltig rollenden Donner, in eine Eiche schlug. Klapaida riss Mascha zu Boden, und raunte während sie da lagen: „Mascha: Vergiss! Vergiss! Vergiss!“
Als sie sich wieder aufrappelten, staunten sie beide den brennenden Baum an. „Das war dicht bei uns, Kräuterfreundin,“ Mascha zog die Luft durch die Zähne, „für heute hab ich genug. Die gestrige Nacht steckt mir noch in den Knochen, fühle mich wie durch ein Räderwerk gedreht.“
Auf Steinfeld erwartete sie frohe Botschaft.
„Wir haben den Keiler, der Graf Wersten attackierte, gefunden," erklärte der Stallmeister stolz. „Der hat eine Kugel abgekriegt, und lag verendet in der Dickung. Hätten wir sofort weitergesucht, ihn aufgebrochen, gäbs jetzt jede Menge Fleisch. So aber ist er verdorben, haben ihn vergraben."
Klapaida freute die Botschaft, sie suchte Maschas Blick, hielt ihn länger als einen Augenblick, bis Mascha die Achseln hob, Klapaida ein wenig halbherzig in den Arm nahm, sie aber dann fest an ihr Herz drückte. „War ein Tick zu heftig," flüsterte sie ihr ins Ohr, „vergessen wir es."
Als Klapaida sich verabschiedete, mahnte sie: „Ein Kräutchen, der Nummer zwölf aus deiner Apotheke, mit genug Wasser verdünnt trinken, und ein tiefer Schlaf richten dich auf.“
Mascha nickte, sie fühlte sich wie noch nie, am Ende ihrer Kraft. Als sie durch die Diele ging, traf sie auf Nora, die, als sie ihr ins Gesicht sah, zu Tode erschrack. „ Mama, was ist dir,“ fragte sie, aber Mascha konnte nur noch flüstern, „Bett und Kraut zwölf mit Wasser verdünnt" bevor sie umsank.
Schnell wurde die Ohnmächtige in ihr Bett gebracht. Nora lief den Doctor suchen. „Gebt ihr Kraut zwölf mit viel Wasser, flößt es ihr ein, sie wird es schlucken," ordnete sie schon im Laufen an. Die Mamsell kam aus der Küche herbeigeeilt, würde sich routiniert um ihre Herrin kümmern.
Nora fand den Doctor beim Vater, der ihm den Zuchtplan des werdenden Gestüts erklärte. Sie berichtete schnell, was vorgefallen.
„Ohnmacht? Kommt das öfter vor?“ fragte Bernd.
„Nicht, dass es mir bekannt wäre,“ erklärte Claus Kelm bestürzt.
Nora unterrichtete, von der mit Wasser vermischten Kräutergabe.
Bernd nickte: „Wenn Klapaida das angeordnet hat, wird es seine Richtigkeit haben. Bevor ich sie nicht angesehen habe, kann ich nichts sagen."
Mascha lag bleich, flach atmend auf dem Bett. Bernd fühlte ihr den Puls: „Schwach, aber sonst nicht ungewöhnlich. Meine Diagnose: Körperliche und seelische Überanstrengung. Gibt es eine Aufzählung der Bestandteile von Kraut zwölf?“
Nora schlug eine von Hand geheftete Kladde auf, blätterte, und zeigte ihm die Auflistung.
Bernd überflog die Kräuternamen, die dahinter geschriebenen Gaben, die in die Mischung zwölf eingeflossen waren.
„Hätte ich nicht besser machen können, wenn ich es denn so gut gekonnt hätte,“ sagte er und gab Nora die Kladde zurück. „Die Damen sind wahrhafte Naturapothekerinnen. Lockert Mascha die Kleider wo sie schnüren, zieht sie nicht aus, einfach leise sein, sie ruhen lassen. Mit etwas Glück ist sie bald wohlauf."
Claus Kelm, der sich im Hintergrund gehalten hatte, atmete tief durch. Bernd sah ihn an.
„Bisschen viel, Claus, die letzten Stunden? Auch dir möchte ich raten, langsam angehen lassen. Wir täten uns alle einen Gefallen, ließen wir die Seele ein wenig baumeln. Nicht schlafen, einfach abschalten tät sicher gut.“
„Die Seele baumeln lassen und abschalten, hört sich kurios an, hab ich noch nie gehört. Obwohl, eingängig ist es. Ich werde deinem Rat folgen und die Seele baumeln lassen. Wenn das der Pastor hört, wird er brummig. Seele, meint er, ist ganz sein Ressort.“
„Womit er sicher auf dem richtigen Dampfer ist, Claus. Solange sich die Seelenhirten um die Seelen der ihnen anvertrauten Gottesschafe kümmerten, brauchte es keine Psychiater.“
„Bernd, man erkennt, du kommst aus dem hochedukierten Westen. Worte benutzt du, die hat hier noch niemand ausgesprochen, geschweige gekannt oder von gehört. Abschalten, Dampfer? Wie kommt der Pastor auf einen Dampfer. Psychiater? Hört sich nach Psyche, ergo Seele, also doch Pastor, an. Ha ha, werde den hochwürdigsten Herrn nächstens Psychiater rufen. Nur Dampfer und abschalten, hab ich doch richtig gehört?, musst mir erklären, hat Zeit, erst mal die Psyche alias Seele baumeln lassen, baumeln wie ein Strauchdieb, am nächsten starken Ast.“
Bernd sah nach Wersten, öffnete nochmal den Verband, um wiederum verblüfft festzustellen, wie wohl der aufgelegte Giest der Wunde tat. Die Wundschwellung war nur leicht gerötet, an den Nähten keine Spannung. Geht das so weiter, ist er wirklich in zwei Wochen gehfähig, freute er sich. Boris, dem er ein leichtes Schlafmittel gespritzt hatte, schlief tief und fest. Bernd reckte sich zufrieden. War seiner Etablierung im fernen Osten ausserordentlich zuträglich, die spektakuläre Operation, danach die schnelle, problemlose Genesung, des hochangesehenen Gastes der Kelms.
Klapaida
Bernd legte sich auf das niedrige Sofa, auf dem Nora über Boris gewacht hatte. Sein Patient schlief fest, also dachte er an Ruhe und eine Mütze Schlaf und schwebte schon hinüber, in einen angenehmen Traum.
Am Anfang war da Nora die seine Hand nahm, ihn an einen Teich voll schnatternder Enten führte, die sie mit Brotbrocken aus ihrer hochgeschlagenen Schürze fütterte. Sie standen dicht beieinander in der hellen, schon ein wenig wärmenden Sonne, an dem zugefrorenen Weiher und schwiegen. Warum schweigen wir, fragte sich Bernd, schweigen, wo wir uns doch soviel zu sagen hätten. Er sah Nora an, die gar nicht schwieg, sondern mit den Enten um die Wette quakte, durch geschickte Würfe versuchte, den schwächeren oder ängstlicheren Tieren, ihre Brocken zukommen zu lassen.
Nora, wollte er sagen, konnte es aber nicht, ein Ruf hinderte ihn, ein Hilferuf von der Allee. Er sprang vom Ufer weg, die wenigen Schritte die Böschung hinauf. Da kam Nora auf ihn zugelaufen und rief: „Pardon, könntet ihr mir helfen, ich erfriere sonst!“
Nora, wollte er sagen, was zum Teufel...! Doch er sah sie nicht mehr, die Sonne war untergegangen, der Teich verschwunden. Aus der Dunkelheit schälte sich langsam das Bild Klapaidas.
Sie stand über ihm, hoch wie ein Turm, sah auf ihn herab.
„Den Wersten gut operiert, Doctor. Mein Giest ist ein Heiler, was?“
Bernd riss sich zusammen, dachte zu dem hoch über ihm stehenden Gesicht hinauf: „Ein Wunderheiler, fürwahr.“
„Ich weiß, ich weiß,“ kicherte Klapaida. „Bist im Traum, Doctor,“ fuhr sie fort. „Kennst mich, rede nur im Traum mit dir. Gäb sonst noch mehr Schwierigkeiten, Schwierigkeiten sind genug. Hab Fehler gemacht, mich in die Mascha verguckt. Nicht, was du denkst, bin weder Frau noch Mann. Bin irgendwas, meinetwegen Erscheinung, komm ich euch näher, muss Gestalt sein, grauste euch sonst zu sehr. Tätet euch schwer, mit mir zu sprechen. Bei Mascha geht das, die ist geräumig, deshalb das Unglück.
Was geschehen ist, ich erklär‘s. Es hat einen Riss gegeben, einen Riss in der Zeit. Als du Nora fandest, ist es geschehen, hätte erfrieren müssen, die Nora. Aber so war sie bei dir. Ein Durcheinander, unentwirrbar! Hab versucht es zu richten, deshalb bracht ich dich her. Hab den Rogar Noras Blut riechen lassen, vergebens. Hat mich gewarnt mit einem wilden Blitz, mir die Mascha um ein Haar erschlagen.
Hab mich verzaubern lassen von Mascha, hab erkannt wie sie denkt, eins und eins zusammenzählt, Schlüsse zieht aus Beobachtungen. Innerlich mich gekringelt vor Lust, wenn sie mir erklärte, welches Kraut was tut. Beobachtet hätte sie es. Konnte ihr nicht sagen, ich hab es eben dir zu Gefallen erschaffen. Auf den Boden gespuckt, mit dem Fuß verrieben, da blühte es. „Sie dort, Klapaida!“ schreit sie, „wie waren wir blind! Da, da, dort! Büsche vom Gesuchten,“ und zeigte auf das eben Gewachsene.
Einen Aberglauben behält sie bei aller Verstandesliebe bei: Nie den Namen von dem, was man sucht, sagen, wenn es geht, nicht einmal denken. Da war sie dicht an der Wahrheit, ohne es zu wissen.
Du Doctor, und die mit dir leben, sind noch mehr in die Irre gegangen. Glaubt alles beweisen zu müssen, dünkt euch so klug. Überseht völlig, wo ihr herkommt, wer ihr seid. Meint, wäret weg vom Affen, seit Millionen Jahren. Blödsinn! Wie solltet ihr je von dem wegkommen? Ihr seid Affen, was nicht schlimm ist. Menschen hört sich für mich, wie ihr es meint, dumm an. Was lebt hat Wurzel, ich nicht, weil ich nicht lebe.
Schon in der ersten Wurzelfaser, lebt die Erinnerung. Die Erinnerung ist die Baumeisterin des Lebens. Wie ihr wissenschaftlich beweisend, eure Welt verfremdet, schön stabil Wissen auf Wissen schichtend, immer abstrakter, unverständlicher, bis sie euch einmal nicht mehr gehört. Genauso verfährt die Erinnerung, die ihr Genom oder DNS nennt. Jedoch die Erinnerung ist uralt, erprobt, klug und unsterblich. Ihr selbst seid die Erinnerung. Habt sie erkannt, aber die Botschaft vom Leben, die Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit allen Lebens, nicht zu entschlüsseln verstanden. Oder wenn doch, nicht verstehen wollen, in der Hybris der Verehrung Eurer selbst.“
„Klapaida, du sagst, musst irgend was sein. Doch was bist du?“
„Doctor, ich bin, vielleicht hift’s dir, das Ur. Doch ohne wenn und aber, Ich bin, seit es gibt. Vor Menschen, Tieren, Pflanzen, der Erde, gab es. Gab davor, wird danach geben. Du verstehst? Wirst es nicht wahrhaben wollen, zerstört dein Weltbild. Tut es nicht Bernd, akzeptier es, staune.
Doch zurück zum Problem. Der Zeitriss muss sich schließen, kann nicht geduldet werden. Du hörst, ich spreche nicht nur für mich. Also Doctor, bin in mich gegangen, musste erfinden: Du wirst doppelt leben müssen. Hier, und da wo du herkommst. Was unangenehm ist, deine Lebenszeit kann ich nicht verlängern. Lebst du hier zwanzig, und dort zwanzig Jahre, sind das vierzig gelebte Jahre. Bist aber noch jung, zweiunddreißig Jahre jung, bist also gut für dreißig weitere Jahre. Wirst die Doppelexistenz nicht spüren. Lebst zwei Leben, fühlst nur eins. Versprechen kann ich Traumbesuche. Sollte was schief laufen, bieg ich es gerade.“
„Nora? Was wird aus Nora? In welchem Leben lebe ich mit ihr?“
„In beiden, Doctor. Nora ist so untrennbar mit dir verbunden, wie mit dem Zeitriss. Ihr drei, Nora, du und der Zeitriss!“
„Aber Nora kann nicht leben in meiner Welt! Du sagtest, jeder Tag sei ein Jahr für sie, binnen eines Monats, hielt ich eine Greisin im Arm!“
„Vergiss es, ist repariert.“
"Sag mir noch, wie schließt sich der Zeitriss, Klapaida?“
„Der wächst zu, Doctor, schließt sich mit euren Leben. Mit jedem Jahr ein wenig, seid ihr dahin, ist der Riss geflickt.“
„Sag noch, warum das sein muss?“
„Weiß es nicht, Rogar verlangt es.“
„Ist Rogar dein Gott?“
„Bewahre, doch die Zeit ist sein.“
„Warte, ich hab noch Fragen.“
„Frag nur.“
„Was wird, wir sterben nicht gleichzeitig?“
„Geht nicht, wenn Eins stirbt, stirbt das Andere.“
„Stirbt? Gesund und munter?
„Ja doch! Ihr lebt nicht gleich anderen Menschen. Lebt nur, um ungeheures Missgeschick ins Lot zu bringen.“
„Was ist, wir haben Kinder?“
„Ihr mögt sie haben, hüben wie drüben, tut nichts zur Sache.“
„Doch Nora müsste erdulden, doppelt und dreifach!“
„Papperlapapp. Ihr wisst doch nicht um eure Doppelexistenz. Ahnungen könnten aufsteigen. Ahnung, doch was war, wird Traum sein. Wie gesagt, mich gibt es dauernd, begleite euch und räume, wenn‘s not tut, Steine aus dem Weg. Hab es schon getan. Du sprachst dem Kelm von Psyche, Dampfern und abschalten, hat er schon vergessen. Auch von von kontaminieren und anaestisieren, sprachst du, vergessen! Auch das besondere deiner Ausrüstung wird niemand erkennen. Noch eins, Noras Kleid und Schmuck, hat Teil an dem Schlamassel, gibt es hier wie dort.“
„In beiden Welten?“
„Ja!“
„Wird mich drein schicken müssen, Klapaida?“
„Nimm’s nicht so schwer, bekommst doch Nora, das gleich doppelt! Wonach sich Sterbliche lebenslang sehnen, fällt dir gleich zweimal in den Schoß! Du bist ein ausgemachter Glückspilz! Halt, falsch, ihr seid ein Glückspilznest. Die Nora, der Zeitriss und du.“
„Was schert mich der Zeitriss, Klapaida!“
„Wirf’s nicht so weit weg, wer schaut schon in die Zukunft.“
„Du Klapaida?“
„Ich sagte schon, Rogars ist die Zeit! Also bis dann, Doctor.“
„Abstellen!“ befahl er und beugte sich über den Verletzten, kniff ihn leicht in die Wange. „Ohnmächtig,“ befand er. „Mascha! Bitte veranlasst, dass er nackt ausgezogen wird. Ihr berührt ihn nicht, seid gewaschen! Schnell, schnell! Er spürt nichts, solange er ohnmächtig ist. Gut, das ging schnell, die Hose aufschneiden, auch die Unterhose, weg mit dem Lappen. Zier sie sich nicht! Auf den Tisch mit ihm, dann alle raus, bis auf Mascha und die Kerzenwache!"
Er untersuchte die Wunde. „Hat ihn hoch am Oberschenkel erwischt, den großen Muskel abgeschält, haarscharf an seiner Männlichkeit vorbei, Glück im Unglück! Ich anästhesiere, er wird den Eingriff nicht spüren. Mascha, habt ständig acht auf sein Gesicht. Er muss völlig entspannt bleiben, bei der kleinsten Grimasse spritze ich ein Narkotikum nach. Also gut beobachten. Ich säubere jetzt die Wunde und das Operationsfeld. Später nähe ich den Muskel mit den Sehnen zusammen. Wird zwei, drei Stunden dauern. Mit einem Auge mich beobachten, sobald Blut fließt, sag ich Tupfer, dann mit den Bäuschen dort, das Blut aus der Wunde tupfen. Ich muss viel trinken, mir bitte einige Kannen Wasser hinstellen, Schweiß wird rinnen, den Wasserverlust gilt es zu ersetzen.“
Die Operation verlief ohne Komplikation, einmal sagte Mascha: „Er rührt sich," und folgte ohne Zagen des Doctors Anweisung, eine bereitliegende Spritze zu applizieren.
„Tüchtig Mascha,“ lobte Bern. Nach gut zwei Stunden, im Zimmer war es von den brennenden Kerzen unerträglich heiß geworden, war es geschafft. Die letzte Naht war gelegt, nun galt es einen Verband anzulegen.
„Was, Mascha, würdet Ihr gegen den Wundbrand einsetzen?“
„Doctor, auf die Naht, legte Klapaida den Giest. Giest ist ein Gebräu aus verschiedenen Kräutern, die das Wundfieber zuverlässig verhindern. Gewechselt wird morgens und abends. Dazu gibt es einen Tee, der den Blutumlauf stützt. Was in dem Giest drin ist habe ich sorgfältig notiert, auch die Teekräuter sind aufgezeichnet. Der Tee lindert zudem den Schmerz und fördert den Schlaf.“
„Machen wir so. Ich überlass Euch den Mann. Verfahrt wie gewohnt. Ich bin schrecklich müde, habe zwanzig Stunden auf dem Buckel, ein oder zwei Glas Wein und dann schlafen. Lasst Wersten hier, ich werde mich neben ihn legen. Nein Unfug, ich würde nicht wach, brauchte er mich. Gebt mir ein anderes Zimmer, er muss eine Nachtwache bekommen. Sollte er sich rühren oder sonst wie unruhig werden, ruft mich.“
Mascha versorgte Boris, wie sie es bei Klapaida abgesehen hatte, bedeckte Naht und Oberschenkel, soweit die Schwellung reichte, dick mit Giest. Das Ganze umwickelte sie mit einem lockeren Verband, sollte genügen den Brand zu verhindern, des war sie sicher.
Als sie fertig war, fiel ihr Blick auf die Instrumente, die der Doctor in einen Eimer mit Wasser geworfen hatte, mit der Bitte, sie in der Küche vor sich hinköcheln zu lassen, bis er sie morgen einräumen würde. Sie nahm eine der mattschimmernden Zangen in die Hand und war erstaunt, wie leicht und exakt verarbeitet die war, fast wie ein Schmuckstück, fand sie.
Wir sind doch ziemlich hinter dem Mond in unserem Masuren, wenn man anderswo Dinge herstellen konnte, von deren Existenz und Funktion, wir nicht einmal ahnen. Auch die Spritze, die sie selbst in Boris hineingestochen, dann durch Druck auf das obere Ende in in hinein entleert hatte, um ihm den Schmerz zu nehmen, unglaublich war das. Der Doctor schnitt, zog, zerrte, nähte, und der Patient rührte sich nicht Sie dachte an die vor rasendem Schmerz tobenden Menschen, denen man, was bei Wundbrand oder Unfällen oft vorkam, ein Bein oder einen Arm amputieren musste.
Sie war gespannt, was Klapaida dazu sagen würde. Es war nicht allein die Schmerzlosigkeit der Behandlung, auch die Instrumente, sowie die unglaubliche Geschicklickeit, mit der der Doctor die benutzt hatte, beeindruckten Mascha zutiefst. Ohne diesen erstaunlich fähigen Medicus, läge Boris jetzt amputiert und vor Schmerz delirierend auf dem Bett.
Je nun, es gibt vieles auf Gottes Erde, wovon wir nichts wissen. Tröstlich war, so schrecklich weit vom Zentrum der Welt, müssen wir uns nicht mehr fühlen, wenn ein so außerordentlicher Heiler sich in Lyck niederlassen würde. Sie hörte die Uhr elf schlagen, meine Nachtwache wird Nora übernehmen beschloss sie. Als sie im Begriff war sie zu wecken, trat sie ins Krankenzimmer.
„Mama! Ablösung, du hast für heute genug getan. Schluss jetzt, ich achte auf Boris. Gibt es Instruktionen?“
„Nein, nur sollte er wirklich unruhig werden, den Doctor wecken.“
„Ist ja ausserordentlich, Mama, er hat nicht amputiert. Ich saß bei Papa, als der Doctor nach vollbrachtem Werk in die Bibliothek kam, um schnellstens zwei Glas Rotspon in sich hineinzuschütten. Schade um den Wein, bedauerte er, zu schade um sich nur damit zu betäuben. Ein interessanter Mann, er strahlt etwas aus, ich kann es nicht definieren. Jedenfalls Angenehmes, als kenne man ihn schon lange.
Papa fragte sofort, wie hoch er amputiert habe, und ob weitere Verletzungen zu versorgen gewesen seien. Die Antwort, das Bein sei noch dran, in längstens einem Monat, wenn auch behutsam, benutzbar, ließ Papa den Doctor mit offenem Mund anstarren.
Noch dran? Das zerfleichte Ding noch dran? Wie, wie ging das zu?
Bern, der sein zweites Glas eben hintergekippt hatte, antwortete lachend: Sollt ich Euch das erklären, brauchtet ihr einige Jahre Medizinstudium, nebst ausreichender Praxis im täglichen Einsatz. Aber Scherz beiseite, sein Bein ist gerettet. Vor allem dem Umstand zu verdanken, dass Hilfe so zeitig geleistet werden konnte. Zwei Stunden längeres Liegen, ohne antiseptische Versorgung, mit dieser gewaltigen Fleischwunde, hätte ihn das Leben gekostet.
So hab ich Papa noch nie erlebt, Mama. Er stand auf, zog Bernhard, so nannte er ihn, aus seinem Sessel hoch und umarmte ihn, falsch, er drückte ihn, drückte, bis es dem Doctor den Atem nahm. Als er von ihm abließ, liefen ihm die Freudentränen über die Wangen. Ich möchte niederknien vor dir, Bernhard, einfach niederknien, wiederholte er ein um das andere Mal. Bernhard versuchte beschwichtigend, sein Handeln als alltäglich hinzustellen. Graf Kelm, versteht doch, es ist mein Beruf...Nix da Graf Kelm, fiel ihm Papa ins Wort, ich bin Claus, meine Frau die Mascha, und meine Tochter die Nora, für dich unseren Wohltäter.
Bernhard, Boris gerettet, nicht nur das, zweibeinig geblieben, der mir teure Freund. Das ist mehr als er und ich, dir im Leben vergelten können. Bernhard, der sich ob des unerwarteten Gefühlsausbruchs, ein drittes Glas eingeschüttet hatte, entgegnete ein wenig beschämt und hilflos ob der Ovation: Dann möchte ich doch bitte Bernd, und nicht Bernhard genannt werden.
„Da hab ich wohl einiges versäumt, Nora?“
„Ach Mama, ich glaube, du kennst Papa in Situationen, wo ihn das Gefühl überwältigt, für mich aber war es neu und angenehm, ihn so offen und dankbar zu erleben.“
„Er ist ein guter Mensch, Nora. Es stimmt, was mit dieser Operation auf Steinfeld geschehen ist, sprengt den Rahmen, ist, nein war, bislang unvorstellbar. Fraglos wäre Boris uns mit dieser Wunde unter den Händen gestorben. Ich leg mich, Liebes, setz dich in den großen Sessel, die Beine hoch und versuch zu schlafen. Du schläfst leicht, wirst sicher hören, wenn Boris sich regt oder sonstiges Bedürfnis hat. Gute Nacht.“
Nora rutschte sich zurecht, legte, wie Mascha empfohlen, die Beine hoch, zog den Plaid bis zum Hals, kontrollierte mit einem Blick die einzige, noch im Raum brennende Kerze, und schloss die Augen. Schlafen wollte sie noch nicht, eher summieren, aufrechnen, sich Rechenschaft geben. Sie war nicht im Reinen mit sich. Dass Boris so furchbar verletzt worden war, hatte sie merkwürdig kalt gelassen. Ja, gestand sie sich, befreit hatte sie sich gefühlt. Sie musste ihm nun keinen, für die Eltern mit schwierigen Erklärungen verbundenen, Korb geben. Da Hoffnung auf seine völlige Genesung bestand, also kein schlechtes Gewissen, ihrer Mitleidlosigkeit wegen.
Nur, meine Liebe, hier weichst du dir aus, nahm sie sich an die Kandarre. Ist etwas zu seicht, dieses rettende Wasser. Boris als Bewerber um deine Hand, war bis zu Sonjas locker skizzierten Szenen aus künftigem Eheleben, nicht hochwillkommen aber willkommen.
Jede Ehe, wusste sie, war mit Nachwuchs verbunden, ja Nachwuchs zu gebären ihr eigentlicher Zweck. Die Liebe, wie sie heutzutage gesehen wurde, und erlebt werden wollte, kannte Mama nicht, als sie heiratete. Hatte damals nicht den Werther gelesen. Ich hörte von der Schrift, bemerkte sie. Zu meiner Zeit wurden Ergüsse dieser Art, nicht in Lebensentscheidungen einbezogen. Jedenfalls nicht bei uns preußischen Krautjunkern.
Wenn du, liebes Töchterchen, Gefühle hegen willst, werde ich dich nicht hindern. Nur merke, Gefühle sind höchst anspruchsvoll. Einmal gezüchtet, hoch empfindlich. Der kleinste Eishauch, kann für ein Gefühl tödlich sein. Das vertrackte ist, Leben geht nicht ohne Eishauch, und wie den defininieren? Was du als kalt empfindest, mag für den Anderen ein laues Lüftchen sein, und vice versa. Mit Gefühl sperrst du dich in einen Käfig, dessen Gitter du nicht siehst. Erst wenn du dir den Kopf angestoßen hast, erkennst du wo du bist.
Mochte Recht haben, die Mama, hatten es ja gut getroffen miteinander, die Mascha und der Claus. Verstanden sich ohne Worte, dazu kam, Mascha’s Mitgift wog den Wert von Steinfeld auf. Waren jederzeit ebenbürtig, die zwei. Und ich? Meine beachtliche Mitgift ist verglichen mit Boris’ Liegenschaften Taschengeld. Dazu das fremde Land. Außer Boris und seiner alten Mutter, spricht kaum jemand deutsch. In dem Teil Livlands ist lettisch Umgangssprache, wäre zu erlernen, genau wie russisch. Nur fremd würde das Land, der ständig mit einem Kind unter dem Herzen beglückten oder beschwerten, Deutschen bleiben.
Sie fühlte, wie der Schlaf sie in den Arm nahm. War wunderschön, einzuschlafen hier auf Steinfeld, ohne ein Leben in fremdem Land im Nacken.
Am nächsten Morgen, ging es dem Patienten gut. Bernd war als erster an seinem Bett, Nora wurde wach, als er ins Zimmer trat. Er legte einen Finger an die Lippen, ihr zu Schweigen signalisierend. Er fühlte Boris Puls, nickte zufrieden.
Nora sah ihn fragend an, er wies auf die Tür, und sie schlichen auf Zehen hinaus.
„Nora, er hat kein Fieber und sein Puls schlägt gleichmässig. Ein Patient, wie ihn der Arzt liebt, ausgestattet mit einer Bärennatur. Du brauchst nicht länger bei ihm zu bleiben, ich werde stündlich nach ihm sehen. Sag Mascha, ich möchte gegen Mittag den Verband wechseln. Bin hochgespannt wie der Giest gewirkt hat. Das heißt, ich weiß, dass er gewirkt hat, das zeigt Werstens Zustand. Mich interessiert, wie Wunde und Schwellungen sich entwickelt haben. Nora, ich darf doch Nora sagen?“
„Gern, es macht die Unterhaltung so einfach, Bernd, wenn ich Bernd sagen darf.“
„Ganz sicher darfst du. Ich kann jetzt schon sagen, ihr Krautjunker, wie ihr bei uns im westlichsten Preußen genannt werdet, seid herrlich unkompliziert. Möchte gern einen der Naserümpfer hier haben, die die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, als sie erfuhren ich ginge ins östlichste Preußen. Da gibt es nur Wölfe und Bären, wurde ich verspottet, die Bewohner seien kaum der Sprache mächtig, die Knechte und Mägde hätten es nur zu Bellen und Fauchen gebracht.“
„Und das hat dich nicht abgehalten, hierher zu kommen, Bernd? Ich bin schon neugierig, was einen im Westen sicher hochgeachteten Doctor veranlasst hat, sich zu uns in die Wildnis verschlagen zu lassen? Die Liebe? Gibt es eine Dame, die deiner voll Sehnsucht harrt?“
„Ich weiß die Liebe in all ihren Erscheinungsformen zu schätzen, Nora. Doch ganz ehrlich, die einzigen Damen die ich hier kenne, seid ihr, du und deine Mama.
Zugegeben, ich verließ Cleve gern, es zog mich etwas nach Masuren. Ein nicht auslotbares Sehnen, ein nie empfundenes Wollen, ließ mich beinah überstürzt das Stadtmedicusamt von Lyck annehmen.
Das Verrückte ist, ich kannte zwar die Grenzen Preußens, aber Masuren innerhalb dieser Grenzen war mir kein Begriff, hörte zum ersten Male davon bei der Beschreibung des Lycker Amtes.“
„Bernd, bevor ich es vergesse, Mama war vor zwei Stunden bei mir, hat mir aufgetragen auszurichten, sie stehe erst gegen Spätmittag zur Verfügung. Klapaida, die Kräuterfrau, ist plötzlich ohne Verabredung aufgetaucht, hat Mama dringend gebeten, mit ihr in die Kräuter zu gehen.“
„In die Kräuter, heißt das in den Wald, wo das Keilerungeheuer sein Unwesen treibt?“
„Ich glaub schon, Bernd. Doch zu befürchten ist nichts, solange Klapaida, die alte Hexe, bei ihr ist.“
„In übler Nachrede, unterscheidet ihr euch im Osten, in nichts vom Westen. Auch bei uns werden Frauen die helfen, seien es Hebammen oder kräuterkundigen Heilerinnen, als Hexen diffamiert. Heutzutage lacht man darüber, aber vor hundert Jahren konnte das mancherorts brandgefährlich sein, in des Wortes wahrster Bedeutung!“
„Bernd, ich meine das nicht bös, Mama würd mir ein Ohr abreißen, hörte sie mich so von der Alten reden, aber du hast Klapaida noch nicht gesehen, erschrecklich!“
„Eben, Nora, weil sie ihr Leben im Freien zugebracht hat, bei Wind und Wetter auf der Suche nach dem Seltenen, das Heilung bringt. Es bedarf langer Erfahrung, um unter all dem Grün, das Besondere herauszufinden. Lange Erfahrung wächst in langen Jahren, Menschen die sie erwarben, sind zwangsläufig alte Menschen, sich ihres Äußeren gar nicht bewusst. Keine Ballprinzessinnen, wie die schöne Nora von Kelm.“
„Danke für das Kompliment, Bernd, aber eine Ballprinzessin bin ich nicht, dafür gibt es auf Steinfeld nicht genug zu tanzen. Obwohl, getanzt wird schon. Erst vorige Woche hab ich ein Paar Ballschuhe durchgetanzt. Wärst du eher gekommen, hättest du teilnehmen können, sofern du tanzt. Das tust du doch hoffentlich?“
„Darauf verlass dich, kleine Schönheit, der Doctor tanzt gut und gern!“
„Fabelhaft! Für eine kleine Veranstaltung, sähe ich bald einen Anlass. Sollte Boris Wersten wieder zweibeinig werden, wär das ein Grund zu feiern. Ein Hauptgrund, von Papa kein Widerstand zu erwarten. Mach ihn nur recht schnell gesund, und ich fliege in deinem Arm über das Parkett.“
„Nora, was ich tun konnte, hab ich getan. Der Rest liegt beim lieben Gott und deiner in Anführungszeichen, Kräuterhexe. Doch ich bin allerbester Hoffnung, Wersten hat eine starke Natur.“
Klapaida
Klapaida stürmte mit langen Schritten, vor Mascha her durch den Wald. Es ist meine Schuld, es kann noch mehr geschehen! Ich muss Einhalt gebieten, hämmerte sie sich ein, seit sie Mascha in aller Frühe ohne weitere Erklärung gebeten hatte mit ihr zu kommen.
Sie wollte Rogar erklären was geschehen war. Ihm Mascha zeigen, ihn ihr Blut riechen lassen, das Noras Blut war. Nora, die den Zeitriss verursacht, der jetzt unbedingt verschlossen werden sollte. Rogar würde wüten, war ihr klar, zu Recht wüten, sah sein Regime verletzt. Sein erstes Opfer, Graf Wersten, unschuldig wie alle weiteren, an denen er sein Mütchen kühlen würde, sollte er nicht versöhnt werden können.
Sie kamen an die Lichtung, wo der Keiler Wersten mit seinen riesigen Hauern, das Bein mit einem einzigen Schlag zerrissen hatte. Klapaida fand den Blut getränkten Fleck sofort. Sie warf sich bäuchlings darüber, befahl Mascha sich neben sie zu hocken, reglos und stumm zu verharren, gleich was geschähe.
Eine Weile geschah nichts, dann gab es ein Brechen und Schnauben, in der Dickung. Mascha glaubte schier zu ersticken, von dem dicken Schweinsgeruch, der herüberwehte. Bald jedoch galt es allen Mut zusammenzuraffen. Aus dem Unterholz schob sich zuerst der grauschwarze Kopf, dann der gewaltige Rumpf eines Keilers, groß wie ein Pferd. Sein Gestank verschlug ihr den Atem, sie fühlte eine Ohnmacht nahen, die nur äusserste Willensanstrengung, in Schach halten konnte.
Das Tier sicherte nach allen Seiten, riss den Boden mit seinen an blanke Säbel gemahnenden Hauern auf, stemmte Wurzeln heraus, zerkaute die genüßlich, wobei ihm der weiße Geifer aus dem Maul flockte. Plötzlich gefror das Biest zum Bild, ein grollendes Grunzen kollerte aus seiner Brust, von einem Moment zum anderen war es nur noch Bewegung, rannte schnurstraks auf die zwei Figuren zu, die es gewagt hatten sein Revier zu verletzen.
Mascha erstarrte. Die Panik, die sie erfaßte, machte sie denk- und bewegungsunfähig. Der Keiler verharrte vor ihr und der reglos am Boden liegenden Klapaida. Die runde, tellergroße Nasenscheibe, stieß schnuppernd ohne die Haut zu berühren, gegen Maschas Gesicht vor. Sie sah den Rüssel sich riechend runzeln, beim geräuschvollen Schmecken der Luft. Dann schien es, als ob das Ungeheuer die am Boden liegende Gestalt erkannte, der gewaltige Körper fuhr herum, der seitwärts gedrehte Kopf, ließ die schrecklichen Säbelzähne sehen, als er wie ein Blitz auf Klapaida niederfuhr.
Als Mascha erwachte, lag sie auf nämlicher Lichtung, den Kopf in Klapaidas Schoß gebettet.
„Nur Ruhe, hast dich erschreckt, es ist vorbei, Mascha," flüsterte Klapaida. „Hab keine Angst mehr vorm schrecklichen Keiler, es ist vorbei." Klapaida massierte ihr zärtlich die Schläfen, flüsterte beruhigend, keine Angst vor dem Keiler, nur Ruhe Mascha, Ruhe.“
Es dauerte eine Weile, bis Mascha fühlte, die Beine würden sie wieder tragen. Auf dem Weg nach Hause erzählte ihr Klapaida, sie seien auf den verendeten, verwesenden Keiler gestossen, dessen widerlicher Gestank und Anblick sie, Mascha, in eine Ohnmacht hätte fallen lassen.
Auch sie, habe noch nie, ein so riesiges Schwein gesehen, sei vor Schreck hingestürzt, wie Mascha sich sicher erinnere. Mascha schüttelte den Kopf, versuchte, ihre Erinnerung, die so anders war, vorzubringen, als aus dem blauen, wolkenlosen Winterhimmel ein Blitz, keine zwanzig Fuß entfernt, begleitet von einem gewaltig rollenden Donner, in eine Eiche schlug. Klapaida riss Mascha zu Boden, und raunte während sie da lagen: „Mascha: Vergiss! Vergiss! Vergiss!“
Als sie sich wieder aufrappelten, staunten sie beide den brennenden Baum an. „Das war dicht bei uns, Kräuterfreundin,“ Mascha zog die Luft durch die Zähne, „für heute hab ich genug. Die gestrige Nacht steckt mir noch in den Knochen, fühle mich wie durch ein Räderwerk gedreht.“
Auf Steinfeld erwartete sie frohe Botschaft.
„Wir haben den Keiler, der Graf Wersten attackierte, gefunden," erklärte der Stallmeister stolz. „Der hat eine Kugel abgekriegt, und lag verendet in der Dickung. Hätten wir sofort weitergesucht, ihn aufgebrochen, gäbs jetzt jede Menge Fleisch. So aber ist er verdorben, haben ihn vergraben."
Klapaida freute die Botschaft, sie suchte Maschas Blick, hielt ihn länger als einen Augenblick, bis Mascha die Achseln hob, Klapaida ein wenig halbherzig in den Arm nahm, sie aber dann fest an ihr Herz drückte. „War ein Tick zu heftig," flüsterte sie ihr ins Ohr, „vergessen wir es."
Als Klapaida sich verabschiedete, mahnte sie: „Ein Kräutchen, der Nummer zwölf aus deiner Apotheke, mit genug Wasser verdünnt trinken, und ein tiefer Schlaf richten dich auf.“
Mascha nickte, sie fühlte sich wie noch nie, am Ende ihrer Kraft. Als sie durch die Diele ging, traf sie auf Nora, die, als sie ihr ins Gesicht sah, zu Tode erschrack. „ Mama, was ist dir,“ fragte sie, aber Mascha konnte nur noch flüstern, „Bett und Kraut zwölf mit Wasser verdünnt" bevor sie umsank.
Schnell wurde die Ohnmächtige in ihr Bett gebracht. Nora lief den Doctor suchen. „Gebt ihr Kraut zwölf mit viel Wasser, flößt es ihr ein, sie wird es schlucken," ordnete sie schon im Laufen an. Die Mamsell kam aus der Küche herbeigeeilt, würde sich routiniert um ihre Herrin kümmern.
Nora fand den Doctor beim Vater, der ihm den Zuchtplan des werdenden Gestüts erklärte. Sie berichtete schnell, was vorgefallen.
„Ohnmacht? Kommt das öfter vor?“ fragte Bernd.
„Nicht, dass es mir bekannt wäre,“ erklärte Claus Kelm bestürzt.
Nora unterrichtete, von der mit Wasser vermischten Kräutergabe.
Bernd nickte: „Wenn Klapaida das angeordnet hat, wird es seine Richtigkeit haben. Bevor ich sie nicht angesehen habe, kann ich nichts sagen."
Mascha lag bleich, flach atmend auf dem Bett. Bernd fühlte ihr den Puls: „Schwach, aber sonst nicht ungewöhnlich. Meine Diagnose: Körperliche und seelische Überanstrengung. Gibt es eine Aufzählung der Bestandteile von Kraut zwölf?“
Nora schlug eine von Hand geheftete Kladde auf, blätterte, und zeigte ihm die Auflistung.
Bernd überflog die Kräuternamen, die dahinter geschriebenen Gaben, die in die Mischung zwölf eingeflossen waren.
„Hätte ich nicht besser machen können, wenn ich es denn so gut gekonnt hätte,“ sagte er und gab Nora die Kladde zurück. „Die Damen sind wahrhafte Naturapothekerinnen. Lockert Mascha die Kleider wo sie schnüren, zieht sie nicht aus, einfach leise sein, sie ruhen lassen. Mit etwas Glück ist sie bald wohlauf."
Claus Kelm, der sich im Hintergrund gehalten hatte, atmete tief durch. Bernd sah ihn an.
„Bisschen viel, Claus, die letzten Stunden? Auch dir möchte ich raten, langsam angehen lassen. Wir täten uns alle einen Gefallen, ließen wir die Seele ein wenig baumeln. Nicht schlafen, einfach abschalten tät sicher gut.“
„Die Seele baumeln lassen und abschalten, hört sich kurios an, hab ich noch nie gehört. Obwohl, eingängig ist es. Ich werde deinem Rat folgen und die Seele baumeln lassen. Wenn das der Pastor hört, wird er brummig. Seele, meint er, ist ganz sein Ressort.“
„Womit er sicher auf dem richtigen Dampfer ist, Claus. Solange sich die Seelenhirten um die Seelen der ihnen anvertrauten Gottesschafe kümmerten, brauchte es keine Psychiater.“
„Bernd, man erkennt, du kommst aus dem hochedukierten Westen. Worte benutzt du, die hat hier noch niemand ausgesprochen, geschweige gekannt oder von gehört. Abschalten, Dampfer? Wie kommt der Pastor auf einen Dampfer. Psychiater? Hört sich nach Psyche, ergo Seele, also doch Pastor, an. Ha ha, werde den hochwürdigsten Herrn nächstens Psychiater rufen. Nur Dampfer und abschalten, hab ich doch richtig gehört?, musst mir erklären, hat Zeit, erst mal die Psyche alias Seele baumeln lassen, baumeln wie ein Strauchdieb, am nächsten starken Ast.“
Bernd sah nach Wersten, öffnete nochmal den Verband, um wiederum verblüfft festzustellen, wie wohl der aufgelegte Giest der Wunde tat. Die Wundschwellung war nur leicht gerötet, an den Nähten keine Spannung. Geht das so weiter, ist er wirklich in zwei Wochen gehfähig, freute er sich. Boris, dem er ein leichtes Schlafmittel gespritzt hatte, schlief tief und fest. Bernd reckte sich zufrieden. War seiner Etablierung im fernen Osten ausserordentlich zuträglich, die spektakuläre Operation, danach die schnelle, problemlose Genesung, des hochangesehenen Gastes der Kelms.
Klapaida
Bernd legte sich auf das niedrige Sofa, auf dem Nora über Boris gewacht hatte. Sein Patient schlief fest, also dachte er an Ruhe und eine Mütze Schlaf und schwebte schon hinüber, in einen angenehmen Traum.
Am Anfang war da Nora die seine Hand nahm, ihn an einen Teich voll schnatternder Enten führte, die sie mit Brotbrocken aus ihrer hochgeschlagenen Schürze fütterte. Sie standen dicht beieinander in der hellen, schon ein wenig wärmenden Sonne, an dem zugefrorenen Weiher und schwiegen. Warum schweigen wir, fragte sich Bernd, schweigen, wo wir uns doch soviel zu sagen hätten. Er sah Nora an, die gar nicht schwieg, sondern mit den Enten um die Wette quakte, durch geschickte Würfe versuchte, den schwächeren oder ängstlicheren Tieren, ihre Brocken zukommen zu lassen.
Nora, wollte er sagen, konnte es aber nicht, ein Ruf hinderte ihn, ein Hilferuf von der Allee. Er sprang vom Ufer weg, die wenigen Schritte die Böschung hinauf. Da kam Nora auf ihn zugelaufen und rief: „Pardon, könntet ihr mir helfen, ich erfriere sonst!“
Nora, wollte er sagen, was zum Teufel...! Doch er sah sie nicht mehr, die Sonne war untergegangen, der Teich verschwunden. Aus der Dunkelheit schälte sich langsam das Bild Klapaidas.
Sie stand über ihm, hoch wie ein Turm, sah auf ihn herab.
„Den Wersten gut operiert, Doctor. Mein Giest ist ein Heiler, was?“
Bernd riss sich zusammen, dachte zu dem hoch über ihm stehenden Gesicht hinauf: „Ein Wunderheiler, fürwahr.“
„Ich weiß, ich weiß,“ kicherte Klapaida. „Bist im Traum, Doctor,“ fuhr sie fort. „Kennst mich, rede nur im Traum mit dir. Gäb sonst noch mehr Schwierigkeiten, Schwierigkeiten sind genug. Hab Fehler gemacht, mich in die Mascha verguckt. Nicht, was du denkst, bin weder Frau noch Mann. Bin irgendwas, meinetwegen Erscheinung, komm ich euch näher, muss Gestalt sein, grauste euch sonst zu sehr. Tätet euch schwer, mit mir zu sprechen. Bei Mascha geht das, die ist geräumig, deshalb das Unglück.
Was geschehen ist, ich erklär‘s. Es hat einen Riss gegeben, einen Riss in der Zeit. Als du Nora fandest, ist es geschehen, hätte erfrieren müssen, die Nora. Aber so war sie bei dir. Ein Durcheinander, unentwirrbar! Hab versucht es zu richten, deshalb bracht ich dich her. Hab den Rogar Noras Blut riechen lassen, vergebens. Hat mich gewarnt mit einem wilden Blitz, mir die Mascha um ein Haar erschlagen.
Hab mich verzaubern lassen von Mascha, hab erkannt wie sie denkt, eins und eins zusammenzählt, Schlüsse zieht aus Beobachtungen. Innerlich mich gekringelt vor Lust, wenn sie mir erklärte, welches Kraut was tut. Beobachtet hätte sie es. Konnte ihr nicht sagen, ich hab es eben dir zu Gefallen erschaffen. Auf den Boden gespuckt, mit dem Fuß verrieben, da blühte es. „Sie dort, Klapaida!“ schreit sie, „wie waren wir blind! Da, da, dort! Büsche vom Gesuchten,“ und zeigte auf das eben Gewachsene.
Einen Aberglauben behält sie bei aller Verstandesliebe bei: Nie den Namen von dem, was man sucht, sagen, wenn es geht, nicht einmal denken. Da war sie dicht an der Wahrheit, ohne es zu wissen.
Du Doctor, und die mit dir leben, sind noch mehr in die Irre gegangen. Glaubt alles beweisen zu müssen, dünkt euch so klug. Überseht völlig, wo ihr herkommt, wer ihr seid. Meint, wäret weg vom Affen, seit Millionen Jahren. Blödsinn! Wie solltet ihr je von dem wegkommen? Ihr seid Affen, was nicht schlimm ist. Menschen hört sich für mich, wie ihr es meint, dumm an. Was lebt hat Wurzel, ich nicht, weil ich nicht lebe.
Schon in der ersten Wurzelfaser, lebt die Erinnerung. Die Erinnerung ist die Baumeisterin des Lebens. Wie ihr wissenschaftlich beweisend, eure Welt verfremdet, schön stabil Wissen auf Wissen schichtend, immer abstrakter, unverständlicher, bis sie euch einmal nicht mehr gehört. Genauso verfährt die Erinnerung, die ihr Genom oder DNS nennt. Jedoch die Erinnerung ist uralt, erprobt, klug und unsterblich. Ihr selbst seid die Erinnerung. Habt sie erkannt, aber die Botschaft vom Leben, die Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit allen Lebens, nicht zu entschlüsseln verstanden. Oder wenn doch, nicht verstehen wollen, in der Hybris der Verehrung Eurer selbst.“
„Klapaida, du sagst, musst irgend was sein. Doch was bist du?“
„Doctor, ich bin, vielleicht hift’s dir, das Ur. Doch ohne wenn und aber, Ich bin, seit es gibt. Vor Menschen, Tieren, Pflanzen, der Erde, gab es. Gab davor, wird danach geben. Du verstehst? Wirst es nicht wahrhaben wollen, zerstört dein Weltbild. Tut es nicht Bernd, akzeptier es, staune.
Doch zurück zum Problem. Der Zeitriss muss sich schließen, kann nicht geduldet werden. Du hörst, ich spreche nicht nur für mich. Also Doctor, bin in mich gegangen, musste erfinden: Du wirst doppelt leben müssen. Hier, und da wo du herkommst. Was unangenehm ist, deine Lebenszeit kann ich nicht verlängern. Lebst du hier zwanzig, und dort zwanzig Jahre, sind das vierzig gelebte Jahre. Bist aber noch jung, zweiunddreißig Jahre jung, bist also gut für dreißig weitere Jahre. Wirst die Doppelexistenz nicht spüren. Lebst zwei Leben, fühlst nur eins. Versprechen kann ich Traumbesuche. Sollte was schief laufen, bieg ich es gerade.“
„Nora? Was wird aus Nora? In welchem Leben lebe ich mit ihr?“
„In beiden, Doctor. Nora ist so untrennbar mit dir verbunden, wie mit dem Zeitriss. Ihr drei, Nora, du und der Zeitriss!“
„Aber Nora kann nicht leben in meiner Welt! Du sagtest, jeder Tag sei ein Jahr für sie, binnen eines Monats, hielt ich eine Greisin im Arm!“
„Vergiss es, ist repariert.“
"Sag mir noch, wie schließt sich der Zeitriss, Klapaida?“
„Der wächst zu, Doctor, schließt sich mit euren Leben. Mit jedem Jahr ein wenig, seid ihr dahin, ist der Riss geflickt.“
„Sag noch, warum das sein muss?“
„Weiß es nicht, Rogar verlangt es.“
„Ist Rogar dein Gott?“
„Bewahre, doch die Zeit ist sein.“
„Warte, ich hab noch Fragen.“
„Frag nur.“
„Was wird, wir sterben nicht gleichzeitig?“
„Geht nicht, wenn Eins stirbt, stirbt das Andere.“
„Stirbt? Gesund und munter?
„Ja doch! Ihr lebt nicht gleich anderen Menschen. Lebt nur, um ungeheures Missgeschick ins Lot zu bringen.“
„Was ist, wir haben Kinder?“
„Ihr mögt sie haben, hüben wie drüben, tut nichts zur Sache.“
„Doch Nora müsste erdulden, doppelt und dreifach!“
„Papperlapapp. Ihr wisst doch nicht um eure Doppelexistenz. Ahnungen könnten aufsteigen. Ahnung, doch was war, wird Traum sein. Wie gesagt, mich gibt es dauernd, begleite euch und räume, wenn‘s not tut, Steine aus dem Weg. Hab es schon getan. Du sprachst dem Kelm von Psyche, Dampfern und abschalten, hat er schon vergessen. Auch von von kontaminieren und anaestisieren, sprachst du, vergessen! Auch das besondere deiner Ausrüstung wird niemand erkennen. Noch eins, Noras Kleid und Schmuck, hat Teil an dem Schlamassel, gibt es hier wie dort.“
„In beiden Welten?“
„Ja!“
„Wird mich drein schicken müssen, Klapaida?“
„Nimm’s nicht so schwer, bekommst doch Nora, das gleich doppelt! Wonach sich Sterbliche lebenslang sehnen, fällt dir gleich zweimal in den Schoß! Du bist ein ausgemachter Glückspilz! Halt, falsch, ihr seid ein Glückspilznest. Die Nora, der Zeitriss und du.“
„Was schert mich der Zeitriss, Klapaida!“
„Wirf’s nicht so weit weg, wer schaut schon in die Zukunft.“
„Du Klapaida?“
„Ich sagte schon, Rogars ist die Zeit! Also bis dann, Doctor.“