kleine Fehler kommen vor

Hagen

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kleine Fehler kommen vor

"Sie sind also der Mann, der für uns Science Fiction und ähnliches schreibt? Nehmen sie doch Platz!"
Ich setzte mich. Der Typ mir gegenüber war zwar mein Boss, aber er trug Anzug und Krawatte, sowie eine goldene Uhr und eine Grundeinstellung zur Literatur mit sich herum, die durch den Fleischwolf des Marketings gedreht war.
"Also, mein Lieber“, fuhr er fort, “folgendes: Mein Marketingteam ist der Ansicht, dass es mal wieder Zeit ist für eine dystopische Schläferstory im klassischen Sinne, verstehen sie?"
"Ich verstehe nur zu gut. Wie lang?"
"Die übliche Buchlänge, 300 bis 350 Seiten, und beeilen sie sich, wir müssen das Buch im nächsten Monat auf den Markt werfen, sie wissen ja, wie das mit den Büchern so ist."
"Natürlich! Ein Buch ist sowas wie ein Comic, bloß ohne Bilder."
"Heben sie sich ihre Witze gefälligst für ihre Story auf, vielleicht gefällt den Lesern so was. Wir haben die Marktlücke entdeckt, sie haben sie zu stopfen, dafür sind sie da, haben sie verstanden?"
"Freilich. Ich habe ja schon mal ein Buch für Sie geschrieben. Gestatten Sie mir noch eine Frage: Soll Sex mit rein, Crime, Fantasy ...?"
"Herrgott, Sie stellen aber auch Fragen! Woher soll ich das wissen? Bin ich Schreiber oder Sie? Vergessen Sie nicht, wir müssen mal wieder eine tolldreiste, übermütige Geschichte rausbringen, bei der wir mal nicht unsere üblichen, strengen Maßstäbe anlegen wollen! Sie haben eine ULLA zuhause, die macht das schon! ULLA weiß genau, was diese Idioten, die Bücher oder E-Books kaufen, lesen wollen. Ihre ULLA ist gerade wieder von unseren Experten trendgerecht motiviert worden. Verstehen Sie das doch endlich!"
"Ich verstehe wie verrückt. Bis wann brauchen Sie das Ding?"
"Bis Übermorgen, mein Lieber, also schieben Sie ab und beeilen Sie sich!"
"Da ich lieber ab als Kohldampf schiebe, komme ich Ihrer freundlichen Aufforderung gerne nach. Einen angenehmen Arbeitstag noch, Boss, und immer schön fröhlich bleiben."
Ich ging raus und zu Fräulein Irmingard von der Immenstelle, unsere Hauslyrikerin, die seltsamerweise noch eine gute, alte Schreibmaschine benutzte.
"Hallo liebste Irmingard", sagte ich, "heute schon Erbauliches gedichtet? Ich fühle mich zurzeit etwas depressiv."
"Ach, hat er dir die Schläferstory aufgedrückt? Dann kann ich dich verstehen. Hier, wie findest du das:
Wir lagen in dem Grünen,
und pflegten uns're Lust.
Er durfte sich erkühnen,
zu küssen meine Brust.
Mein Busen stand ihm offen,
er war ihm unverwehrt.
Ich hatte ihn mit Hoffen,
so lange Zeit begehrt. –
"Ich bin tief beeindruckt", sprach ich mit leiser Stimme, "welch' Transparenz der Sprache! Worte, die sich eines ledernen Lindwurmes gleich um die Supernova der Gefühle schlingen. Allerdings solltest du statt 'so lange', 'zu lange' setzen, das bringt die Hoffnung mehr zum Ausdruck, aber ansonsten von sehr starker, erotischer Dynamik."
"Wo liegt dein Problem?" fragte Fräulein von der Immenstelle, "du weißt genau, dass das Wortmüll ist! Immer wenn du was von mir willst, lobst du meinen Blödsinn. – Lederner Lindwurm! – Son Quatsch!"
"Du hast mein Problem ganz richtig erkannt, ich soll die Schläferstory schreiben."
"Jetzt weißt du nicht was das ist, was? Pass auf: Eine Reihe von utopisch/dystopischen SF-Romanen hat als Protagonisten einen >Schläfer<, der etwa im Kälteschlaf ganze Jahrhunderte überdauert und in einer völlig veränderten Zukunft aufwacht."
"Das ist alles?"
"Das ist alles! Noch Fragen?"
"Was ist 'dystopisch'? Dyspareunie kenne ich wohl, allerdings nur vom Hörensagen."
"Tja, das sagt ihr alle, ihr Männer! – Dystopie ist das Gegenteil der Utopie, also eine Welt oder Gesellschaft mit negativen oder abschreckenden Eigenschaften."
"Au ja! Negatives kann ich gut, ich bin der Negativ schlechthin!"
"Das weiß ich längst. – Möchtest du einen Kaffee?"
"Klar, gerne! Dein Kaffee war schon immer der beste in der ganzen Bude hier, und das ist nicht gesülzt."
Eine Tasse Kaffee lang trauerten wir den guten, alten Zeiten nach, als wir noch die klassische Teamarbeit hatten, eine Woche lang ein Manuskript erarbeiten konnten und dann mit den Ghostwriters fürchterlich einen trinken gingen, während die braven Tippsen die Reinschrift in den Computer gaben.
"Aus, vorbei die Zeit, kommt nicht mehr wieder", trauerte ich dieser Ära nach, wie einer verflossenen Geliebten, und ging nach Hause, bevor Fräulein von der Immenstelle Spuren von Sentimentalität bei mir feststellen konnte.
ULLA war beim Staubsaugen als ich die Wohnung betrat, sie stellte den Sauger augenblicklich ab und holte mir eine Dose Bier.
"Guten Tag, Meister", sagte sie mit einer Stimme wie der Bordcomputer des Raumschiffes ‘Dark Star‘, „was liegt an?"
"Die wollen eine Schläferstory im klassischen Sinne, 300 bis 350 Seiten. Zieh' dir doch mal eben die klassischen Bücher und Filme rein! Dann kommst du wieder und gibst mir den Extrakt!"
"Ist recht, Meister. Soll ich sofort anfangen?"
"Fang' sofort an zu speichern! Ich habe diesmal nicht sonderlich viel Zeit."
ULLA deutete eine Verbeugung an und verließ das Zimmer um sich an das Archiv anzuschließen. Über ULLA hatte ich die Berechtigung, es zwei Stunden täglich zu benutzen, und mit ihm auch HAL, den Endformulierer.
"Den Brüdern fällt auch nichts mehr ein", dachte ich, "seit 2001 wird jeder Computer mit einem Minimum an Intelligenz HAL genannt."
Ach, ja, 2001! Da kam auch ein Schläfer drin vor. Ich ging ULLA Bescheid sagen, dass sie sich den Film unbedingt ansehen sollte.
ULLA stand halb aufgestützt an einem Tisch. Sie hatte sich an HAL angeschlossen, ihren Rücken geöffnet um die Betriebswärme abzuführen und speicherte mit leerem Blick Stories. Im Moment war sie nicht ansprechbar.
Ich riss die Bierdose auf und frönte der Nostalgie, dachte an die erste Generation der Literaturcomputer. Die Dinger hatten noch eine Tastatur und einen Bildschirm, man war sogar genötigt, selber zu lesen und zu schreiben. Die Leute schrien schrill auf, als bekannt wurde, dass es sogar Rechtschreibfehlerkorrekturprogramme gab, und verwiesen auf Goethe, der nur Feder und Papier zur Verfügung hatte. Sie kauften aber Schundliteratur, wenn sie überhaupt kauften, welche Leute wie ich in Unmengen zu produzieren genötigt waren, um überhaupt leben zu können.
Die zweite Generation der Literaturcomputer konnte wenigstens schon selbständig sprechen, Sprache verstehen, schreiben und lesen, aber die Mechanik um Bücher zu lesen war noch störanfällig, laut und langsam, trotz der sechs Finger an jeder Hand, die jeder Literaturroboter seit jener Zeit traditionell besaß um in altmodischen Büchern schneller blättern zu können.
Und dann gab es ULLA, die Universal - Literatur - Lese - und Ausgabeeinheit.
Erbaut in klassischer, androider Bauweise und nur an den sechs Fingern an jeder Hand von einem Menschen zu unterscheiden.
Neben ihrer Hauptfunktion als Zwischenspeicher standen ihrem Benutzer neuerdings noch einige Megabyte zur privaten Nutzung zur Verfügung. Ich hatte ULLA daraufhin die Bedienungsanleitungen meiner Haushaltsgeräte und das Kamasutra zu lesen gegeben, sowie eine Zeitschrift mit Kochrezepten für sie abonniert.
Das hatte zur Folge, dass ich mit boshafter Beständigkeit zunahm. Als ich aber mal mit ihr joggen war, versuchte sie mir erst davonzulaufen, und dann musste sie mich nach Hause tragen.
Das Joggingprogramm war wohl doch nicht so ganz ausgereift, aber die Nachbarn, speziell die Damen, hatten ihre helle Freude.
Seit dem ließ ich ULLA nackt in der Wohnung herumlaufen und amüsierte mich, wenn die Herren Nachbarn kamen, um sich ein wenig Zucker zu borgen. Ich bekam manche Eifersuchtsszene aus der Nachbarschaft mit.
Ich trank noch ein paar Biere und dachte mir Basisgeschichten aus, während ULLA alles abspeicherte, was es an Schläferstories im Genre des Science Fiction gab.
Pünktlich nach einer Stunde kam ULLA wieder:
"Meister, ich bin bereit zur Eingabe."
"Fein, fangen wir an! Da ist son Typ in seinem Raumschiff, der wird so quasi aus Versehen in Kälteschlaf versetzt, merkt das aber nicht und wird Jahre später in seiner inzwischen total veralteten Kiste gefunden und geweckt. Er vermeint jedoch noch in der Vergangenheit zu sein und kommt in der Gegenwart gar nicht so recht klar. Bau' doch mal sonen liebenswerten, jedoch altklugen Roboter ein ..."
"Hatten wir schon", sagte ULLA, "die Story heißt Buck Rogersl"
"Scheiße, wäre auch zu schön gewesen! Na, gut, denn nehmen wir eben das andere: Das übliche Tralala, also er wacht auf, und die Kriege sind abgeschafft. Sowas kommt immer gut, das wagt kein Kritiker zu verreisen, weil man ja heutzutage gegen den Krieg sein muss. Mach doch auch mal so, dass alle Nationen zusammengeschlossen sind. Glasnost und Perestroika, das ist im Moment noch so in, dass es Literatur sein muss, auch wenn es Schwachsinn ist. Da setzen wir jetzt noch einen drauf: Man braucht nur noch 24 Jahre seines Lebens zu arbeiten, dann haben wir auch die arbeitende Bevölkerung auf unserer Seite und das Ding mit der Arbeitszeitverkürzung erschlagen. Irgendwie kriegen wir die Nummer mit dem Mindestlohn auch hin. – Es gibt auch kein asoziales Verhalten mehr, das ist doch was feines, aber alles bis jetzt noch zu positiv, wir müssen den Kritikern ein bisschen was negatives vorwerfen, worauf sie sich stürzen können, sonst behaupten die nämlich, ich schreibe nur für die Kritik. Was ist denn nochmal gerade in?
Kernkraftwerke, Nachhaltigkeit, Geiseldramen, Busunglücke, Klimaerwärmung, und der Co2 Ausstoß sind im Moment auch noch aktuell, aber da schreiben sie alle drüber. Vielleicht können wir später darauf zurückgreifen, wenn uns nichts eigenes einfällt. Nehmen wir doch mal die Apartheit, das ist marketingmäßig ein Langzeitthema, das wandeln wir etwas ab und lassen jeden Menschen Teil eines gut funktionierenden Systems sein ..."
"Hatten wir schon", sagte ULLA emotionslos, "die Story heißt ‘Looking Backward 2000-l887‘, sie wurde von Edward Bellamy bereits im Jahre 1888 gebracht."
"Was heißt `bereits'? Sollte das Kritik sein?"
"Nein, Meister. Kritik steht mir nicht zu. Außerdem sollten wir die Arbeitszeitverkürzung nicht erwähnen, weil sich kürzlich die Mitarbeiter einer Fluggesellschaft bereit erklärt haben, freiwillig länger zu arbeiten. Sowas könnte Neid erzeugen, und der Boss wünscht keine neidischen Leser."
"Na, gut. Wir sind ja flexibel. Fahren wir fort. Wie kommen derartige stories heute überhaupt an?"
"Die Verkaufszahlen derartiger stories sind stark rückläufig."
Ich begann mit meinen Fingernägeln an der Bierdose zu trommeln, da war doch wiederum irgendwo irgendwas mit einem Streik.
Trotzdem, Friedensstories waren immer sehr lukrativ, da müsste jemand eingemauert worden sein und wieder ausgegraben werden.
"Also, ULLA, nun pass' mal gut auf!“
"Ja, Meister, ich speichere."
"Also, da haben sich welche gestritten, zwei Länder, die haben auch mal Krieg gehabt und dann haben die eine Mauer gebaut, so richtig mitten durch eine Stadt. Aber dann so knappe dreißig Jahre später, fangen die an, sich wieder zu vertragen und reißen die Mauer wieder ab. Wie findest du den Ansatz?"
"Willst Du meine ehrliche Meinung hören, Meister?"
"Ja natürlich."
"Völlig unglaubwürdig, Meister. Sowas liest kein Mensch. Unglaubwürdiges hat der Boss verboten, das bezieht sich auch auf die Nummer mit dem missglückten Brexit! – Ich kann den Ansatz nicht abspeichern."
“Und die Sache mit Putin und der Ukraine?“
“Das ist ein bestehender Konflikt! Über bestehende Konflikte dürfen wir nicht schreiben! Denk mal an Schröder und Putin! Erst war alle Welt begeistert von Schröder, weil er dafür gesorgt hat, dass Putin uns billiges Gas liefert und nun ist Schröder plötzlich auch der Böse …“
"Ach halt‘ die Klappe! – Also vergessen wir's! Und wenn ich hundert Jahre daraus mache?"
"Hundert Jahre hören sich gut an, Meister, aber die Leute lesen keine Geschichten mehr, in denen Mauern vorkommen, weil die Wiedervereinigung auch nicht so gelaufen ist, wie sich das der Leser normaler Bücher vorstellt, meint der Boss. Zudem denken die Leser dann auch immer gleich negativ an Ausländer, Flüchtlinge und Asylanten. Sowas will der Boss vermeiden. Ich kann da nichts machen, Meister. Ich darf das Wort 'Mauer' nicht abspeichern."
"Damit bricht meine ganze Story zusammen. – Wie sieht denn der Prozentsatz weiblicher Helden im Genre 'Schläferstory' aus?"
"Nur 8,2 % aller Schläferstories haben einen weiblichen Protagonisten, Meister."
"Na, das ist doch schon mal was! Kommen weibliche Helden gut an?"
"Inhaltlich bezogen sind die Verkaufszahlen stagnierend, auf das Titelbild bezogen steigt die Tendenz."
"Also ein weiblicher Held! Unsere Designer finden da schon was! Jung, hübsch und begehrenswert, eine Prinzessin. Stell' dir einfach den Typus der Lara Croft vor, aber in jungen Jahren, und jetzt nehmen wir einfach mal an, sie schläft mit der ganzen Stadt, quatsch, das könnte zu Verwechselungen führen. Sie schläft, und alle in der Stadt auch. Da haben wir gleich tausende von Schläfern, da kann der Alte nicht meckern. Gab's sowas schon?"
"Nichts bekannt", sagte ULLA.
"Großartig, da sind wir ja im richtigen Programm! Warum sie pennt, kriegen wir später, jetzt lassen wir die Stadt erst mal zuwachsen, weil sich ja keine Sau mehr um den ganzen Kram kümmert. Wie kommen denn Schlingpflanzen an?"
"Dafür habe ich zu wenig Informationen."
"Das ist natürlich ärgerlich! Am besten nehmen wir schöne Blumen, Rosen zum Beispiel. Klemm' dich doch mal eben bei HAL an und frag ihn, ob es in der letzten Zeit einen Film im Fernsehen gab, bei dem Blumen im Titel vorkamen. Wenn ja, frag' wie er ankam, aber bring' mir vorher noch ein Bier."
ULLA gehorchte, aber in mir machte sich ein ungutes Gefühl breit.
Egal, ich riss die Bierdose auf und grübelte. Sonst hatte ich die Story in dieser Zeit immer schon im Sack und konnte mir hübsche, kleine Details einfallen lassen, wie zum Beispiel das Ding mit dem schwachsinnigen Sciencefictionschreiberling, der nicht merkt, dass er ein Märchen als seine eigene Story rausbringt.
ULLA kam wieder, bevor ich weiterdenken konnte.
"Vor einer Woche gab es das Rosenresli zum zweiundsechzigsten Mal, die Sehbeteiligung lag zwölfkommazwo Prozent über dem Mittel und auf facebook waren die ‘Gefällt mir Daumen‘ zu dreiundachtzig Prozent positiv, Meister."
"Na, fein, dann nehmen wir also Rosen! Problem gelöst! Gehen wir auf Nummer Sicher, reiten wir auf der Welle der Naturschützer, da sind wir voll im Trend, und kein Kritiker wagt das zu verreisen, weil er sich dann selbst als Banause abqualifizieren würde. Die Stadt wächst also mit Rosen zu, das kommt zudem bei den weiblichen Lesern gut an, wir schießen uns jetzt auf die Zielgruppe 'Frau' ein! Dazu brauchen wir natürlich noch einen männlichen Helden, eine Lovestory und ein happy end, mach's aber nicht allzu kitschig. Der Held darf maximal ein Gedicht oder ein Liedchen zwischendurch ablassen, aber erst müssen wir das Ding mit den Rosen festlegen! Stell' dir doch mal den Symbolgehalt vor: Tausende von Rosen wachsen um eine schöne Frau, ein wahrer Rosenberg!"
"Der Boss hat Politik verboten, Meister."
"Wieso Politik? Was hat das denn mit Politik zu tun?"
"Rosenberg, Alfred war neben Göbbels ein Hauptpropagandist der nationalsozialistischen Partei!"
"Halt's Maul!"
"Rosenberg, Ludwig war erster Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes von 1962 bis ..."
"Du sollst die Klappe halten!"
"Rosenberg, Marianne, Schlagersängerin ..."
"Auch die nicht! Keine Rosenberge mehr, auch nicht als Personennamen, hast du verstanden?"
"Ja, Meister. Welche Rosen soll ich verwenden? Wildrosen, Gartenrosen, Rosetten, Rosinen ..."
"Gibt es auch Stadtrosen?“
„Ich wüsste nicht.“
„Gut. Nimm' Gartenrosen, das klingt am zivilisiertesten, die Naturfreaks werden wir denn später versöhnen, vielleicht sollten wir dann ein Liedlein einfließen lassen, wo son Typ ein Röslein brechen will, aber dann fängt die Rose an zu quatschen und droht ihm Stiche an. – Wir können die Kommunikation zwischen Mensch und Pflanze lyrisch bringen. Nimm' am besten folgenden Anfang:
Sah ein Held ein Röslein stehn,
Röslein in dem Städtchen,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf in dem Städtchen, und so weiter.
Fräulein von der Immenstelle soll sich das mal anschauen, das ist ihr Fachbereich. Wo waren wir stehen geblieben?"
"Bei den Gartenrosen, Meister."
"Ja, das lassen wir stehen, da kann sich jeder gleich einen Rosengarten vorstellen."
"Soll König Laurin auch mitspielen?"
"Wer ist das denn schon wieder? Ein Diktator? Ich denke, wir dürfen keine Politik."
"Der Rosengarten war das Reich König Laurins in Tirol um 1250."
"Das ist ja ganz toll, was du alles weißt, aber der spielt nicht mit!"
"Sehr wohl, Meister. Wir hatten allerdings schon den großen Rosengarten, ein Heldengedicht des burgundisch – gotischen Sagenkreises. Es ging dabei um Kriemhilds Rosen und zwölf Helden."
"Zwölf Helden? Da müsste ich ja mindestens hundertzwanzig Helden anrücken lassen, weil wir ja schon tausende von Schläfern haben, nee, das geht nicht, verschlechtert die Verfilmbarkeit! Die Filmfitzen müssen dann Unsummen für die Komparserie abdrücken. Außerdem ist ein Held klassisch, und wir kriegen auch keinen Ärger, weil die Leute ja bei ganz vielen Helden gleich nach der Quotenregelung schreien. – Nein, nein, jetzt muss mal wieder was Bekanntes her, was reales, was uns in unsere Zeit versetzt. Wie wär's, wenn wir unseren Helden im Auto fahren lassen, in einem ganz normalen VW-Golf?"
"Golf geht nicht", sagte ULLA, "da fühlt sich der Leser gleich an den Golfkrieg erinnert, und Kriege dürfen wir nicht."
Ich nahm mir nicht die Zeit, deprimiert zu sein.
"Wie wär's, wenn wir einen Helden auf dem Motorrad anrücken lassen, wie bei `Easy Rider'?" fuhr ich fort, "ach, nee, das wirkt dann wie ein Videoclip, wenn der auf einer schweren Harley quer durch den Rosengarten brettert und dabei womöglich das Liedchen von dem Typen trällert, der das Röslein stehen sah. Wie nehmen lieber was seriöses, das mögen die Frauen gerne, einen Arzt oder einen Botaniker, der Rosen studiert. – Reicht das schon für 300 Seiten?"
"Nein, das reicht nicht, Meister. Du musst die Protagonistin noch wecken. In Schläferstories muss der Schläfer geweckt werden."
"Ach so, wecken müssen wir sie noch. – Sagen wir mal, der geht bei und bumst die Prinzessin, aber mach's nicht pornographisch, sonst erwürgen uns die Lesben, die Feministinnen und die Damen aus dem Bundestag, man muss ja so aufpassen heutzutage."
"Ja, Meister. Findet der Geschlechtsverkehr mit oder ohne Kondom statt? Seit AIDS und Corona darf in Romanen kein ungeschützter Geschlechtsverkehr mehr beschrieben werden. Soll ich einen Kondomautomaten im Rosengarten placieren?"
"Und dann kommt auch noch das Ding, dass der Held kein Kleingeld mit hat - is' nicht! Löschen! Er küsst sie bloß. – Hatten wir das schon?"
"Nichts bekannt", sagte ULLA.
"Na, großartig, Heldenküsse kommen mit Sicherheit gut an, das lassen wir stehen. Was fehlt noch, um die Story abzurunden?"
"Wie kam die Protagonistin in den Tiefschlaf?"
"Ach, so. Sie kriegt bei irgendwas mit Salafisten einen vom Polizeiknüppel übergebraten oder wird als Geisel genommen. Seit diesem Drama neulich, als die Verbrecher aus dem Knast abgehauen sind, ist das auch glaubwürdig, und wenn wir gegen rechte Gruppierungen sind, kann auch nichts schiefgehen. Wir müssen bloß noch sehen, wie wir beides vermackern können."
"Das geht nicht, Meister. Wir müssen gewaltfrei bleiben. Du hast dich für die Zielgruppe ‘Frau‘ entschieden. Nur 6,73% der weiblichen Käufer erwerben gewalttätige Literatur. Nach einer inoffiziellen Hochrechnung kaufen davon 63,7% derartiges Schrifttum für ihren männlichen Partner, weitere 17,3% greifen versehentlich zum gewalttätigen Buch. Da der Verlag aber 100% zufriedene Leser anstrebt, darf ich die letzte Information nicht abspeichern."
"Verdammt nochmal, wie soll man da als Schriftsteller noch kreativ sein, wenn einem von allen Seiten Beschränkungen auferlegt werden. Hätte ich bloß auf meine Mutter gehört und wäre Lehrer geworden, dann hätte ich jetzt einen gutbezahlten Halbtagsjob und könnte nachmittags Gedichte schreiben, ohne Rücksicht auf Bedarfsdeckung. – ULLA, hol mir noch ein Bier, wir müssen fertig werden, in einer Stunde habe ich bei Kurt zum Pokern zu erscheinen, und bis dahin muss die Story stehen."
ULLA gab mir ein Bier.
"Was war noch gleich unser Problem?", fragte ich.
"Wie kommt die Protagonistin gewaltfrei in den Tiefschlaf."
"Sie säuft sich aus Frust ein Koma an."
"Das geht nicht Meister. Schon seit Dallas haben nur die Bösen Alkoholprobleme zu haben. – Lange her, aber immer noch aktuell."
"Gut, dann macht sie sich einen Mordstrip zurecht und haut sich den in die Vene."
"Das geht auch nicht, Meister."
"Wieso geht das nicht? ‘Die Kinder vom Bahnhof Zoo‘ kamen doch derzeit auch gut an."
"Ja, Meister. Aber Drogen stehen auf dem Index der unangenehmen Schriften. Unangenehme Schriften sind stark rückläufig. Zudem dürfen Spritzen seit AIDS und Corona nur in Krankenhäusern oder von Ärzten zur Anwendung gebracht werden, weil die Benutzung von Spritzen durch Zivilpersonen, Bürger und auch Prinzessinnen, nicht die klinisch saubere Herkunft derselben gewährleisten kann. Anordnung vom Boss."
"Ach, der Alte spinnt doch! – Hejjjj! Das ist die Idee! Sie sticht sich an ihrem Spinnrad, damit erreichen wir auch die alternative Leserschaft, wir bleiben auf dem Nostalgietrip. Lösch' doch mal eben den Botaniker und setze stattdessen einen jungen Prinzen, er kann sich auch hin und wieder mal mit den Pflanzen unterhalten, muss aber auf dem Ökotrip sein, das kommt immer gut. Nimm die Daten von Prinz Charles, dann haben wir's, und für die Prinzessin nehmen wir die Diana in jungen Jahren, vor dem Ding mit dem Dodi und dem Unfall, wir wollen ja keine unnötigen Konflikte erzeugen, sonst kriege ich Krach mit den Herren Serienschreibern. Hast du das?"
"Ja, Meister, aber das geht nicht."
"Wieso nicht?"
"Seit Charles diese Camilla geheiratet hat, darf ich diese Namen und ähnliche Charakterzüge nicht verwenden."
"Dann nimm' Claudia Schiffer und Michael Jackson, das wäre das Traumpaar! – Außerdem soll sich Michael zu seinen Lebzeiten auch hin und wieder mit seinen Affen unterhalten haben und war bei den Kindern sehr beliebt. Wir müssen auch an den Nachwuchs denken. – Irgendwelche Bedenken?"
"Nein, Meister."
"Sehr gut! Lass' den Helden noch ein bisschen über diverse Ebenen reiten, Helden reiten immer auf weißen Pferden über Ebenen, aber nenn' den Gaul nicht Rosinante, obwohl das gut zu den Rosen passen würde. – Hast du das abgespeichert? Reicht das für 300 Seiten?"
"Ja, Meister, ich habe das abgespeichert. Das reicht für 300 Seiten Schläferstory im klassischen Sinne. Darf ich nun mit HAL zur Endformulierung schreiten?"
"Aber natürlich, meine Liebe, und mach's gut, sonst gebe ich dich einem Bastler zum ausschlachten."
ULLA ging sich bei HAL anklemmen und ich zu Kurt zum Pokern. Als Gert meine Straße mit einem Flash ausstach, wurde mir schlagartig klar, dass ich vergessen hatte, ULLA zu befehlen, sich auch alle klassischen Märchen durchzulesen.
"Ach was", dachte ich, "kleine Fehler kommen vor. Was soll schon schiefgehen?"
Trotzdem traute ich mich einige Tage nicht in die Firma, aber dann rief mich Fräulein von der Immenstelle an und erzählte mir, dass meine Schläferstory recht gut angekommen war, und sie hatte sich erlaubt, das Ding ‘Dornröschen‘ zu nennen, weil ich glatt vergessen hatte, ihm einen Titel zu verabreichen.
Ich lud Fräulein von der Immenstelle leichten Herzens zum Essen ein, weil sie so außerordentliche Sensibilität bei der Auswahl des Titels bewiesen hatte.
 

onivido

Mitglied
Hallo Hagen,
diese Zeiten sind gar nicht mehr fern und die Zombies werden gluecklich sein.
Beste Gruesse///Onivido
 

Hagen

Mitglied
Hallo Onivido,
vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem Text und das dicke Lob.
Das ging mir runter wie Heidehonig. Mein Tag ist auch gerettet nachdem ich Deine positive Meinung gelesen habe.
Endlich mal ein Poet, der gehobene, anspruchsvolle Literatur zu schätzen weiss!
Mir kommt es allerdings vor, als währe das erst gestern passiert.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleibt schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert, negativ getestet und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen

Bedenke: Stimme niemals ein Klavier in nassem Zustand!
 



 
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