Kleine Nachtgeschichte

Kyra

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Die Nacht

Ich sitze in der früh einbrechenden Dämmerung an meinem Computer und arbeite an einer Übersetzung. Die Dunkelheit erobert langsam die Ecken meines Arbeitszimmers, kriecht unter dem Schreibtisch hervor, umfängt meine Beine und lässt das Bücherregal im Schatten verschwinden. Wie liebe ich den November, das Licht wagt sich selbst am Tage nur verschämt hervor, diese Wintermonate gehören ganz der Nacht – sonnige Stunden kürzt sie herrisch ab, siegt über Fruchtbarkeit und Wärme. Am Computer zu schreiben habe ich vom ersten Augenblick an genossen, so kann ich im dunklen weiter arbeiten, muss die einbrechende Nacht nicht mit Lampenlicht vertreiben. Wir, die Nacht und ich, gehören zusammen soweit meine Erinnerung zurückreicht - als Knabe habe ich mir eine Stadt in einer riesigen Höhle erträumt, dort zu leben war mein Wunsch, zusammen mit anderen Menschen die genauso fühlen wie ich. Heute ist das Verhältnis zwischen der Dunkelheit und mir sehr intensiv, aber auch schwierig geworden – ich kenne sie inzwischen sehr gut, die Nacht. Ich weiß um ihre Wünsche, höre ihre Befehle, verstehe ihre Gebote, sie ist sehr fordernd und manchmal habe ich ein wenig Angst vor ihrer Macht über mich. So habe ich mir schon seit Jahren abgewöhnt, alleine in der Dunkelheit meine Wohnung zu verlassen, da ich zuhause arbeite, kann ich es mir so einrichten.
Erst als mein Zimmer völlig dunkel und der Monitor die einzige Lichtquelle ist, mache ich Schluss für heute. Kaum ist dieses letzte Licht erloschen, fühle ich wie meine Freundin Besitz von mir ergreift. Oft habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht die Schwärze anders empfinden kann, als normale Menschen, mit einem Sinn ausgestattet bin, den sonst niemand besitzt. Aus vielen Gesprächen weiß ich, die Meisten empfinden Dunkelheit als Abwesenheit von Licht – bei mir ist es genau umgekehrt, das Licht ist Blendwerk, eine vorübergehende Störung, die Nacht die immerwährende Wahrheit.
Ich gehe ins Wohnzimmer und lege mich auf das Sofa, in meiner Wohnung brauche ich kein Licht, um mich zurechtzufinden, aber auch sonst scheine ich über Katzenaugen zu verfügen, so kann ich in tiefster Nacht ohne Mühe über unbeleuchtete Wege gehen, ohne zu straucheln. Aber diese nächtlichen Wanderungen unterlasse ich schon lange, denn die Wünsche meiner Gefährtin könnten mich in Schwierigkeiten bringen – ihr etwas auszuschlagen wäre mir kaum möglich. So liege ich jetzt hier, sehe in den Großstadthimmel, der leider nie ganz schwarz wird und spreche mit ihr – eine geflüsterte Unterhaltung, in der ich ihr alles sage, was mir durch den Kopf geht. Zu lügen hätte sowieso keinen Sinn, sie kennt mich besser als jeder mögliche Gott, ich erzähle der Nacht von meiner Sehnsucht, von meiner Liebe zu ihr – aber auch von den schmerzhaften Dingen die das Tageslicht mir zeigt, meiner Einsamkeit und den unwissenden Menschen um mich herum. Die Dunkelheit ist eine gute Zuhörerin, weiß auf meine Fragen immer eine Antwort, so hat sie mich mit ihrer Weisheit über die anderen Menschen erhoben, mich zu ihren Füssen gesetzt - weit entfernt von all dem menschlichen Gedankenunrat, mit dem sich die Leute befassen. Ihre Stimme kann ich deutlich vernehmen, so eindringlich und direkt wie keines Menschen Wort je sein könnte. Von ihr weiß ich alles über die Entstehung des Weltalls; über die Gedanken der anderen, ihre Vermutungen und Spekulationen, kann ich nur lachen. Heute berichte ich ihr von dem dummen Buch das ich übersetzen muss, eine sehr banale Liebesgeschichte, von der sich mein Arbeitgeber aber einen großen Erfolg verspricht. Ein Buch, das von einer Geschäftsfrau berichtet, die sich unsterblich in einen Scheich verliebt, dann das übliche hin und her, schließlich ein herbei gezaubertes Happy End unter Palmen. Meine Gefährtin besänftigt mich, verspricht mir, dass all dies bald ein Ende hat – es sind nur noch wenige Jahre die uns trennen. Das unerwartete Läuten des Telefons reißt mich aus dem Gespräch. Um diese Zeit, es ist erst acht Uhr, kann es sowohl meine Mutter, als auch eine meiner Schwestern sein. Etwas ungehalten nehme ich den Hörer ab, zu meinem großen Erstaunen meldet sich mein Chef. Etwas langatmig erklärt er mir, dass er unbedingt sofort die bereits fertige Übersetzung haben müsse – mit Internet kenne er sich leider nicht aus, also wäre es bedauerlicherweise nötig, ihm das Manuskript direkt zu bringen. Während ich etwas einsilbig zusage, sofort vorbeizukommen, werde ich von Glücksschauern geschüttelt – ich werde gleich draußen bei ihr sein, bei der wilden Schwester meiner häuslichen Nacht. Die Finsternis unter freiem Himmel, in den Gassen der Stadt ebenso wie draußen im Wald, ist viel leidenschaftlicher, sucht mich zu verführen, wispert mir ihre Befehle ins Ohr, dass ich ihr kaum widerstehen kann. Ungeduldig steh ich im Mantel neben dem Drucker als er die letzten Seiten auswirft, packe sie schnell zusammen, um meiner Geliebten nach sehr langer Zeit wieder im Freien zu begegnen.
Schon als ich in das Treppenhaus trete, nimmt sie mich übermütig bei der Hand, würde jetzt jemand den Lichtschalter drücken, ich weiß nicht was ich täte.
Leider wohnt mein Verleger nur wenige Strassen weiter, wie gerne hätte ich einen langen Weg vor mir gehabt. Glücklicherweise wohne ich in einem stillen Vorort, es herrscht kein Verkehr, die Menschen haben sich in ihren Häusern verkrochen. Ich gehe so langsam wie möglich, versuche jeden Augenblick auszukosten, mir jeden Schatten einzuprägen, Schwung, Form, die Tiefe und Schwärze. Ich komme mir wie ein verliebter Schüler vor, bin so berauscht vom Glück, dass ich jauchzen könnte. Jetzt erst bemerke ich die Frau, die wenige Schritte vor mir geht, sie trägt dunkle Kleidung, sofort finde ich sie sympathisch, keine von denen die versuchen das Licht auf sich zu ziehen. Sie geht mit ebenso bedächtigen Schritten wie ich, als wolle sie auch die Zeit hinauszögern, bis sie wieder in einen erleuchteten Raum muss. Als wir ein Stück weiter eine erloschene Laterne passieren, bin ich sehr versucht sie anzusprechen, wie lange suche ich schon eine verwandte Seele. Im letzten Augenblick besinne ich mich eines Besseren, weiß ich denn, ob mich die Finsternis mit jemandem teilen will? Wir leben schon so lange zu zweit, warum sollte ich das jetzt ändern, was wäre der Preis? Lächelnd bleibe ich stehen, lasse die Frau alleine weitergehen – trotzdem freue ich mich vielleicht einen geistesverwandten Menschen getroffen zu haben. Ich lehne mich an die Laterne, die mich mit ihrem Licht verschont, in dieser Nacht eine Verbündete, mich überkommt der Drang zu Lachen – eine wirklich ungewöhnliche Verbündete; sofort entschuldige ich mich bei der Dunkelheit, aber es ist das Glück, was mich so übermütig macht. Das Schlagen einer Autotür lässt mich aufsehen, die Frau muss in einen der geparkten Wagen gestiegen sein, im nächsten Moment höre ich den Motor anspringen, dann geschieht etwas schreckliches, Scheinwerfer grellen auf. Die Arme schützend vor das Gesicht gehoben, laufe ich auf das Auto zu. Das Gesicht der Frau sieht mich erschreckt durch die Windschutzscheibe an, ich schreie sie an sofort das Licht zu löschen. Sie versteht mich nicht, die Lichtkegel kommen auf mich zu, ich muss die Dunkelheit schützen, werfe mich gehen ihren Feind, zwinge die Fahrerin zu bremsen. Ich reiße den Schlag auf, versuche den Lichtschalter zu finden. Diese Frau ist wohl doch völlig anders, als ich vermutet hatte – sie wehrt sich, schreit, will meine Freundin verjagen. Ohne zu zögern verschließe ich die Schreie in ihrem Hals, lösche das Licht und gehe weiter. Zuerst bin ich noch aufgeregt, aber meine Geliebte umfängt mich so tröstend und sanft, dass ich bald wieder ruhig atmen kann. Nachdem ich das Manuskript bei meinem Verleger abgegeben habe, schlendere ich Nachhause, um die Nacht mit meiner Nacht zu verbringen.
 

Breimann

Mitglied
Kompliment

Hallo Kyra,
zunächst ein Kompliment für deinen guten Schreibstil, deine flüssig zu lesende Geschichte.
>Die Dunkelheit ... erobert ....kriecht ... umfängt ... und lässt verschwinden.<
Das ist es, was ich suche, gerne entdecke und leider so oft bei den vielen Stücken hier und überall vermisse.
Zunächst denkt man bei der Nachtgeschichte an eine ganz „normale“ Schwäche des Schreibers für die Nacht; hält es für eine Alltagsschilderung. Dann, ganz langsam führt uns die Erzählung zu der Erkenntnis, dass der „Ich-Erzähler“ von der Norm abweicht. Zeile für Zeile wird man darauf vorbereitet, dass sich etwas ereignen kann (oder muss)!
Dann, auf der Straße, wird deutlich, dass der Wahnsinn längst im Kopf sitzt. Ein Wahnsinn, der jede Störung der „Nacht-Beziehung hart bestraft.
Wie gesagt, gut geschrieben, mit dem vollendeten Spannungsbogen.
Liebe Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ei,

welch irreführender titel! ick denke, na, nu jibts n hübsches kleines märchen - hab wohl übersehen, wer der autor is. am ende kann man nur noch sagen, daß der protagonist letztendlich nicht nur die nacht, sondern den rest seines lebens in völliger umnachtung verbringen wird. haste 10 punkte locker verdient. ganz lieb grüßt
 



 
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