lyrisches Ich
Hm, noch mal ein bisschen was zum lyrischen Ich
Orientierungsfigur in der Textwelt und in der Kommunikation mit dem Leser:
der Leser setzt bei jedem Gedicht voraus, dass es einen Sprecher gibt, der einen bestimmten Standort einnimmt, einmal in seiner Welt der Impressionen, dann in seiner Beziehung zum Leser.
Das heißt, wir erleben mit seinen Augen Raum und Zeit der Welt, die im Text angesprochen wird. Außerdem hat dieser Sprecher vielleicht so etwas wie eine mehr oder weniger deutliche Einstellung zur Welt, vielleicht sogar so etwas wie eine "Weltanschauung". Auch die ist mehr oder weniger deutlich spürbar. Das lyrische Ich ist so die Orientierungsfigur, die in einem Gedicht eingebaut ist.
Das gilt auch dann, wenn wir den Eindruck haben, dass die Orientierungsfigur für sich allein die Welt ausbreitet, also sozusagen für sich meditiert. Gedichte sind zunächst einmal kleine Selbstgespräche. Zunächst einmal.
Textsignale:
Oft, aber nicht immer taucht im Text das Pronomen "ich" auf, dann haben wir sozusagen ein deutliches Signal für die Anwesenheit der Orientierungsfigur. Das Signales kann auch verdeckt dasein, etwa bei dem Imperativ "schau". In dieser Befehlsform gibt es einen Sprecher, der einen anderen anspricht ("Ich sage dir, du sollst schauen").
Auch wenn es überhaupt keine Pronomen-Signale gibt, spüren wir die Anwesenheit eines solchen lyrischen Ichs oder setzen sie voraus. Das ist einfach unsere aus dem Alltag abgesicherte Kenntnis, dass es keine sprachliche Äußerung ohne Sprecher gibt.
Beziehung zum realen Autor:
Ähnlich wie in einem Nachttraum oder in einem Tagtraum Figuren auftauchen können, die in sehr enger Verbindung zum träumenden Ich stehen (man träumt von sich selber) oder aber fremder sind, aber eben doch vom realen Ich geträumt werden, ähnlich ist die Beziehung des realen Autors zum Gedicht und dessen lyrischen Ich. Enger, ganz eng oder weiter.
Ich denke, dieses "lyrische Ich", dieses "Poetische Ich" ist für uns Leser eine Art von Einstiegsstelle in den Text. Besonders schnell zugänglich, wenn wir eben ein deutliches Textsignal finden, wie es die Pronomen der ersten Person sind.
Das "poetische Ich" und das "Ich" in Alltagskommunikation
Das "poetische" oder "lyrische" Ich ist ein bisschen anders als das "Ich" der Alltagskommunikation. Hier wird oft von einem sehr individuellen Ich eine Aussage gemacht, das Ich ist ganz konkret.
Das "poetische Ich", das "lyrische Ich" ist zwar auch sehr individuell, wird aber vom "Gesprächspartner", der sich ja für kurze Zeit aus seiner Alltagswelt von Beruf und Arbeit und drängenden Fragen bei der Lektüre zurückzieht, als ein "offenes Ich" verstanden. Es schenkt uns die Option, uns auf Standort und Standpunkt einzulassen, uns sozusagen für die Zeit der Textlektüre mit dem lyrischen Ich zu identifizieren und in einer Art von meditativer Trance den Bildern, Gefühlen und Erinnerungen nachzugehen, die das lyrische Ich formuliert und die beim Leser ausgelöst werden.
Dass wir oft auch in der Alltagskommunikation, wenn sie tief und herzlich ist, unser Ich öffnen können und dass wir umgekehrt oft Gesprächspartner finden, die sich ganz auf unsere momentane Situation einlassen, das ist kein logischer Bruch oder Widerspruch in den vorigen Ausführungen: Vielmehr zeigt es, wie aus dem Alltag bekannte Erscheinungen, wenn sie sich besonders verdichten, das entsteht, was wir Literatur nennen.
Poetischer Mehrwert:
Sprache ist eine System von Worten und Wortverbindungsregeln. Worte sind eigentlich gemeinsame Abkürzungen für gemeinsame Vorstellungen. Vorstellungen, das wissen wir, können oft sehr umrisshaft bleiben.
Ein Adler ist in der Normalsprache erstmal nur ein großer Vogel mit ganz bestimmten biologischen Merkmalen, die ihn von anderen Vögeln absetzen. Daneben schafft es aber die Sprache auch, all das, was noch in einem Adler "drinsteckt" anzuskizzieren: Seine Bedrohlichkeit, seine Wildheit, seine Majestät. Vielleicht kann man diese Zusatzvorstellungen als "poetische", als bildsatte Vorstellungen bezeichnen.
Poesie ist oft - nicht immer - darauf aus, mittels Sprache die Alltagsvorstellungen und ihren poetischen "Mehrwert" zu fassen. In der "Kleinen Offenbarung" ist so ein "Mehrwert" da, es leuchtet ein magischer Moment auf, der plötzlich für das lyrische Ich Bedeutungen entfaltet, die im oberflächlichen Schauen beiseitebleiben (müssen.
Magische Momente und Epiphanien:
Naja, und wir erleben und entdecken das, weil das lyrische Ich uns an seiner tieferen Vorstellungswelt teilhaben lässt. Weil es eine Situation aufbaut, die sehr genau gestaltet ist, da gibt es ein setting, da gibt es wie in der Musik Leitmotive, Entsprechungen und Kontraste. Da gibt es einen Zeilenumbruch, der bestimmte Wörter plötzlich isolierter hervortreten lässt. Da gibt es einen freien Rhythmus, der doch bestimmte Wortfolgen markiert.
Eine kleine Epiphanie, eine wunderbare Erscheinung, ein Erkenntnismoment ohne abstrakte, nüchterne oder gar wissenschaftliche Sprache.
Wenn man heutige Forschungen zum Religiösen anschaut, dann findet man schon eine Übereinstimmug in den Schulen: Es scheint Bewusstseinregionen zu geben, die bei bestimmten Signalen angeregt werden: Es gibt bei der Beobachtung der Natur das Gefühl, es mit etwas Erhabenem zu tun zu haben, sei es wild oder gütig oder indifferent. Es gibt das Gefühl, dass es eine unsichtbare Macht gibt, die uns schützt oder uns vernichtet oder was auch immer.
In der Musik, in der Meditation, in Gebeten, in der Dichtung, vielleicht besonders stark in der Lyrik, entstehen solche Ahnungen voneiner Macht außerhalb von uns. Versteckt, aber fühlbar in den "Dingen" der Welt.
Ob so eine Macht wirklich existiert, lässt sich kaum prüfen. Ob sie eine Illusion ist, die unser Gehirn uns vorgaukelt, ist kaum entscheidbar. Dass Texte uns ansprechen, dass sie solche Bilder und Modelle in unserem Bewusstsein wachrufen, ist sicher real.
Die Sehnsucht und die Bedürfnisse vieler kann man in diesem Forum erleben, auch kann man erleben, dass Texte Sehnsüchte ein bisschen stillen. Das ist gar nicht wenig.
Salute
mit der Bitte, die vielen Zeilen nicht als oberlehrerhafte Belehrung zu verstehen, selbst wenn es dem bedenklich nahekommt.
Einen wunderschönen Tag, auch wenn er grausam heiß ist, wünscht