Langsam ging Julia durch den langen Flur zu ihrem Klassenzimmer. Der Tornister, den sie trug, kam ihr heute wie ein riesiger Rucksack voll schwerer Steine vor. Am liebsten wäre sie heute morgen zu Hause geblieben und hätte sich in ihrem Bett verkrochen. Am liebsten wäre sie sterbenskrank aufgewacht. Mit Erbrechen oder Fieber, egal. Nur heute nicht zur Schule gehen müssen. Aber nun war sie hier. Sie blickte zur Seite und sah die selbstgemalten Bilder, an denen sie noch letzte Woche zusammen mit ihren Freundinnen fröhlich gemalt hatte. Der schwere Geruch von Bohnerwachs stieg ihr in die Nase. Die anderen Schüler rannten an ihr vorbei. Sie schubsten sich und lachten ausgelassen auf ihrem Weg zu ihrem Klassenraum. Dem Klassenraum der Klasse 3d ihrer Grundschule.
Seit Julia von zu Hause losgegangen war, breitete sich die Angst in ihrem Körper aus wie ein Tropfen Rotwein, der von einer weißen Tischdecke Besitz ergreift.
Warum hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen?
Ihr war doch klar, dass sie beim Anblick ihres eigenen Blutes in Ohnmacht fallen würde.
Ihre Gedanken wanderten zu letztem Freitag zurück, an dem sie und ihre Freudinnen, Ann-Christin, Linda und Hannah, beschlossen hatten, einen Club zu gründen. Einen richtigen Club für richtig mutige Mädchen. Einen Club, für den man eine Mutprobe bestehen musste, um aufgenommen zu werden. Hannah, mit ihren langen braunen Haaren, die sie meistens zu einem Zopf geflochten hatte, schlug vor, sich mit einer Nadel in den Finger zu pieksen. Ann-Christin war sofort hellauf begeistert. Auch Linda, die frisch aus Stuttgart zugezogen war, rief mit ihrem typisch schwäbischen Dialekt: „Subr Idee. Es muss Blud fließa für unsera Club.“
Und Julia? Was tat Julia? Sie war einfach zu feige, ihren furchtlosen Freundinnen zu beichten, dass sie kein Blut sehen konnte. Sie lächelte gequält und stimmte zu.
Mittlerweile saß Julia auf ihrem Platz in der zweiten Reihe. Durch das Fenster zu ihrer linken Seite sah sie die große Kastanie, unter der sie in der Pause oft schützenden Schatten suchte. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die sich schon jetzt ihren Weg in das Klassenzimmer bahnten, streichelten sanft ihren Arm und kündigten einen weiteren heißen Tag im August an. Sie richtete ihren Blick nach vorne auf Frau Fischer, ihre Klassenlehrerin, die am Pult stand und in ihrer Tasche kramte. Julia mochte Frau Fischer. Ihr angenehm blumiges Parfüm, das den Raum erfüllte und ihre hübsche Kleidung. Heute trug sie ein blaues Kleid mit einer weißen Tüllschleife am Kragen. Die langen blonden Haare waren zu einem eleganten Dutt hochgesteckt.
Im nächsten Moment nahm Hannah ihren Platz neben Julia ein. Mit ihren großen, rehbraunen Augen schaute sie Julia triumphierend an und zog eine lange, spitze Nadel aus ihrem Tornister.
„Hier, die habe ich meinen Eltern geklaut. In der ersten großen Pause tun wir es,“ flüsterte sie.
Julia war wie gelähmt und nickte nur stumm. Die ersten beiden Schulstunden kamen ihr vor wie eine Ewigkeit in einer Parallelwelt. Der Schulgong holte sie jäh in die bedrohliche Realität zurück.
Nun stand sie, zusammen mit ihren Freundinnen, in der abgelegendsten Ecke des Schulhofes und hoffte immer noch verzweifelt, dass irgendetwas sie aus diesem fürchterlichen Albtraum befreien würde. Ihr Herz pochte in ihrer zierlichen Brust, wie das eines in die enge getriebenen Tieres.
Linda nahm feierlich die Nadel in die Hand, kniff die Augen zusammen und stach mit Wucht in ihren Zeigefinger. Sie bestaunte das Blut, das langsam aus ihrem Finger quoll und rief voller Stolz: „Geschaffd. Jedzd du.“
Mit zitternden Händen nahm Julia die Nadel an sich. Sie musste sie fest umfassen, damit sie ihr nicht durch die schwitzigen Hände glitt. Sie wehrte sich gegen die aufkommende Übelkeit und rammte sich die Nadel wie in Trance in den linken Zeigefinger. Den Schmerz konnte sie gut ertragen, Julia war nicht wehleidig, aber der Anblick des Blutes entführte sie aus dieser Welt. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich an wie unter einer großen Glocke. Sie hörte die Stimmen ihrer Freundinnen nur noch von ferne und die Gesichter verschwammen vor ihren Augen. Ein Taubheitsgefühl breitete sich in ihrem Körper aus und dann tauchte sie in das schwarze Meer der Ohnmacht ein.
Wie lange sie besinnungslos war, wusste sie nicht mehr. Als sie langsam wieder zu sich kam, fühlte sie sich wie nach einer Reise durch eine fremde Welt ohne jede Erinnerung. Sie hörte Stimmen, die wie von einem weit entfernten Fest zu ihr herüber wehten. Ein Kribbeln durchzog ihren Körper und ganz langsam konnte sie ihre Arme und Beine wieder spüren.
„Ist sie tot?“, hörte sie jemanden wie durch einen Stimmenverzerrer fragen. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht.
„Julia, um Himmels willen, was ist denn passiert?“, hörte sie etwas deutlicher eine andere Stimme. Endlich schaffte sie es, ihre bleischweren Lider zu heben und sich an das grelle Sonnenlicht zu gewöhnen. Verschwommen sah sie Frau Fischer, die sich über sie beugte. Langsam wurde das Bild klarer und sie blickte in hellblaue Augen voller Sorge. Sie wollte antworten, aber sie konnte die Lippen nicht bewegen. Ihr Mund fühlte sich eigenartig verzerrt an und sie schmeckte das warme Blut, das aus ihrem Mundwinkel rann. Als sie merkte, dass ihre Schneidezähne wackelten überkam sie eine Welle der Übelkeit und sie erbrach sich, vor den Augen aller Grundschüler, direkt auf die blauen Pumps von Frau Fischer.
Seit Julia von zu Hause losgegangen war, breitete sich die Angst in ihrem Körper aus wie ein Tropfen Rotwein, der von einer weißen Tischdecke Besitz ergreift.
Warum hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen?
Ihr war doch klar, dass sie beim Anblick ihres eigenen Blutes in Ohnmacht fallen würde.
Ihre Gedanken wanderten zu letztem Freitag zurück, an dem sie und ihre Freudinnen, Ann-Christin, Linda und Hannah, beschlossen hatten, einen Club zu gründen. Einen richtigen Club für richtig mutige Mädchen. Einen Club, für den man eine Mutprobe bestehen musste, um aufgenommen zu werden. Hannah, mit ihren langen braunen Haaren, die sie meistens zu einem Zopf geflochten hatte, schlug vor, sich mit einer Nadel in den Finger zu pieksen. Ann-Christin war sofort hellauf begeistert. Auch Linda, die frisch aus Stuttgart zugezogen war, rief mit ihrem typisch schwäbischen Dialekt: „Subr Idee. Es muss Blud fließa für unsera Club.“
Und Julia? Was tat Julia? Sie war einfach zu feige, ihren furchtlosen Freundinnen zu beichten, dass sie kein Blut sehen konnte. Sie lächelte gequält und stimmte zu.
Mittlerweile saß Julia auf ihrem Platz in der zweiten Reihe. Durch das Fenster zu ihrer linken Seite sah sie die große Kastanie, unter der sie in der Pause oft schützenden Schatten suchte. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die sich schon jetzt ihren Weg in das Klassenzimmer bahnten, streichelten sanft ihren Arm und kündigten einen weiteren heißen Tag im August an. Sie richtete ihren Blick nach vorne auf Frau Fischer, ihre Klassenlehrerin, die am Pult stand und in ihrer Tasche kramte. Julia mochte Frau Fischer. Ihr angenehm blumiges Parfüm, das den Raum erfüllte und ihre hübsche Kleidung. Heute trug sie ein blaues Kleid mit einer weißen Tüllschleife am Kragen. Die langen blonden Haare waren zu einem eleganten Dutt hochgesteckt.
Im nächsten Moment nahm Hannah ihren Platz neben Julia ein. Mit ihren großen, rehbraunen Augen schaute sie Julia triumphierend an und zog eine lange, spitze Nadel aus ihrem Tornister.
„Hier, die habe ich meinen Eltern geklaut. In der ersten großen Pause tun wir es,“ flüsterte sie.
Julia war wie gelähmt und nickte nur stumm. Die ersten beiden Schulstunden kamen ihr vor wie eine Ewigkeit in einer Parallelwelt. Der Schulgong holte sie jäh in die bedrohliche Realität zurück.
Nun stand sie, zusammen mit ihren Freundinnen, in der abgelegendsten Ecke des Schulhofes und hoffte immer noch verzweifelt, dass irgendetwas sie aus diesem fürchterlichen Albtraum befreien würde. Ihr Herz pochte in ihrer zierlichen Brust, wie das eines in die enge getriebenen Tieres.
Linda nahm feierlich die Nadel in die Hand, kniff die Augen zusammen und stach mit Wucht in ihren Zeigefinger. Sie bestaunte das Blut, das langsam aus ihrem Finger quoll und rief voller Stolz: „Geschaffd. Jedzd du.“
Mit zitternden Händen nahm Julia die Nadel an sich. Sie musste sie fest umfassen, damit sie ihr nicht durch die schwitzigen Hände glitt. Sie wehrte sich gegen die aufkommende Übelkeit und rammte sich die Nadel wie in Trance in den linken Zeigefinger. Den Schmerz konnte sie gut ertragen, Julia war nicht wehleidig, aber der Anblick des Blutes entführte sie aus dieser Welt. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich an wie unter einer großen Glocke. Sie hörte die Stimmen ihrer Freundinnen nur noch von ferne und die Gesichter verschwammen vor ihren Augen. Ein Taubheitsgefühl breitete sich in ihrem Körper aus und dann tauchte sie in das schwarze Meer der Ohnmacht ein.
Wie lange sie besinnungslos war, wusste sie nicht mehr. Als sie langsam wieder zu sich kam, fühlte sie sich wie nach einer Reise durch eine fremde Welt ohne jede Erinnerung. Sie hörte Stimmen, die wie von einem weit entfernten Fest zu ihr herüber wehten. Ein Kribbeln durchzog ihren Körper und ganz langsam konnte sie ihre Arme und Beine wieder spüren.
„Ist sie tot?“, hörte sie jemanden wie durch einen Stimmenverzerrer fragen. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht.
„Julia, um Himmels willen, was ist denn passiert?“, hörte sie etwas deutlicher eine andere Stimme. Endlich schaffte sie es, ihre bleischweren Lider zu heben und sich an das grelle Sonnenlicht zu gewöhnen. Verschwommen sah sie Frau Fischer, die sich über sie beugte. Langsam wurde das Bild klarer und sie blickte in hellblaue Augen voller Sorge. Sie wollte antworten, aber sie konnte die Lippen nicht bewegen. Ihr Mund fühlte sich eigenartig verzerrt an und sie schmeckte das warme Blut, das aus ihrem Mundwinkel rann. Als sie merkte, dass ihre Schneidezähne wackelten überkam sie eine Welle der Übelkeit und sie erbrach sich, vor den Augen aller Grundschüler, direkt auf die blauen Pumps von Frau Fischer.