Kleine Fische

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FumeHood

Mitglied
Um sieben in der Früh sind sie angetreten, ein knappes Dutzend an der Zahl. Einige bekannte Gesichter sind dabei. Er reiht sich zwischen ihnen ein, hat aber ansonsten wenig zu ihren Gesprächen beizutragen. Dazu ist er zu verschlafen, mit den Gedanken nach letzter Nacht zudem woanders. Ihn beschäftigt, was nicht gelaufen ist, wie erhofft. Was er verpasst hat, zu sagen, als sie nur dalagen. Eigentlich führt sich der Gedanke seit letzter Nacht fort. Damit ist er spät eingeschlafen und am darauffolgenden Morgen in die Bahn gestiegen.
Was hat er denn schon zu erzählen? Regelbruch und Rebellion- gewiss, davon wollte sie hören. Von Schnaps und Zigaretten, die sie eingesteckt hatten, um am Morgen darauf am fernen Bahnhof aufzuwachen, die Fetzen der vergangenen Nacht aneinanderreimend. Dahingehend hat er wenig zu bieten und ein schlechter Lügner ist er obendrein. Wer will schon von spärlich befüllten Feldflaschen hören, die in zittrigen Händen reihum gingen? Oder von den Toiletten am Sportgelände, in denen er sich einschloss, als der Schwips zu offensichtlich wurde. Wo ihn Wahn und Angst in der verriegelten Kabine einholten, um seine Einbildung zu entfachen. Die Gewissheit im Nacken, dass sie ihn im Waschraum abpassten, um ihn vor den Rektor zu zerren, legte er sich bereits seine Worte zurecht.
Es gab Verfehlungen, die unentschuldbar waren und all die Hingabe der vergangenen Jahre sogleich zunichtemachten. Deshalb konnte er von wenig mehr als Disziplin und Entbehrung berichten, von Wochenenden, die er auf dem Sportgelände verbracht hatte, um weiterhin unter den Besten zu bleiben. Die Zeit ist nun vorüber, doch gewisse Anhängsel sind geblieben: die Angst, alles auf einmal zu verlieren. Die Heimatlosigkeit, das ausbleibende Sicherheitsgefühl. In die eigene Stube gehört er ebenso wenig wie in diese Stadt, unwirtlich und erbarmungslos. Also hat er sich im Laufe des Gesprächs bedeckt gehalten und erst, als er nicht mehr darum umhinkam, von seinen spröden Träumen angefangen: Einmal will er die versprengte Familie wiederfinden und alle zusammenbringen. Im eigenen Haus, unterhalb der Prachtallee am Kanal, wo Unbeschwertheit die Biergärten bis in die Nacht bevölkert. Wird er je ein Teil davon sein?
Nur gut, dass er nicht mehr gesagt hat. Im Nachhinein klingt es kindisch, dazu war es unbeholfen, sie aus seinen Träumen auszusparen. Immerhin hat er gut zugehört und sie ausreden lassen, bis sie eingeschlafen war. Einige wache Stunden waren ihm geblieben, in denen er versuchte, sich wenig zu bewegen, und darüber nachdachte, was sie an ihm findet und wie er dieses störende Gefühl abstreifen kann. An ihrer Seite muss er einschlafen, anstatt sie beständig als Fremdkörper neben sich wahrzunehmen und dem Reflex zu verfallen, lieber allein sein zu wollen.
Der Ellenbogen seines Nebenmanns trifft ihn, als die holzbeschlagene Tür in den Rahmen fällt. Ein Uniformierter mit fettigen, seitwärts gerichteten Strähnen und unsauber gestutztem Schnurrbart tritt aufs Podest und räuspert sich. In der allgegenwärtigen Hierarchie steht er offensichtlich weit genug oben, um einen Lakaien zu engagieren, der ihm nutzlose Akten hinterherträgt. Die darauffolgende Ansprache klingt wie eine Anklageschrift durch ein schlecht organisiertes Standgericht. Nur zu gut kann man sich vorstellen, wie sie Mann für Mann aus den Schatten des kerkerähnlichen Gewölbes zerren, um sie allesamt am Sandwall aufzustellen. Dabei ist der Appell aus Platzmangel in den Keller verlagert worden. Der Hauptmann fängt von Zellen an, zur Überraschung linksterroristisch geprägt. Die Füllwörter dazwischen kann man sich selbst denken: Attribut arbeitsscheu und rauschgiftaffin. Wehrausschussware und Schmarotzer, vaterlandsfremde Kreise und Waffenverstecke, Sodomie und was nicht noch. Das allgemein gebräuchliche Vokabular scheint dieser Tage drastisch zusammenzuschrumpfen.
„Ich erwarte Verhaftungen! Abtreten, Männer!“
Unter freiem Himmel werden Waffen ausgegeben, die sie bis dahin zuhause aufbewahrten. Das Umsturzrisiko sei zu groß, hieß es, und so dauert es, bis sie mit Karabiner und 10,5-Millimeter ausgestattet auf die Ladefläche steigen.

Der Lastwagen holpert über die löchrigen Straßen der Weststadt. Die Häuser ringsum gehören allesamt dem Konzern, der sie kostengünstig der eigenen Belegschaft zur Verfügung stellt. Es sind einfache Backsteinhäuser von immergleichem Grundriss, schmucklos stehen sie da in Reih und Glied. Manche Vorgärten sind bepflanzt und gepflegt, mancherorts parkt ein Wagen davor. Das eigene Kfz ist die nächste Stufe und gleichermaßen der Horizont. Was darauffolgt, ist den Aktionärskindern vorbehalten, oder den alten Aristokraten, die den Einfluss nie verloren haben.
Sie halten bereits nach den Hausnummern Ausschau, als der Wagen scharf bremst. Sachs entriegelt die Ladeklappe, springt hinunter und gelangt als erster an die Tür. Dagegen hämmert er, obwohl es auch eine Glocke gibt. Doch im Freundschaftlichem sind sie nicht hier.
„Polizei! Wir haben einen Haftbefehl gegen Lutz, Erich, gemeldet unter dieser Adresse.“ Die Tür öffnet. „Aber das ist doch nicht die Polizei!“, protestiert die Bewohnerin, in gebeugter Haltung auf das Schränkchen gestützt.
„Per Erlass des Innenministers vom 24.6 befugt!“, speist der Offizier sie ab. „Ist der Lutz, Erich zugegen?“
-„Aber die ganzen Waffen!“ Daraufhin stößt er sie zur Seite und sie dringen ein. Flehend klammert sie sich an seinen Ellbogen. Ihr Erich sei doch keiner von der gemeingefährlichen Sorte, das habe sie den Diensthabenden gleich gesagt. Bloß vom rechtschaffenden Wege abgekommen, mit den falschen Freunden. Denen sollte der Einsatz eigentlich gelten.
„Garten!“, ruft der Offizier und ignoriert das übrige. Auf Zehenspitzen späht Sachs über stirnhohe Mauern, die die Beete einrahmen, kann aber nichts erkennen. Erich ist ausgeflogen, der Vater lange tot. Rathstahl hat der Witwe das Haus überlassen, doch ihr Reich ist es nicht mehr.
„Ja, was weiß ich, wo sich der Erich wieder rumtreibt. Gestern Abend warn’s noch da, alle z’samm.“ Obenrum hat der Sohn sich breitgemacht, die Mutter gar in die Wohnstube verbannt. Die Dielen übersät von Unrat und Flugblättern. Längst hat sich der Rauch billiger Zigaretten in die Textilien gefressen. Im Zimmer, wo sie lange gesessen haben, gesellt sich Schweißgeruch dazu. Schmierige Gläser, hin und wieder halbgefüllt von warmer Plörre, stellen die Flächen zu. Sachs bearbeitet das verklemmte Fenster, bis er die Luke im Ganzen in Händen hält. Da hätte sich die Reparatur gelohnt und auch anderenorts hätte ein wenig Instandhaltung dem Obergeschoss gutgetan. Doch anscheinend zieht es manch einer vor, in seinem eigenen Gestank zu baden.
Ein schneidender Hass überkommt ihn und plötzlich glaubt er dem Hauptmann jedes Wort.
Martin zerbricht Schallplatten aus Übersee. „Oder willst was von dem Gewäsch mit nach Haus nehmen?“ Er winkt ab und lädt den Haufen Vinylbruchstücke auf dem brandfleckpunktierten Samt der totgesessenen Sofagarnitur ab.
Dann werfen sie alles durcheinander, bis sie fündig werden.
Das alte Gewehr ist ein Überbleibsel der Kolonialkriege. Für die Generation der Väter gehörte es sich noch, zu dienen. In irgendeinem Keller werden sie die Waffe ausgegraben haben, dazu ein paar Patronen. Das ist ein Anfang.
Den Karabiner beschlagnahmen sie, auch die Flugblätter gilt es aufzulesen. Obendrauf prangt der rote Stern- das ist bereits eindeutige Symbolik. Um das Inhaltliche wird sich keiner mehr scheren.
„Sie tun das Richtige, Frau Lutz!“ Demonstrativ wedelt der Offizier mit den Flugblättern, als er an ihr vorübereilt.
„Bitte, tun‘s dem Bub nix!“, ruft die Witwe ihm flehentlich hinterher, doch es verhallt.
Sie gruppieren sich am Lastwagen.
„Wohin jetzt?“, will der Offizier wissen.
„Zur Angetrauten“, meint der Fahrer mit verächtlichem Unterton.
„Nicht, dass wir da wen in verdienter Zweisamkeit stören.“
„Ach was, die Sozen die teilen doch ihre Weiber.“
„Brüderlichkeit und Solidarität und so. Und die Weiber steh’n drauf!“ Die meisten lachen.
„So sieht’se aus, die verdammte Schabracke. Braucht’s richtig, was?“
„Was ist mit der Kneipe am Bahndamm?“, wirft Sachs ein. „Wenn’s das noch nicht war mit dem Besäufnis? Alle Getränke leer oder warm, manch einer zieht da gern noch weiter.“
Damit überzeugt er den Offizier.

Die Adresse durchaus bekannt. Ein Treffpunkt ihresgleichen. Auch der Wirt ist politisch nicht ganz konform. Die Wirtschaft betreibt er im Kellerloch unter verkommenem Fachwerk, der Wohnraum darüber freigegeben zur Zwangsversteigerung. Es gibt keine Fenster und das dämmrige Licht ist gleich zu jeder Tageszeit. Rauchschwaden aus vollen Aschenbechern quellen zur verrußten Decke. Die paar Gäste wiegen ihre schlappen Köpfe in Händen und reden sonst nicht. Vier, fünf schlechte Blätter liegen verdeckt auf dem Kartentisch beisammen. Kann es denn nur Verlierer geben in einem einzelnen Kartenspiel?
Er sieht Elend und Scheitern und doch hält sich sein Mitgefühl in Grenzen. Feigheit verachtet er und feige ist, wer aufgibt und dem Alkohol Überhand lässt. Sich einfach aus allem zurückzuziehen ist verantwortungslos und egoistisch. Ein Teufelskreis, mag sein. Doch als das Besäufnis in den vierten Tag hinein ging, ist es noch eine freie Entscheidung gewesen, alles wegzuwerfen!
Einer der Soldaten reißt einen Hocker samt Besetzer um. Regungslos bleibt der an der Stelle des Aufpralls liegen. Ebenso bewegungslos hält sich Sachs im Hintergrund und schaut zu, wie sie randalieren, bis der Offizier dem Geschehen Einhalt gebietet. Sie wenden sich dem einzig Ansprechbaren zu, bearbeiten ihn mit Fäusten, bis auch er am Boden liegt. Und dennoch gibt sich der Wirt kampfeslustig und kriecht davon. Da bohrt sich der kalte Pistolenlauf in sein Genick.
Der Wirt erstarrt.
„Wer wischt eigentlich dein Blut weg, wenn du mal nicht mehr kannst?“, zischt der Offizier und traktiert ihn mit dem Stiefel, bis er vor der kahlen Wand sitzt. Als das Fahndungsfoto neben ihm zu Boden trudelt, schielt der Wirt zur Seite und schluckt.
„Die waren schon hier“, krächzt er schließlich mit gesenktem Kopf. „Haben Ärger gemacht.“
-„Wie lange ist das her?“
„Keine anderthalb Stunden.“
-„Wo- hin?!“, presst der Offizier hervor.
„Wohin man um die Uhrzeit eben geht.“
-„Steh auf!“
Mit Schrecken sieht der Wirt in den Doppellauf seiner eigenen Schrotflinte, als er sich aufrichtet.
Damit haben sie alles, was sie brauchen, dämmert es ihm. Mit verkniffenem Gesicht hebt er die Hände, die Handflächen nach vorn. „Beim besten Willen, ich weiß es nicht!“, fleht er heiser. „Ist doch ein verschwiegenes Volk… Bestimmt sind sie zu irgendwem nach Haus! Weit sind sie nicht gekommen… in dem Zustand, ohne Geld…“ Der Offizier durchsiebt ihn mit Blicken, zuckt am Abzug.
Erheitert sieht er den Wirt dabei zusammenzucken. Dann lässt er die Flinte sacken und verlangt harsch nach Kaffee. Nervös tänzelt der Wirt durch die Soldaten hindurch, ohne weiter beachtet zu werden.
„Du willst auch einen Kaffee trinken!“, trägt der Offizier Sachs beim Blick in die Runde auf. „Seh uns schon den verdammten Tag lang durch die Stadt irren!“

Der Offizier soll Recht behalten.
Bereits nachmittags ist ihr Kontingent an Ideen aufgebraucht. Niemand daheim- ihre kleine terroristische Zelle ist ausgeflogen. In Zeiten großangelegter Umstrukturierungsmaßnahmen ist es nicht schwer, einen Unterschlupf zu finden. Dutzende Häuser am Stadtrand sind geräumt und warten auf ihren Abriss. Da können sie sich für ein paar Tage ungesehen verkriechen, bis die Suche nach ihnen ausgesetzt wird. Umso mehr ärgert es, dass sie wertvolle Zeit in der Schlange vor der Waffenausgabe vertan haben.
So verrinnen die Chancen. Dabei ist die Gelegenheit, die sich ihnen bietet, einmalig. Ohne in den Krieg zu ziehen, können sie sich als Soldaten in Zeiten des Aufruhrs bewähren. Doch der Glücksgriff ist bislang ausgeblieben. Stattdessen verrennen sie sich in Kleinstarbeit, zur Hilfspolizei degradiert.
Und man munkelt bereits, dass die Armee bald wieder aus dem Inneren zurückgezogen wird.
Mangels lohnenderer Einfälle sollen sie nun das ehemalige Arbeitsumfeld des Gesuchten ausleuchten. Vor anderthalb Jahren hat Lutz ein paar Monate im Lager des Werkzeughändlers geschafft. Da stehen die Chancen gut, dümmer aus der Sache rauszukommen, als sie vorher waren.
Irgendwo zwischen Stadion und Brauerei an den Seitenstraßen, die vom Autobahnzubringer abzweigen, liegt das Gelände.
Die Hauptstraße haben sie bereits hinter sich gelassen, als die Schüsse fallen. Aus der Kurve heraus beschleunigt der Fahrer rasant. Wer sich nicht festgehalten hat, liegt auf den Planken. Mit den Minuten steigt die Unruhe. Waffen entsichern, während die Vordersten am Verdeck zerren, um etwas sehen zu können. Doch der Winkel ist ungünstig. Lagerhäuser und abgestellte Autos fliegen an ihnen vorbei. Dann steigt der Fahrer unvermittelt in die Eisen und sie springen ab, nachdem sie sich berappelt haben.
Nur eins ist klar: Ihr Bestimmungsort liegt woanders.
In schnellen Worten wird ihr Offizier unterrichtet, doch die Worte dringen nicht durch den Lärm. Zwischen den Mannschaftswagen schlüpfen sie hindurch, doch auf der anderen Seite werden sie zurückgehalten. Anderweitig abgebogen, wird auch Sachs eingeholt. Ohne eigenes Gewehr, nur mit brennender Zigarette in der Rechten, legt der Ältere die freie Hand auf seinen erhobenen Karabiner. „So Junge, das passiert, wenn dir ein Molotowcocktail aus der Hand flutscht!“, präsentiert er feixend, als der Jüngere das Gewehr senkt.
Eine Gestalt kommt auf die freie Fläche zwischen Halle und Straße. In weiten Halbkreisen rennt sie ziellos umher. In den Kurven beinahe am Fallen, mit den Armen rudernd und stärker taumelnd, sobald sie langsamer wird. Zu Knien gefallen, wird sie von Zuckungen verrissen, als seien die Körperglieder daran, sich vom brennenden Ganzen loszumachen. Kleidung und Haare stehen in Flammen, die Fratze darunter hat nichts mehr Menschliches. Es rollt sich, bis es liegen bleibt. Ohne das Vorherige gesehen zu haben, könnte man es für ein Wrackteil halten, brennend vom Himmel gestürzt.
Als das Geschrei verhallt, kehrt für einen Moment Stille ein.
Zwischen den übrigen Soldaten steht ein Brandmeister in erster Reihe. Die roten Einsatzfahrzeuge sind schon seit einer Weile vor Ort, doch untätig geblieben sind sie allesamt. Einsetzender Regen erledigt Unterlassenes und wäscht den Brandgeruch mit dicken Tropfen aus der Luft.
Lauthals lässt sich der Veteran über Sachs aus und schnickt die runtergerauchte Zigarette zur Seite. Sieht man es ihm so deutlich an, fragt er sich und fasst sich verlegen ins Gesicht, die aufgezogene Blässe zu überdecken. Doch das Gelächter versiegt nicht. Stattdessen springt der Veteran zur Seite, als er die Hand vorm Mund sieht. „All’s raus mit, bevor du dran erstickst!“, kreischt er rumorend. Verschämt zieht Sachs die Hand zurück und weicht seinem Blick aus.
Daraufhin haut der Ältere ihm auf die Schulter und hält ihm zur Versöhnung eine Zigarette hin. „Wer mit dem Feuer spielt!“, kommentiert er laut, wie zuvor, weil er geschossen hat.
Sachs lehnt ab und entfernt sich.
Die Herabwürdigung verblasst schnell. So ist es doch System.
Schwerer wiegt das Gefühl, überflüssig zu sein. Zerstreut irrt er umher. Weitaus mehr Einsatzkräfte sind vor Ort, als er sich anfangs bewusst war. Da ist sogar schon die Polizei. Die meisten sind ausgelassen am Rauchen.
Er nimmt den Stahlhelm ab und erhofft sich, dadurch unerkannt zu bleiben.
„Hättet ihr nicht mehr abknallen können? Denkt an den Papierkrieg!“ Gefangene mit Säcken über dem Kopf knien in Ketten. Tote liegen auf dem rauen Asphalt. Patronenhülsen in der Rinne unterhalb des Bordsteins zeugen von dem Gefecht, das sie verpasst haben.
Berge von Metallschrott türmen sich vor der Halle auf. Rückwärtig schließt sich die Schmelze in einem hohen Backsteinbau mit vergitterten Fensterschlitzen an. Loren befördern das Alteisen dorthin, doch nun steht alles still. Gelegentlich treten dünne Rauchschwaden aus der Halle hervor, die sich im Regentreiben jedoch schnell verflüchtigen. Vielleicht wartet die Feuerwehr, bis es richtig brennt.
Schließlich findet er seinen Offizier, der sich noch im Gespräch mit dem ranghöheren Offizier der anderen Kompanie befindet.
„Hier ist schon alles gelaufen!“, verkündet er, als alle wieder beisammen sind. Deutlich gereizter im Ton, beordert er sie zurück zum Lastwagen. Vielleicht nagt es auch an ihm.
Dort erteilt er ihnen eine Standpauke und rügt sie für ihre Desorganisation: „… Stattdessen rennt ihr kopflos in alle Richtungen, als ging‘s drum, der erste auf dem verdammten Riesenrad zu sein! Fühl mich wie auf dem Wandertag mit der Sonderschule. Rein da jetzt, wird’s bald!“

Wieder zu spät!
Beschämtes Schweigen hat sich auf der weiteren Fahrt breitgemacht. Den Alleingang nimmt Sachs auf sich, das war unprofessionell. Dennoch hatte er die Lage im Blick, war fokussiert und bereit zu schießen. Nun sieht die Flammen aufblitzen, wenn er blinzelt. Sieht sie lodern, wenn er die Augen geschlossen hält. Und Fleisch verzehren.
So schrickt er aus dem Sekundenschlaf.
Vor Flammen graut es ihm, seitdem sie ihn einst geweckt hatten. Beinahe hätten sie auch ihn geholt. Mit rebellierenden Lungen kauerte er damals an der Rückwand, während der erstickende Nebel durch den Spalt unter der Tür stieg. Als es im Gebälk krachte, fiel sein Blick auf das Holzschwert, das unter dem Bettgestell hervorlugte. Mit dem dreigliedrigen Griff gelang es ihm, das blinde Fenster zu zerschlagen. Dadurch schob er sich ins Freie, wobei scharfkantige Bruchstücke ihre Furchen in Armen und Beinen hinterließen. Ein paar Schritte weiter sackte er zusammen und blieb mit offen Augen auf der hartgefrorenen Erde liegen. So brannten sich die Flammen in seine Erinnerung. Eilig sah er sie die restlichen Strukturen verschlingen, ehe alles zusammenbrach. Er hörte noch sanfte Stimmen auf sich einwirken, spürte die kratzige Decke auf seiner Haut, doch die zugehörigen Bilder fehlten. Allein wachte er am nächsten Morgen in steriler Umgebung auf. „Feuer kommen vor“, wimmelte ihn der Sachbearbeiter mit versteinerter Miene ab, bevor er ihm förmlich mitteilte, dass er sich ab sofort in staatlicher Obhut befinde und nach seiner Genesung im Heim unterkommen werde. Weitere Fragen ließ er unbeantwortet. Die Verantwortung wälzten sie auf die Mutter ab, die zum fraglichen Zeitpunkt außer Haus war und somit ihre Pflichten vernachlässigt hatte. Ihn bedachte niemand- auch seine Schuld wog schwer. Nicht mal den Versuch hatte er gewagt, seiner Schwester zur Hilfe zu eilen. Dabei schlief sie im Zimmer nebenan, wo sie sich aus Decken und Kissen ein Nest am Ofen gebaut hatte. Dort war es im Winter am wärmsten und dort verbrannte sie ganz allein. Im Unterricht lernte er, für ihre Seele zu beten.
Nach ihrer Freilassung hatte sich die Mutter wieder schwängern lassen, um verlorengegangenes zu ersetzen. Reue oder Bedauern waren ihr fremd. „Ich hab nichts für dich!“, wies sie ihn beim Wiedersehen am Gatter zurück. Sie sah gesünder aus und war besser genährt, das Gesicht ausgefüllt und wieder bei Farbe. „Geh zurück! Da im Heim, da geht’s dir gut!“, verscheuchte sie ihn.
Als seien all die Bilder und Gedanken durch ein Leck ans Tageslicht getreten, fühlt er sich ertappt. Noch klingt das schallende Gelächter des Veteranen nach. Die Scham, sich beinahe übergeben zu haben, treibt ihm die Röte ins Gesicht. Ist er zu zaghaft, schlichtweg zu weich? Wer ist der nächste, den er im Stich lässt? Er kneift sich in den Handballen, bis der Schmerz in ihm aufsteigt. Als er sich umsieht, vergeht der Spuk. Ihre Blicke sind nur gleichermaßen voneinander abgewandt. Jeder ist bei sich und seinen Gedanken, wie auch er, und noch immer fahren sie der Nordstadt entgegen.

Hatte er sich anfangs noch empfänglich für Anregungen gezeigt, so diktiert der Offizier nun das weitere Vorgehen. Wenn nötig, wolle er sie bis nachts durch die Stadt jagen, dennoch tut er sich schwer, seine Ratlosigkeit zu verbergen. So gelangen sie erneut zum amtlichen Wohnsitz der Komplizin und schauen durch dasselbe Fenster auf die dahinterliegende Schuttlawine. Über Schotterpisten haben sie bereits mit dem Abtransport begonnen. Auf dem brachen Areal dahinter ist die Einebnung abgeschlossen. Pfeiler der Landvermesser markieren den künftigen Straßenverlauf. Das Bauland dazwischen hat sich witterungsbedingt in einen zähen Morast verwandelt. Irgendwo dort, im Schlick, muss auch ihre Hütte gestanden haben.
Grübelnd wandelt der Offizier umher. Die Stube ist ähnlich verlottert wie Erichs Obergeschoss, doch Aufräumarbeiten oder Sanierungsbemühungen kommen hier endgültig zu spät. Der Abriss ist lange beschlossen.
Das weitere Vorgehen zwängt sich auf, doch der Offizier will allein draufkommen. So dauert es eine Weile, bis er durch das Fenster nach draußen deutet. Ein einzelnes Haus älterer Bauart mit solidem Mauerwerk überragt den ringsherum aufgehäuften Schutt. Einsam ist es von Planierraupen und Abrissbirnen verschont geblieben. Vielleicht berät die städtische Kommission für Ästhetische Neuordnung noch über dessen Bleibeberechtigung. Ein ehemaliger Anlaufpunkt der Bedürftigen, lässt ein verblichener Schriftzug unter dem Giebel erahnen.
Irgendwann sind die Baracken und ärmlichen Behausungen an dieser Stelle, die über Jahrzehnte hinweg auf dem einstigen Brachland aus dem Boden sprießten, dem Antlitz einer Weltstadt für unwürdig erklärt worden. In Beton gegossene Mietskasernen hielten die ästhetische Kommission entweder für ästhetischer oder die eigentlichen Grundbesitzer für profitabler.
Durch die abgestandene Luft des düsteren Treppenhauses gelangen sie zurück zur Straße und umrunden von dort das aufgegebene Mietshaus. Unter der Last des Schutts haben sich die Palisaden des Holzzauns an der Grundstücksgrenze in ihre Richtung geneigt. An den halbhohen, oberseitig angespitzten Holzlatten müssen sie sich nach oben ziehen, womit der beschwerliche Weg beginnt.
Gesteinsbrocken und Mauerwerk bieten noch den besten Halt, während Ziegeln glitschig sein können. Sonstiger Unrat droht zusammenzusacken, Sperrholz unter ihrem Gewicht zu brechen. Erst hervorstechendes Metall komplettiert das Minenfeld. Etwas leichter kommen sie ab der Kammlinie voran, doch spätestens ab hier sind sie zweifelsfrei zu sehen.
Wie es ihnen entscheidend zum Nachteil kommt.
„Da vorn!“, schreit der Offizier. „Sie teilen sich auf!“ Die schwerfällige Tür bleibt hinter ihnen offenstehen. Drei, nein vier an der Zahl. Mit hektischen Bewegungen will der Offizier sie dirigieren, doch sie eilen voraus, rutschen und fallen.
Wieder auf den Beinen, versucht es Sachs dem Flüchtigen gleichzumachen. Nimmt dieselben Tritte und denselben Weg. Und sieht ihn dennoch entkommen, trittsicher und flink. Wie kann er nur? Nach der durchgezechten Nacht und einem Bottich voller Fusel. Es ist die Ortskenntnis, die den Unterschied macht.
Endlich sieht er die Schotterpiste vor sich. Nur ein paar Meter liegt sie unterhalb. Auf der Geraden greift er sich ihn! Er hat schon vor Augen, wie er ihn in den Graben wirft. Wie er seinen Kopf unter Wasser drängt, bis er sich an der brackigen Suppe verschluckt. Für den gründlichen Lungenwaschgang von innen, bei dem ganzen Dreck, den er geraucht hat!
Damit ist er einen Schritt zu weit voraus. Selbst gerät er beim Abstieg ins Schlittern und verliert den Halt. Stürzt und überschlägt sich, bevor er mit dem Gesicht voran in der Jauche landet.
Er stemmt sich hoch und spuckt aus. Kriecht auf allen Vieren, von schmutzigem Wasser triefend, zum Wegesrand. Dabei schmerzten die aufgeschrammten Handballen unter seinem Gewicht. Ärmel und Hosenbeine in Fetzen, der Helm verloren. Nichts davon werden sie ihm ersetzen.
Er stößt leise Flüche aus, als er sich aufrichtet. „So versprech ich’s dir!“, zischt er von sich hin, während er wieder an Fahrt aufnimmt.
Die Gestalt entkommt. Ist schon fast auf Höhe der Einmündung. Dort tummeln sich die Taxis am Vorplatz des U-Bahnhofs. Doch für individuelle Beförderungsmittel reicht das Geld ausnahmsweise nicht. Er sieht ihn noch die Treppen hinunterhasten, bevor ein Konvoi am Fußgängerüberweg vorbeirauscht. Keuchend hält er sich an der Laterne fest, während weitere Autos vorbeifliegen. Herr und Gebieter der Straße ist, wer sich den eigenen Wagen leisten kann. Da sieht er seine Chance kommen und riskiert es. Sie hupen im Akkord, als sein Manöver ihnen eine Neujustierung der Fahrtgeschwindigkeit abverlangt. Mit röhrenden Motoren fegen sie hinter ihm vorüber.
Er erreicht die Treppen und nimmt zu viele Stufen auf einmal. Vornübergebeugt, aber noch auf den Beinen, kommt er unten an und sieht den abfahrenden Zug schneller werden. Er stürzt darauf zu und springt mit Anlauf.
Seine Stiefel streifen die Bahnschwellen bereits, als er sich mit letzter Kraft nach oben zieht. Er hievt sich auf das Trittbrett des letzten Wagens und umklammert den Griff. Sein Glück, dass sie nach der Erhöhung der Taktzahl auch reguläre Waggons im Untergrund verwenden.
In den Randgebieten haben sie die U-Bahn noch nicht elektrifiziert. Rußablagerungen an den Wänden tauchen diese Tunnel in ein unwirkliches Schwarz. Das schmale Licht der Funzel im Innenraum reicht gerade bis zu seinen Händen, bevor es verraucht. Es ist laut und stickig von abgasschwerer Luft. Mit dem Gewehrkolben versucht er sich am Glas der Durchgangstür, doch bekommt kein Schwung dahinter. Die ungeschickte Aktion bringt ihn ins Taumeln, doch das Gewehr, fest von der Rechten umschlossen, lässt er nicht los. Lieber fällt er damit ungebremst auf die Gleise, als es mitten im U-Bahnschacht zu verlieren.
Mit der freien Hand krallt er sich an einer Strebe hinter der Kante fest. Erst das jähe Abbremsen des Zuges lässt ihn das Gleichgewicht zurückgewinnen. Unvermittelt wird Licht. Station Bruchwald. Da stehen sie schon zwischen den Pfeilern bereit, mit Knüppel und Barrett. Sie zerren ihn auf den Bahnsteig, als der Zug noch in Bewegung ist. Holen aus, doch er kommt ihnen zuvor. Hält sich den Linken mit einem gezielten Tritt vom Leib, bevor er dem zweiten den Gewehrkolben in die Rippen rammt. Ungelenk liegt der Kontrolleur der Länge nach vor ihm, als er den Widerstand am Abzug spürt.
„Willst dir wohl die Kasse vom Fahrkartenhäuschen unter den Nagel reißen“, spöttelt der Stehende. „Hör mal, nicht mit uns!“
„Sachte, Bürschchen! Kann bös ins Auge gehen, was du da machst!“ Vorsichtiger im Unterton ist da schon der andere. Aber der hat schließlich auch die Waffe vor Augen.
„Das ist eine polizeiliche Ermittlung“, versucht es Sachs zu zaghaft und glaubt sich mit einem Mal selbst kein Wort mehr. Er senkt die Waffe, zögert aber dem Kontrolleur aufzuhelfen.
„Jaja, die ist gleich da. Verlass dich drauf!“ Die restlichen Kontrolleure kreisen ihn langsam ein, während der Zug mit verriegelten Türen dasteht. Er sieht sich im Fokus aller Blicke und weiß, dass er seinem Anliegen Geltung verschaffen muss, bevor sie ihn überwältigen. Langsam nähert er sich dem Kontrolleur am Boden und tritt heftig zu. Beim Nachtreten spürt er, wie etwas unter dem Impuls nachgibt. Der nachfolgende Aufschrei hält sie auf Abstand. Am Gurt wirft er sich das Gewehr über und greift stattdessen zur Pistole.
„Das ist eine polizeiliche Ermittlung!“ Mit jedem Wort wird er lauter. „Der Erlass des Innenministers überträgt den Streitkräften Polizeigewalt. Zuwiderhandlung ist Sabotage!“
„Endstation, verdammt!“, schreit er, dass sich die Stimmbänder reiben. „Türen auf und jeder wird kontrolliert!“ Einer der Kontrolleure gibt dem Lokführer ein Handsignal, womit die Türen entriegeln.
„Alles Aussteigen!“, tönt es daraufhin ohne weitere Erklärung aus der Lautsprecheranlage. Mit gewisser Routine lassen die Fahrgäste die Schikane über sich ergehen und reihen sich in Schlangen hinter den Kontrolleuren ein.
Im Bogengang dahinter patrouilliert Sachs und nimmt die Aussteigenden in Augenschein. Gerade als er am Treppenaufgang umkehrt, sieht er jemanden durchschlüpfen. Flink genug, dass sich die Kontrolleure schwertun, ihn zu ergreifen. Ein verdammter Läufer.
Er stößt beiseite, wer sich ihm in den Weg stellt. Sieht ihn am oberen Treppenabsatz vom Platz zur Gebäudeschlucht hin abdrehen. Die hohen Dächer ringsum fangen das schwindende Tageslicht ein. Zu beiden Seiten der schmutzigen Gasse ziehen Hühner gackernd ihre Kreise. Vor den Garküchen verweilen sie in übereinandergestapelten Drahtkäfigen. Die Garpfannen werden bereits für die Arbeiter eingeheizt, die gleich aus den Fabriken strömen. Verlockende Gerüche lassen bis dahin unterdrückten Hunger aufkeimen. Er fühlt sich ganz ausgehöhlt, wird kraftloser und schweift ab, sodass er den Treppenaufgang beinahe verpasst. Übler Gestank von den Aborten lässt ihn vom Hunger rasch genesen. Trotzdem werden die Beine mit jeder Stufe schwerer. Im zweiten Stock stolpert er über fallengelassene Einkäufe in die offenstehende Wohnungstür. Dahinter führt sich die Tristesse nahtlos fort. Dünne Matten auf Pritschen gegenüber der Kochnische. Ein Gefängnis mit Türen. Eine weitere führt auf den fortlaufenden Balkon an der Außenfassade. Vergessene Wäsche, vom Nachmittagsregen wieder durchnässt, raubt ihm die Sicht. Doch sie ist noch Bewegung. Nur ein paar Meter weiter geht eine Feuerleiter zur darunterliegenden Brünnlitzer Straße ab. Sachs späht zu beiden Seiten über die Brüstung hinweg. Dann nimmt auch er die Leiter und kommt mit einem gewagten Sprung aus halber Höhe hart auf dem Bürgersteig auf.
Da sieht er ihn vorauseilen, ohne nennenswert aufgeholt zu haben. Doch er bleibt stehen. Wortfetzen und Eindrücke eines lagen Tages fliegen ihm durch den Kopf. Automatisch schnappt die 10,5-Millimeter hervor. Dreißig Meter und mehr.
Die Pistole in beiden Händen, nimmt er ihn vorbei an den Passanten ins Visier. Wieder spürt er den Widerstand am Finger, doch der ist einfach zu überkommen.
Als das Schussfeld frei ist, drückt er ab.



Polizei ist da. Sagen kein Wort.
Offensichtich, was passiert ist.
Hinter blickdichten Aufstellern nehmen sie Spuren auf. Zuweilen werfen sie ihm skeptische Blicke zu.
Er hockt nur da. Gedanken blockieren sich gegenseitig. Sie verstopfen alles und sind für nichts gut, als panische Schnappatmung.
Beherrsch dich!
„Tja, da hast du dich ganz schön reingeritten“, konfrontiert ihn der Kommissar mitleidlos.
„Aber der Lutz der war doch ein kleiner Fisch…“, bringt sein Offizier bestürzt hervor, bevor ihn der Polizist unterbricht: „Personalien bitte!“
„Sachs, Julian“, trägt er kleinlaut vor.
„Weiter!“, blafft er. Sie verewigen alles mit schwarzer Tinte auf einem Formular.
„Als Funktion schreib ich Soldat im polizeilichen Dienst?“
Der Kommissar hat etwas dagegen. „Klingt zu sehr, als wär er richtiger Polizist. Besser: Polizeiliche Hilfskraft seit Inkrafttreten des Erlasses blabla…“
-„Hergang?“
„Nur hervorheben, dass der Flüchtende unbewaffnet war! Der Rest ist offensichtlich.“ Ein bedeutungsschweres Adjektiv, das der Offizier nicht so stehen lassen will, doch der Kommissar lässt nicht mit sich diskutieren. So kurz vor Feierabend ist seine Laune im Keller. Vorbehalte gegen das Militär hegt seine Zunft sowieso. Und aus dem Attribut Unbewaffnet kann das Gericht machen, was es will.
Ungeduldig trippelt der Polizist umher, während der Assistent protokolliert.
„Tatwaffe ist eine Eisenwerke HP 3B, Kaliber 10,5 × 21 Millimeter. Vermerk: Dienstwaffe.“
„Hab ich“, bestätigt der Assistent vorsichtig.
„Hör mal, das mit der Schrotflinte vorhin war doch bloß angetäuscht“, flüstert der Offizier. „Man kann doch nicht einfach…“
„Ihnen ist bewusst, dass ich zuhöre?“, fährt der Kommissar dazwischen.
Der Offizier quittiert es mit einem abfälligen Blick und packt Sachs dann am Handgelenk.
„Der bleibt hier! Soll sich die Sauerei gefälligst schön einprägen“, weist der Polizist den Offizier zurecht. „Ja, schau gefälligst hin! Immer hab ich gesagt, das wird nichts! Keine gescheite Ausbildung und dann ballern sie ohne Sinn und Verstand los, sobald man sie von der Leine lässt. Knall sie doch einfach alle ab, hä?“ Mit einer dümmlichen Grimasse bedenkt er Sachs. „Nur so bekommt ihr eure verdammte Revolution. Oder soll’s doch besser die Militärdiktatur werden?“
„Jaja, unsere Helden in grün. Seid wahre Menschenfreunde, was? Verarschen kann ich mich selbst und die Keller in der Graf-Andreas-Straße hab ich außerdem gesehen!“
„Reiß dein Maul nicht so weit auf, sonst setzt‘s Dienstaufsicht! Wer weiß, was du sonst noch so ausplauderst, wenn der Tag lang ist?“
„Alles nur wegen diesem verdammten Scharfmacher Tönner. Wenn der beim Appell nicht immer so dick auftragen würde! Verkauft uns diesen Nichtsnutz als gefährlichen Subversiven, der drauf und dran ist, sich vorm NKP-Sitz in die Luft zu jagen? Haben in der Bachstraße nicht mal Knallfrösche gefunden! Versoffener Choleriker, die Fahne riecht man bis in den Innenhof! Hat das eigentlich schon mal jemand gesagt?“ Sie tauschen giftige Blicke aus.
„Gemeinhin ist das Gefahrenpotential von Subversiven schwierig abzuschätzen“, deeskaliert der Assistent, als sich die Lage zuspitzt. „Und vielleicht hat die Lutz-Gruppe die Explosivmittel auch nur gut versteckt.“
Lutz-Gruppe“, schnaubt der Offizier spöttisch. Dann lässt er beide stehen. „Ich weiß, wen ich anrufe!“, ereilt ihn ein Geistesblitz. An der Ecke Victor-de-Griesz-Straße steht ein Münzfernsprecher.

Eine Stunde später, nach Einbruch der Dunkelheit, rollt die dunkle Limousine heran und kommt vor der Absperrung zum Stehen. Ein Mann in schneidiger Uniform steigt aus und weist sich am Wachposten aus. Dann macht er sich ein Bild vom Ort des Geschehens.
„Guten Tag, die Herrschaften. Ich danke Ihnen vielmals, Sie können jetzt gehen.“
Ungläubig schüttelt der Wachtmeister den Kopf. „Hören Sie mal, wer auch immer Sie sind: Das ist eine reine Kompetenz der Polizei. So ist es in Anlage 2 des Erlasses vom 24.6 festgeschrieben.“
Er nickt freundlich. „Oberstleutnant Prignitz mein Name, ich vergaß. Sie müssen mich nicht belehren, Herr Kriminalkommissar. Über die Gesetzeslage bin ich mir sehr wohl im Bilde.“ Grübchen zeichnen sich ab, wenn sich sein Lächeln verfestigt. Prignitz trägt die Süffisanz spazieren.
„Schön, dass in diesem Punkt Einigkeit besteht“, übernimmt der Kommissar die falsche Freundlichkeit. „Leider muss ich Sie in einem Punkt enttäuschen, Herr Oberstleutnant. Den Sachs, Julian werden Sie mir nicht entführen. Der verbleibt gewiss in der Obhut der Polizei.“
Milde neigt Prignitz den Kopf. „Gewiss liegt die Entscheidung, sich mit dem Oberkommando anzulegen oder darauf zu verzichten, ganz bei Ihnen, Herr Lehmann. Wollen Sie meinen Ratschlag hören?“
Für einen ausgedehnten Moment hält der Wachtmeister den Blick, bevor er sich zur Seite dreht; der Ärger ist es ihm offenbar nicht wert. Jovial klopft ihm der Stabsoffizier auf die Schulter. „So ist es recht. Bitte händigen Sie mir noch Ihre Aufzeichnungen aus.“ Als die beiden Polizisten zögern, rupft er dem Assistenten das Klemmbrett aus den Händen.
„Vergessen Sie Ihr restliches Zeug nicht!“ Seine Höflichkeit schwindet mit der Geduld.
Erst, als sie allein sind, streift er sich schwarze Lederhandschuhe über. Dann zieht Prignitz einen hässlichen Revolver und legt ihn dem Toten in die Hand. Dabei schließt er die Finger um den Griff, sodass die Fingerabdrücke eindeutig werden. Was er tut, tut er mit einer kühlen Selbstverständlichkeit.
Nickend begutachtet er sein Werk.
Derweil sind weitere Soldaten eingetroffen.
„Schließt das Protokoll ab und schickt das Ganze mit dem Revolver zur Polizei. Kopien gehen nach Marienhöh und in die Graf-Andreas-Straße 60. Dann könnt ihr aufräumen und den Lutz entsorgen.“
Nonchalant schreitet er auf Sachs zu, der lethargisch dahockt, wie er ihn vorgefunden hat. Mit Fingern schnippt er vor seinem Gesicht. „Aufgewacht, Soldat!“, befiehlt er scherzhaft. „Na komm, wir gehen.“ Sachs leistet Folge, woraufhin der Offizier ihm seine 10,5-Millimeter zurückgibt.
„Glatt durchs Genick auf 37 Meter, aller Achtung!“
„Was…“
-„Besprechen wir alles im Wagen.“ Zwinkernd hält er ihm den Schlüssel hin. 8,2-Liter V8, ein Angebot, das sonst niemand ausschlägt, doch eine Reaktion des anderen bleibt aus. Mechanisch wie unterwürfig folgt Sachs dem Stabsoffizier, bis dieser stehenbleibt. „Wir lassen einander nicht hängen, du bist doch einer von uns. Jetzt steig ein!“ Erneut bröckelt seine Freundlichkeit.

Plötzlich sitzt er am Steuer, die Hand auf der Hupe, und lässt Fußgänger am Überweg stehen.
„Na komm!“, fordert ihn der Offizier heraus, als sie die Umgehungsstraße erreichen. „Gib Gas!“ Und sie fliegen davon in dieser absurd übermotorisierten Karre.
Der Tag setzt sich aus konfusen Sequenzen zusammen, wie im Traum. Zeitlicher Zusammenhang und Logik sind längst abhandengekommen. Er sieht schweres, arterielles Blut die Pflastersteine verkleben. Verletzungen, die mit dem Leben unvereinbar sind. Dieser Terminus wurde ihnen beigebracht. Doch selbst wenn die Flammen bereits die Kleidung von der Haut gefressen haben, ist man am Leben. „Hättet ihr nicht mehr abknallen können?“ Formulare segeln wie Flugblätter durch die Luft. Kleine Fische wirft man in den Teich zurück, sagt jeder Angler. Er hingegen hat ihn getötet. Konnte nichts mehr tun, als zum Münzfernsprecher zu rennen. Wertloses Fleisch, zur Entsorgung freigegeben. So viel Gleichgültigkeit, seitens der Polizei, seitens der Offiziere. Aus dem Mord haben beide Parteien nur weiteren Brennstoff für ihre Fehde geschöpft.
„Ein Unverbesserlicher, dieser Lutz. Hat dutzende Chancen verstreichen lassen, sich zu fügen. Stattdessen hat er sich entschieden, Familie und Gesellschaft weiterhin zur Last zu fallen. Das ist Leben: die Summe von Entscheidungen. Und eine weitere falsche mag es unversehens zu Ende gehen lassen!“, redet Prignitz auf ihn ein. Lutz habe es nicht anders gewollt, es provoziert. Wer sich beharrlich weigere, mache sich entbehrlich, wer sich ihnen in den Weg stelle! Prignitz wird unsachlicher, nennt den kleinen Fisch einen Verräter im Kampf um die bewährte Weltordnung. Einen Kollaborateur fremder Mächte. Einen Deserteur. Hinter dem Südbahnhof dirigiert er ihn auf die Ludwig-Lombard-Straße. Er räuspert sich, zieht Zigaretten aus der Innentasche. „Die Polizei ist ein schlechter Verlierer. Sie hat die Kontrolle verloren und wurde dafür gemaßregelt. Dafür wollen sie sich nun rächen! Oder was denkst du, hatten sie mit dir vor?“ Unangetastet steckt er die Zigaretten zurück und tauscht sie gegen ein Notizbuch. „Den unbewaffneten Verdächtigen durch einen Schuss in die Menge getötet“, zitiert er. „So haben stand es im Protokoll! Als schossen wir wahllos auf Unschuldige, als liefen wir Amok. Diese Impertinenz wird er bereuen!“ Geräuschvoll schlägt er das Notizbuch zu und tauscht es zurück, kurbelt am Fenster. „Polizei ist nicht, was sie vorgibt zu sein. Herr Kriminalist, Ihr feines kriminalistisches Gespür ist gefragt… Wir leben in keinem dieser Groschenromane! Stattdessen ist der ganze Apparat marodiert, an Fehlkalkulation und Korruption. Zu lange schon mit der Unterwelt verwoben und dadurch träge geworden. Sattgefressen hat sie den Wandel verpasst und zugelassen, dass sich ein neuer Feind in unseren Hinterhöfen breitmacht. Ein Feind, durch alte Methodik nicht mehr zu kontrollieren! Polizei hat ausgedient, sie wird demontiert. Etwas Neues wird kommen und ich bin damit betraut, es zu errichten!“ Sachs stimmt zu, nickt alles ab, wie er es gelernt hat.

L.-Lombard-Straße 1476-80, an der Hauptverkehrsachse, im Herzen der Stadt. Auf dem Parkplatz reiht er die Limousine zwischen ähnlich überzüchteten Fahrzeugen ein. Es ist der Offiziersklub, den er nur aus Geschichten kennt.
Beinahe verbrüht er sich am warmen Wasser aus der Brause. Er wäscht sich Schweiß und Schlamm und Blut hinunter. Er kennt keinen Ort, wie diesen, keinen Ort, an dem Geldbörsen offen rumliegen. Neu eingekleidet in Hemd und Jackett der feinsten Stoffsorten, betritt er den Wirtsraum und schlurft zu Prignitz herüber. Der ist umringt von weiteren Offizieren, doch verschafft ihm Platz im Kreis. Als er Hände schüttelt, kann er kaum glauben, dem Kriegshelden Neurath persönlich zu begegnen. Unsicher, wie es sich gehört zu reagieren, errötet er, als sie nach ihm fragen.
„Hat einen gefährlichen Subversiven durch die U-Bahn gejagt und letztlich zu Fall gebracht“, springt Prignitz ihm bei und schiebt einen Klaren über die Theke in seine Richtung.
„Gute Arbeit!“, bettet sich das Lob des Militärpolizisten in allgemeines Nicken.
„Wenn ich schon davon spreche“, sagt Prignitz, „ich habe da noch einen für die Liste. Hauptkommissar Lehmann, Direktion 17, wenn ich mich nicht täusche.“
„Geb ich weiter“, antwortet der Ranghöhere. „Sie sind ein sehr nachtragender Mensch, Prignitz.“
Als sich die Runde auflöst, führt Prignitz Sachs zu Tisch und bestellt.
„Wem kann ich die Kleidung zurückgeben?“, platzt Sachs heraus, sobald sie sitzen.
„Sitzt doch.“ Amüsiert winkt Prignitz ab.
„Ich will versuchen, die Uniform zu flicken.“
Unverhohlen lacht Prignitz auf: „Morgen hast du eine neue.“ Er zieht sein Notizbuch hervor und schreibt die Adresse auf eine leere Seite, die er nachfolgend herausreißt. „Du hast wohl noch nicht verstanden: Morgen triffst du deinen neuen Vorgesetzten. Major Wendt“, betont er, „um acht in Marienhöh. Ein guter Mann, wirst viel von ihm lernen.“
Als das Bier kommt, stoßen sie an. „Sei dir der Türen bewusst, die dir damit offenstehen! Durch uns kannst du alles erreichen!“ Prignitz setzt zu einem weiteren großen Schluck an und reicht ihm eine Zigarette. „Hast du ein Mädchen?“
Unsicher nickt Sachs.
„Dann bring sie mit! Nicht zum Stammtisch, versteht sich. Aber wie wär’s hiermit?“ Er weist auf den Tischaufsteller. Darauf ein Portrait der Bourbon, eng ans Mikrofon geschmiegt. Mit ihrem welligen, blonden Haar und den dunkelroten Lippen. Hier, im Offiziersklub, wird sie auftreten.
Sachs stottert, ihm wird heiß. Die wahrhaftige Babette de Bourbon! Beinahe schreckhaft fliegt sein Blick durch den Gastraum. Er sieht ihre Tischmanieren, ihre Eleganz. Imperiale Malerei an den Wänden, Stuck und Kronleuchter an den Decken.
Gewandt platziert Prignitz den Geldschein unter dem Adressblatt.
„Kleidet euch ein und macht euch einen schönen Abend!“, offeriert er.
Sachs hebt die Hände: „Das kann ich unmöglich annehmen!“
„Wie willst du deinem Mädchen bloß erklären, eine solche Gelegenheit ausgeschlagen zu haben?“, entgegnet Prignitz grinsend, woraufhin Sachs das Papier zögerlich zu sich zieht.
Der Offizier greift zum Glas, ohne davon zu trinken. Stattdessen lässt er es unter die Tischkante sinken, während er sein Gegenüber mustert. Dabei flaut sein Lächeln merklich ab. „Ich habe von dem unsäglichen Vorfall gehört, der deine Familie zerriss“, beginnt er verhalten. „Von den Schwierigkeiten deiner Mutter, der Situation um deinen Bruder…“
„Was wissen Sie über ihn?“, entfährt es Sachs. Prignitz beobachtet in unterdies genau.
-„Der Staat hat sich seiner angenommen.“
„Ist er im Heim?“
-„So ist es. Es heißt, seine- eure- Mutter sei in den Alkoholismus abgeglitten und daher außer Stande, für ihn zu sorgen.“
Mit bebender Unterlippe fixiert Sachs sein Gegenüber.
-„Womöglich hat sie den tragischen Vorfall nicht verwunden.“
„Damit hat das nichts zu tun“, murmelt Sachs in sich hinein.
-„Angenommen“, versucht es Prignitz, „du wolltest deinen Bruder zu dir holen, können wir dir das ermöglichen, ganz gleich, wie es das Gesetz für richtig hält.“ Prignitz weiß Bescheid. Zufrieden registriert er, wie Sachs an seinen Lippen hängt.
Als die Filetstücke serviert werden, bietet sich dem Offizier eine willkommene Gelegenheit, das Thema zu wechseln.
 



 
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