Kleiner Bruder (Sonett)

Die Patin schaudert vor dem Bild der Bombennacht,
so viel Entsetzen sei für sie nicht zu ertragen.
Auch ich schau ungern hin, auch mir schlägt’s auf den Magen:
Wie geht es Ashraf wohl? Hat er schon schlapp gemacht?

War es denn nicht Verrat, als mit den Meinen ich
den langen Weg der Flucht nach Norden angetreten?
Er ist erst vierzehn Jahr'! Ich kann für ihn nur beten.
Verachtet er mich jetzt, weil ich davon mich schlich?

Ich träume oft davon, dass ich aus Trümmern ihn,
den ganz Zerschmetterten, mit Riesenkräften ziehe.
Die Hand umklammert noch eine Kalaschnikow.

Doch er ist tot und war so klug, so witzig, kühn,
wollte sein Land befrein und scheute keine Mühe.
Gebt mir das Lithium. Ich brauche diesen Stoff.
 

Walther

Mitglied
Moin Eike,

da hast du dich einen gewaltiges thema gewagt, und das gleich sechshebig. hut ab. das sonett ist ein gefährliches monster. es saugt alles vermögen in sich, und wehe, das reicht nicht für 14 verse.

die hohe kunst ist es, die satzmelodie mit dem strophe zusammenzubringen. das ist dir leider nicht immer gelungen:

* da wären in s2 eigentlich alle verse zu bemängeln, ganz besonders aber die 2. hälfte von s2v4, nach der zäsur

* das gleiche gilt für das erste terzett; hier will sich der lange satz in v1 und v2 einfach nicht ohne eine auffällige umstellung des satzbaus in die reime und das metrum fügen, das dann in v3 (eine statt eine) in einem hebungsprall zuflucht nehmen muß

* auch das zweite terzett, hier schwächeln wir sonetter gern, hat diesen effekt in s2 (wollte statt wollte); im letzten vers dann eine inhaltliche wendung aus dem nichts.

zusammengefaßt: hier wollte der autor mehr, als mit dem sujet und den dafür eingesetzten mitteln möglich war. das ist nicht so wirklich dramatisch, weil der text immer noch um vieles besser ist, als was man sonst sonettend liest. dennoch denke ich fast, daß dem autor diese einschätzung sicherlich nicht genügt, um damit richtig froh zu sein - ich bedauere das sehr, aber es ist eben, wie es eben ist ...

lg W.
 
Hallo Walther,
vielen Dank für Deine ausführliche Beschäftigung mit dem Text. Das Thema kam mir gar nicht so gewaltig vor, unsicher war ich vor allem wegen der Maske, die ich mir überstülpte: Wird sie funktionieren? Glaubt man sie mir? Und wenn man sie mir nicht "abnimmt", ist sie dann trotzdem als Verfremdung akzeptabel? Ist nicht das Sonett der Inbegriff einer ehrlich-bekenntnishaften Gedichtform? Darf man in ihm zum Rollenspiel greifen? Würde der Text dann nicht eigentlich in ein dramatisches Genre fallen? Aber dramatische Rubriken sehe ich hier keine ...
Die Übereinstimmung von Satz- und Versmelodie - klar, ein Ideal, das aber auch leicht ins Leiernde abdriften kann. Leichte Umstellungen schienen mir verkraftbar - vor allem im Munde meiner Maske.
Die von Dir monierten Stellen im Sextett ("eine" und "wollte") sind bewusst akzeptierte Stolpersteine, beim Vortrag falle ich in Prosaton, der als Kontrast das Sanghafte der durchrhytmisierten Sprache wieder spürbarer macht. Nicht Formerfüllung allein macht das Sonett - sondern auch Lebendigkeit.
Aus dem Nichts kommt die letzte Zeile für mich nicht. Sagt Dir Lithium nichts? Ich hatte auch den Handelsnamen des Medikaments (Hypnorex) in Erwägung gezogen. Aber das klang mir zu sehr nach Schlaftablette!
Mit Gruß und Dank
E. L.
 

Walther

Mitglied
Moin Eike,

am liebsten würde ich jetzt sagen, deine begründungen hätte ich so noch nie gelesen, um weniger gelungenes zu rechtfertigen - habe ich aber. mein klarer standpunkt: lege sie in den schrank und arbeite am text. sie machen mich traurig lächeln und heben meinen respekt vor dem autor dieses texts nicht gerade.

zum thema Lithium: aber klar weiß ich, wozu man das gibt. wenn den damen und herren seelenklempnern nichts mehr einfällt, ist das leider immer noch die chemiegabe der wahl, um manisch depressive einzuhegen. paßt also gar nicht, wie ich bereits schrieb.

mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Lithiumtherapie

du siehst also, daß dein text und seine darbietung bei mir nicht überzeugen. das ist nicht wichtig, weil ich nur meine ansicht vertrete und lyrik immer geschmacksache ist. aber hier stimmt das handwerk nicht, wie man es auch wenden mag.

eine bitte am schluß: erkläre mir nicht, was ein sonett ist. wenn ich etwas weiß, dann das. das gilt übrigens auch für den lieben James und einige andere hier, darunter den redakteur Bernd etc. pp., das ganz nebenbei, da du ja noch neu bist.

lieber gruß W.
 
Hallo Walther,
à propos Lithium: Es wird auch gegeben, um die Wirkung von Antidepressiva zu verstärken. Passt also gut.
Und vielen Dank für den Hinweis, dass ich Dir nicht erklären soll, was ein Sonett ist. Aber es mir selber erklären und meine Meinung kundtun, das darf ich doch, oder?
Nicht verstanden habe ich, was das mit dem "lieben James" (wahrscheinlich Blond) und "einigen anderen hier" (welchen?) und dem Redakteur Bernd zu tun hat. Soll ich auch denen gegenüber mich in puncto Sonetterklärung zurückhalten - oder sollen auch die sich Dir gegenüber in dieser Hinsicht zurückhalten? Vielleicht könntest Du das klarstellen.
Was ein Sonett ist, frage ich mich immer wieder, wenn ich eins schreibe: Ist es eine ehrwürdige Gedichtform aus dem Mittelalter, die man mit beliebigen Inhalten füllen kann (also neuer Wein in alte Schläuche) - oder ist es eine Spielwiese für Zwangsneurotiker, die Regelerfüllung mit Kunst verwechseln - um dann doch meist nur im Kunsthandwerk zu landen?
Wohlgemerkt: Dies sind Fragen, die ich mir stelle und die ich zu verlautbaren wage, obgleich (oder weil?) ich hier noch neu bin.
Gruß
E.L.
 



 
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