Kleinöde

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Mistralgitter

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fremde DNA? völlig falsch!

Es ist und bleibt dein Text. Daran hat sich nichts geändert, es sind nur die Schreibfehler draußen - ich war dein Rechtschreibprogramm. Außerdem kannst du nach dem Kopiervorgang doch weiter dran ausbügeln, was dir nicht gefällt... Also nix fremde DNA! Sowas aber auch!
So, und nun bin ich weg!!
 

rothsten

Mitglied
Der Schauer ist vorüber. Schon wagen sich erste Strahlen durch die zügig wandernde Wolkendecke. Sesmak Torquil braucht nicht aus dem Fenster zu schauen, um auf das Ende des Regens zu warten. Er muss auch nicht dem Wind lauschen oder ob es noch prasselt. Er weiß es auch so. Sein ganzes Leben verbrachte er hier auf Islay, einer Insel, nicht schottisch, nicht irisch. Hier regnet es jeden Tag, hier scheint jeden Tag die Sonne und in der meisten Zeit dazwischen drücken kräftige Böen kreischende Möwen vor sich her.

Sein Magen knurrt, es ist Mittag. Sesmak hat keine Frau mehr, die für ihn kocht. Seit fünf Jahren liegt sie auf dem Friedhof inmitten der alten Gräber seines Clans. Dutzende musste der Clan der Torquils damals begraben, als sie in die große Schlacht gegen die MacKenzies gezogen waren. Sie wären für ihre Heimat gestorben, hatte ihm früher der alte Finlaggan erzählt. Oft schwänzte Sesmak die Schule, um mit dem Alten Lachse fischen zu gehen, und da sie selten anbissen, blieb viel Zeit für all die Geschichten über den Clan, über die MacKenzies, über die Lords of the Isle. Oder einfach nur, wie man am besten das Loch in Sesmaks Hose stopfen sollte, damit seine Mutter nichts bemerkte.

Das Grab seiner Frau ist das jüngste, hier wurden seit Langem keine Torquils mehr beerdigt. Aus dem Küchenfenster kann er den Friedhof sehen und darauf das große Steinkreuz ihres Grabes. Er kann seither nicht mehr in der Küche sitzen und essen, also zieht er sich seinen fleckigen Fleece-Pulli an, um in der Cafeteria der Brennerei Kildalton zu speisen, dort, wo er von der Lehre bis zur Rente gearbeitet hatte. Der Pulli spannt ein wenig am Bauch. Die Mahlzeiten in Kildalton sind einfach, aber fett und gehaltvoll, ähnlich wie der Whisky, für den er all die Jahre den Torf gestochen hatte. Er ist über siebzig. Heute machen das die Maschinen.

Wo einst sein rechtes Auge war, gähnt seit Jahrzehnten eine Hautmulde. Die Naht ist noch zu erahnen. Er hatte es verloren, als er besoffen war. Wie es passierte, weiß keiner, am wenigsten er selbst; kompletter Filmriss. Er war alleine auf dem Heimweg. Ein Glasauge brauche er nicht, hatte er damals gesagt, hier wisse doch eh jeder, dass es nicht echt sei, das sähe ja albern aus. Er trage die Narbe und halte sie in Ehren. Als Erinnerung an den Verkauf der Brennerei an die Thinwater & Sons Company, dem Investor aus den Staaten, der an jenem Tag die meisten von ihnen entlassen hatte. Er hätte ein Auge auf die Yankees geworfen, sagte er später, und der ganze Pub grölte.

Das war viele Jahre her. Nun schaut er kurz noch in den Spiegel, denn sein langer, weißer Vollbart hält häufig Laub, Frühstück oder anderes lustiges Zeug gefangen. Er schnappt sich den Auto-Schlüssel und verlässt das Haus. Die Haustür lässt er offen, sie ist nur angelehnt. Er steigt in seinen klapprigen Toyota Corolla ein, der Lack ist bereits vor Jahren ins Ziegelrote verblasst. Tim, sein Nachbar, ist ein begnadeter Schrauber und hält die Karre am Laufen. Mittlerweile habe er sogar Rasenmäher darin verbaut, behauptet Tim stolz bei jeder Gelegenheit.

Die Straße ist einspurig, alle hundert Meter gibt es eine Haltebucht, damit andere Wagen vorbei können. Heute kommen ihm vorwiegend Fremde entgegen. Sie kommen vom Festland. Stündlich wirft die Fähre eine Horde von ihnen bei Port Ellen auf die Insel. Jedes Mal, wenn ihn ein fremder Wagen passiert, reckt er den Zeigefinger seiner Steuerhand zum Gruße. Die Fremden winken stets zurück, mit dem ganzen Arm, als ob sie einen lange nicht gesehenen Freund begrüßten, manchmal auch, als ob sie Wespen verscheuchten. Hin und wieder liegen Schafe auf dem Asphalt, um sich zu wärmen. Sie winken nicht, sie liegen einfach nur da und weichen erst, wenn man ganz langsam auf sie zufährt. Sesmak mag Schafe.

Er fährt weiter, vorbei an Felsen, deren Alter hinter Moos und Flechten versteckt zu sein scheint, vorbei an dornigen Büschen und niedrigen Bäumen. Der Sturm duldet auf dieser Insel keinen Hochmut. Er passiert eine Hügelkette, auf der die einstige Trutzburg der Torquils thronte, bevor sie von den MacKenzies geschliffen worden war. Heute aber scheint ein guter Tag zu sein, denn plötzlich taucht auf einem Vorsprung unweit der Straße eine Gruppe Damwild auf. Er hält an. Ein mächtiger Hirsch stellt sich auf, sein Geweih trägt die Last schwerer Kämpfe. Es ist Brunftzeit. Auf Islay heißt es, sie beim Kampf zu beobachten stärke den Mut für die kommende Schlacht. Sesmak und der Hirsch schauen sich in die Augen, einige Sekunden, als ob sie einander verstünden. Dann verschwindet die Gruppe im Unterholz, und er gibt Gas.

Auf halber Strecke warnt ihn ein Schulbusschild, welches noch immer an der Haltestelle steht, obwohl längst kein Kind mehr abgeholt wird. Hinter einer lang geschwungenen Kurve sieht er drei junge Burschen am Straßenrand. Sie marschieren Richtung Kildalton. Für die Touristen fährt zwar ein Bus, aber die paar Meilen von Port Ellen gehen viele Brennerei-Besucher lieber zu Fuß, der Landschaft wegen. Sie machen Fotos von den Felsen, von den Schafen, probieren sich durch das Neue im Sortiment, kaufen vor allem die verkosteten Wässerchen. Keltische Runen auf der Verpackung, daneben eine Goldmedaille für den Weltbesten, laut Ratgeber in der Nase Lagerfeuer, am Gaumen nasser Hund, im Abgang heiße Glut aus Teer, daher Höchstnoten, limitiert auf 55.000 Stück, ohne Altersangabe, distillers edition, only available at the shop, zu haben für nur 65 Pfund die Flasche.
Auf dem Rückweg kaum mehr Fotos von Felsen, dafür vermehrt Fotos von Schafen mit Menschen, die neue beste Freunde gefunden zu haben scheinen. Auf Schafen wächst kein Moos.

Sesmak fragt seit Langem keine Wanderer mehr, ob er sie mitnehmen solle, die meisten schauen auf seinen Corolla und lehnen dankend ab. Die Burschen aber halten den Daumen raus. Er hält neben ihnen an, kurbelt das Fenster runter und fragt, ob sie nach Kildalton wollen. Sie steigen ein. Er scherzt, ihnen sei der Weg wohl doch zu weit gewesen. Aber nur, weil sie gestern bis zur letzten Runde im Pub einen Pint nach dem gekippt anderen hätten, prahlen sie zurück. Sesmak war ewig nicht mehr im Pub. Die Dartpfeile fliegen dort nicht mehr Richtung Bulls Eye.

An der Brennerei angekommen fährt er auf den Parkplatz für Besucher. Sein Wagen kommt quer zu den Markierungen zum Stehen, er stellt den Motor ab. Die Parkfläche ist kaum gefüllt, obwohl die Besucherzahlen hoch sind und die hausgemachte Kräuterlimonade hervorragend schmeckt. Die Brennerei erstrahlt im Weiß frischer Farbe, auf der Seeseite des alten Lagerhauses prangt ihr Name in großen, schwarzen Lettern. Schon von der Fähre aus kann man sie sehen. Die Pagoden sind grün gestrichen. Sie stehen zu allen Seiten offen wie Glockentürme. Die Luft riecht nach vergorenem Brot und ist durchzogen von warmen, unsichtbaren Schwaden aus Jod, vielleicht Phenol.
An der Anlegestelle werden keine Fässer mehr auf kleine Boote gerollt, sie werden von Lastern geholt, zum Hafen gefahren und von dort zum Festland verschifft. Zu Tausenden.

Die Burschen sind zu groß, als dass sie ohne Verrenkungen aus dem Wagen steigen könnten. Sie sind Deutsche, Studenten der Betriebswissenschaftslehre, erklären sie dem Alten, indem sie sagen, sie machten in Geld. Wenigstens nicht wieder solche Langhaarigen wie letztens, meint Sesmak. Deren Rucksäcke wären zwar von der Armee, aber voller kindischer Aufnäher mit Teufeln und Monstern bestickt gewesen, und irgendein Kauderwelsch hätten sie mit Edding draufgemalt. Darin eine Handvoll Abenteuerlust und bestenfalls ein paar Socken, zwei Shorts und ein Shirt zum Wechseln, schätze er. „Und vielleicht noch der Herr der Ringe als zerknittertes Taschenbuch“, lacht einer der Studenten. „Geduscht wurde mit dem Deo-Roller“, scherzt ein anderer und streicht sich den Scheitel.

Sesmak geht voran, er kennt ja den Weg. Er habe vergessen abzuschließen, meint einer Studenten zu ihm. Er habe in seinem ganzen Leben noch nicht abgeschlossen, nicht sein Auto, nicht einmal sein Haus. Sesmak zieht die Schultern ein wenig hoch. Er gehe jetzt essen, sagt er. Heute gäbe es Krabben-Eintopf, wie jeden Freitag, und er liebe Maggies Krabben-Eintopf. Sie, Maggie, mache den besten weit und breit. Ob er denn auch Haggis möge, fragt einer der Studenten, er habe vorgestern in Edinborough nämlich einen vorzüglichen Haggis-Burger mit Rucola-Pesto und Balsamico-Schalotten gegessen und fand ihn toll. Als der Student den Namen der Stadt ausspricht, rollt er das R, als ob er sich räuspern müsse. Sesmak schüttelt wortlos den Kopf. Ob man ihn denn einladen dürfe, als Dankeschön für das Mitnehmen. Warum nicht, antwortet er. Nicht alles am schottischen Festland ist schlecht.

In der Cafeteria setzen sie sich an den Stammtisch des Alten. Man bringt ihm dampfenden Krabben-Eintopf und ein Glas Zehnjährigen, ohne dass er danach verlangte. Was die Jungen bestellen wollen, fragt die Bedienung. Nur Bier, Whisky um zwölf sei schon krass, lachen sie. Und im Eintopf seien ja Scheren und Beine, flüstern sie zu Sesmak, als die Bedienung weg ist. Außerdem bekäme man gleich Whisky und zu Essen auf dem Tasting, das sie per App gebucht haben. Sie zeigen ihm ein Smartphone. Er erkennt darauf etwas, das ihn an ein Kiesbett erinnert.

Ob er jeden Tag zum Mittag hier speise, wollen sie wissen. Ja. Ob er jeden Tag dabei einen Whisky trinke und danach Auto führe, geifern sie. Sicher, was sonst, sei ja nur ein Glas. Sie würden gleich mehrere Whiskys der neuen Serie verkosten zusammen mit Räucherlachs, dunkler Schokolade aus Äquatorial-Guinea und Blauschimmelkäse, exakt in dieser Reihenfolge, sonst wäre der Gaumen belegt, haben sie gelesen; ob er das auch schon probiert habe, interessiert sie. Nein, antwortet er, er trinke Whisky einfach nur so und zu allem. Früher habe er öfter getrunken am liebsten, nachdem er den ganzen Tag draußen Torf gestochen und danach Holz gehackt hatte, als er nach Feierabend nach Hause kam und seine Frau ihn schon mit einer deftigen Mahlzeit erwartet hatte, und er anschließend in den Garten ging, sich auf die Veranda setzte und außer dem Klappern in der Küche und den ewigen Möwen kein Geräusch seine Stille störte. Der Krabben-Eintopf sei heute übrigens besonders gut, da mit vielen Scheren und Beinen. Maggie könne da nicht immer so großzügig sein, man habe halt schwierige Zeiten.
Ach, tatsächlich, er habe hier mal gearbeitet, da habe er doch sicher noch das ein oder andere Schätzchen auf Lager, staubalt und sündhaft teuer. Als Außenstehender käme man an sowas ja nie ran. Nein, entgegnet er, Whisky ist zum Trinken gemacht. Sie müssen dann auch los, das Tasting beginne gleich. Good bye, sagen sie, und ssanks for tekin us wiss ju. Er nickt erst den Jungen, dann dem Eintopf, während er beidhändig eine Schere hält und die letzten Reste heraus saugt.

Sesmak legt das Lokalblatt beiseite. Die Jungen sind sicher schon beim Käse. Er nippt den letzten Rest seines Glases, legt ein paar Münzen auf den Tisch, winkt Maggie mit einer Schere, lacht und geht.

Auf dem Parkplatz stürmt ein Anzugträger auf ihn zu. Seine Krawatte flattert im Wind.
»Fahren Sie nach Port Ellen?«, fragt er den Alten. »Der Bus ist grad weg! Alle Taxen unterwegs ...«
»Der nächste Bus fährt in einer halben Stunde, Sir.«
»Zu spät. Hören Sie … «, der Mann greift in die Innentasche seines Sakkos, »hier sind zwanzig Pfund. Ich muss nach Port Ellen, sofort! Die Fähre!«
»Ach, Sie müssen rüber nach Kintyre. Gut, wenn’s so dringend ist. Geben Sie her. Mein Wagen steht da drüben.«
Der Herr ist zu sehr in Eile, um das Wrackhafte des Wagens zu bemerken. Sie fahren los. »Arbeiten Sie in der Brennerei? Sie kenne ich gar nicht«, fragt der Alte.
»Nein, nicht direkt.«
»Sie sind aus den Staaten, ich höre es. Sie arbeiten bestimmt für Thinwater & Sons Company, oder?«
»Ja stimmt, aber könnten Sie vielleicht schneller fahren? Die Fähre!«
Sesmak mag eigentlich niemanden dieser Firma kutschieren, soll er doch seine Fähre verpassen! Er mag auch nicht mehr schnell fahren, aber Sesmak hat die zwanzig Pfund genommen und ihm damit sein Wort gegeben. Soll er halt seine blöde Fähre bekommen.

Sie schneiden die lange Kurve, rauschen vorbei an der Haltestelle, vorbei an den Resten der alten Trutzburg, vorbei an Moos und Fels und Stein, als plötzlich, wie aus dem Nichts, der Hirsch mit dem großen Geweih auf die Straße springt. Mit gesenktem Kopf rennt er auf den Wagen zu. Sesmak hat keine Chance, der Aufprall ist unausweichlich und kolossal. Ein dumpfer Schlag, das Geweih zersplittert in tausend Teile, der Körper wird von der Wucht durch die Luft bis ins nahe Gebüsch geschleudert. Der Motor qualmt. Totalschaden.

Sesmak steigt aus und eilt zu dem Tier. Er geht auf die Knie und tätschelt das Fell. Der Schädel ist zerstört, tot von jetzt auf gleich. Sesmaks Augenmulde ist prallrot, als springe gleich Blut aus ihr heraus.
»Was habe ich getan?«
Der Anzugträger hält sein Smartphone vor das Gesicht.
»Ich schaffe es nicht, sorry, die verfickte Fähre ist gleich weg. Halt die Japsen irgendwie bei Laune. Fahrt zu diesem scheiß Steinhaufen im Kaff nebenan. Laber die Trottel mit irgendwas von Artus voll, was weiß ich. Der Deal darf auf keinen Fall platzen, hörst du? Ich komme, so schnell ich kann!«
Sesmak steht auf, hält sich beide Wangen. Nach einer Weile geht er zurück zum Wagen.
»Kann ich jemanden anrufen?«, fragt Sesmak. Er gibt Buchanan Bescheid, dem Förster.

»Dieser verfickte Hirsch, aber was will man machen, ist echt nicht Ihre Schuld. Dämliches Vieh, was rennt es auch in uns rein. Völlig gestört, das scheiß Teil. Hat wohl Tollwut. Fuck you! Wegen dir verpasse ich jetzt die scheiß Fähre!«
»Haben Sie gar keinen Anstand?«
»Was regen Sie sich auf? Ich habe den Bock ja nicht platt gemacht oder?«
»Aber Sie könnten Mitgefühl zeigen. Er hatte ein Leben. So wie Sie.«
»Ich kann mir … – es tut mir Leid. Besser?«
»Was ist denn so wichtig, Jungchen?«
»Verstehste eh nicht«, nuschelt der Anzugträger, ohne von seinem Smartphone aufzuschauen. »Neuer Großkunde, mehr Produktion und so. Steht demnächst in eurem Käseblatt.«
»Und so, aha.« Sesmak schaut ihn nicht an. »Kennt man.«

Sie schieben den Wagen von der Straße. Fremde fahren vorbei, halten an, fragen, ob sie helfen können. Nein, danke, Hilfe sei bereits unterwegs.
»Ach, wegen Ihres Wagens«, er nestelt wieder in der Tasche seines Sakkos, »rufen Sie mich an. Don´t worry, das zahlt die Firma.«
»Aha. Wie praktisch.« Sesmak nimmt die Visitenkarte und steckt sie achtlos ein. Er starrt auf den Kadaver.

„Halt die Ohren steif, sowas passiert“, sagt Buchanan, der Förster, als er den Alten vor dessen Haus absetzt. Sesmak wirft die Wagentür hinter sich zu und klopft mit den Fingerknöcheln ein paar Mal auf die Motorhaube. Buchanan startet den Motor. Der Hirsch liegt hinten auf der Ladefläche unter einer Plane. Buchanan wird ihn zu Maggie bringen.
Sesmak betritt sein Haus, geht in die Küche, schenkt sich einen Zehnjährigen ein und setzt sich auf seine Veranda. Es wird Abend. Er schaut den Wolken nach, sie ziehen Richtung Festland. Nach einer Weile fällt ihm ein, dass er die Karte des Anzugträgers eingesteckt hatte. Er holt sie heraus und mustert sie eine ganze Minute. Dann steht er auf, geht zur Mülltonne, die an der Straße steht, klappt den Deckel auf und wirft die Karte hinein. Er geht zurück ins Haus, macht die Tür hinter sich zu, kramt eine Weile in der Schublade der Kommode, die im Flur steht, geht zurück zur Haustür, steckt den Schlüssel hinein, dreht ihn um, zweimal, und schließt ab.

Auf der Visitenkarte stand MacKenzie, Ian MacKenzie. Vertrieb.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo Rothsten,

ich wollte nun auch unbedingt von dir etwas lesen und habe mir die Kleinöde gegönnt.

Positives vorneweg: Sprachlich finde ich den Text sehr solide. Ein paar Kleinigkeiten stören den Lesefluss (dazu später mehr) aber ansonsten lässt sich der Text gut lesen.

Deine Charakterzeichnung des Sesmak finde ich gelungen und überzeugend, auch wenn ich die grundlegende Konstellation 'Alter Mann vom Land trifft jungen Yuppie aus der Stadt' gelegentlich klischeehaft finde (bezieht sich allerdings eher auf Ian McKenzie als auf Sesmak).

Sprachlich entwickelst du ein paar sehr schöne Bilder, andere wiederum finde ich weniger gelungen: die gähnende Hautmulde (angelehnt an gähnende Leere) mag ich mir nicht so recht vorstellen, den Aufprall des Hirsches als kolossal zu beschreiben finde ich ebenso unpassend.

An manchen Stellen sind es simple grammatische Fehler, die du noch ausbessern kannst:

Aber nur, weil sie gestern bis zur letzten Runde im Pub einen Pint nach dem gekippt anderen hätten, prahlen sie zurück. Sesmak war ewig nicht mehr im Pub
Abschließend möchte ich sagen, dass die Idee durchaus Potential hat, ich finde nur den Aufbau der Geschichte nicht ganz so gut. So erzählst du am Anfang sehr viel und sehr lange über Sesmak, ohne dass der Leser ihn in Aktion erleben kann. Zu viel tell und zu wenig show. Vielleicht kannst du das abändern, indem du die Beschreibungen seines Charakters und seiner Biographie mit der eigentlichen Handlung alternierst.

Gruß,

CPMan
 

rothsten

Mitglied
Der Schauer ist vorüber. Schon wagen sich erste Strahlen durch die zügig wandernde Wolkendecke. Sesmak Torquil braucht nicht aus dem Fenster zu schauen, um auf das Ende des Regens zu warten. Er muss auch nicht dem Wind lauschen oder ob es noch prasselt. Er weiß es auch so. Sein ganzes Leben verbrachte er hier auf Islay, einer Insel, nicht schottisch, nicht irisch. Hier regnet es jeden Tag, hier scheint jeden Tag die Sonne und in der meisten Zeit dazwischen drücken kräftige Böen kreischende Möwen vor sich her.

Sein Magen knurrt, es ist Mittag. Sesmak hat keine Frau mehr, die für ihn kocht. Seit fünf Jahren liegt sie auf dem Friedhof inmitten der alten Gräber seines Clans. Dutzende musste der Clan der Torquils damals begraben, als sie in die große Schlacht gegen die MacKenzies gezogen waren. Sie wären für ihre Heimat gestorben, hatte ihm früher der alte Finlaggan erzählt. Oft schwänzte Sesmak die Schule, um mit dem Alten Lachse fischen zu gehen, und da sie selten anbissen, blieb viel Zeit für all die Geschichten über den Clan, über die MacKenzies, über die Lords of the Isle. Oder einfach nur, wie man am besten das Loch in Sesmaks Hose stopfen sollte, damit seine Mutter nichts bemerkte.

Das Grab seiner Frau ist das jüngste, hier wurden seit Langem keine Torquils mehr beerdigt. Aus dem Küchenfenster kann er den Friedhof sehen und darauf das große Steinkreuz ihres Grabes. Er kann seither nicht mehr in der Küche sitzen und essen, also zieht er sich seinen fleckigen Fleece-Pulli an, um in der Cafeteria der Brennerei Kildalton zu speisen, dort, wo er von der Lehre bis zur Rente gearbeitet hatte. Der Pulli spannt ein wenig am Bauch. Die Mahlzeiten in Kildalton sind einfach, aber fett und gehaltvoll, ähnlich wie der Whisky, für den er all die Jahre den Torf gestochen hatte. Er ist über siebzig. Heute machen das die Maschinen.

Wo einst sein rechtes Auge war, gähnt seit Jahrzehnten eine Hautmulde. Die Naht ist noch zu erahnen. Er hatte es verloren, als er besoffen war. Wie es passierte, weiß keiner, am wenigsten er selbst; kompletter Filmriss. Er war alleine auf dem Heimweg. Ein Glasauge brauche er nicht, hatte er damals gesagt, hier wisse doch eh jeder, dass es nicht echt sei, das sähe ja albern aus. Er trage die Narbe und halte sie in Ehren. Als Erinnerung an den Verkauf der Brennerei an die Thinwater & Sons Company, dem Investor aus den Staaten, der an jenem Tag die meisten von ihnen entlassen hatte. Er hätte ein Auge auf die Yankees geworfen, sagte er später, und der ganze Pub grölte.

Das war viele Jahre her. Nun schaut er kurz noch in den Spiegel, denn sein langer, weißer Vollbart hält häufig Laub, Frühstück oder anderes lustiges Zeug gefangen. Er schnappt sich den Auto-Schlüssel und verlässt das Haus. Die Haustür lässt er offen, sie ist nur angelehnt. Er steigt in seinen klapprigen Toyota Corolla ein, der Lack ist bereits vor Jahren ins Ziegelrote verblasst. Tim, sein Nachbar, ist ein begnadeter Schrauber und hält die Karre am Laufen. Mittlerweile habe er sogar Rasenmäher darin verbaut, behauptet Tim stolz bei jeder Gelegenheit.

Die Straße ist einspurig, alle hundert Meter gibt es eine Haltebucht, damit andere Wagen vorbei können. Heute kommen ihm vorwiegend Fremde entgegen. Sie kommen vom Festland. Stündlich wirft die Fähre eine Horde von ihnen bei Port Ellen auf die Insel. Jedes Mal, wenn ihn ein fremder Wagen passiert, reckt er den Zeigefinger seiner Steuerhand zum Gruße. Die Fremden winken stets zurück, mit dem ganzen Arm, als ob sie einen lange nicht gesehenen Freund begrüßten, manchmal auch, als ob sie Wespen verscheuchten. Hin und wieder liegen Schafe auf dem Asphalt, um sich zu wärmen. Sie winken nicht, sie liegen einfach nur da und weichen erst, wenn man ganz langsam auf sie zufährt. Sesmak mag Schafe.

Er fährt weiter, vorbei an Felsen, deren Alter hinter Moos und Flechten versteckt zu sein scheint, vorbei an dornigen Büschen und niedrigen Bäumen. Der Sturm duldet auf dieser Insel keinen Hochmut. Er passiert eine Hügelkette, auf der die einstige Trutzburg der Torquils thronte, bevor sie von den MacKenzies geschliffen worden war. Heute aber scheint ein guter Tag zu sein, denn plötzlich taucht auf einem Vorsprung unweit der Straße eine Gruppe Damwild auf. Er hält an. Ein mächtiger Hirsch stellt sich auf, sein Geweih trägt die Last schwerer Kämpfe. Es ist Brunftzeit. Auf Islay heißt es, sie beim Kampf zu beobachten stärke den Mut für die kommende Schlacht. Sesmak und der Hirsch schauen sich in die Augen, einige Sekunden, als ob sie einander verstünden. Dann verschwindet die Gruppe im Unterholz, und er gibt Gas.

Auf halber Strecke warnt ihn ein Schulbusschild, welches noch immer an der Haltestelle steht, obwohl längst kein Kind mehr abgeholt wird. Hinter einer lang geschwungenen Kurve sieht er drei junge Burschen am Straßenrand. Sie marschieren Richtung Kildalton. Für die Touristen fährt zwar ein Bus, aber die paar Meilen von Port Ellen gehen viele Brennerei-Besucher lieber zu Fuß, der Landschaft wegen. Sie machen Fotos von den Felsen, von den Schafen, probieren sich durch das Neue im Sortiment, kaufen vor allem die verkosteten Wässerchen. Keltische Runen auf der Verpackung, daneben eine Goldmedaille für den Weltbesten, laut Ratgeber in der Nase Lagerfeuer, am Gaumen nasser Hund, im Abgang heiße Glut aus Teer, daher Höchstnoten, limitiert auf 55.000 Stück, ohne Altersangabe, distillers edition, only available at the shop, zu haben für nur 65 Pfund die Flasche.
Auf dem Rückweg kaum mehr Fotos von Felsen, dafür vermehrt Fotos von Schafen mit Menschen, die neue beste Freunde gefunden zu haben scheinen. Auf Schafen wächst kein Moos.

Sesmak fragt seit Langem keine Wanderer mehr, ob er sie mitnehmen solle, die meisten schauen auf seinen Corolla und lehnen dankend ab. Die Burschen aber halten den Daumen raus. Er hält neben ihnen an, kurbelt das Fenster runter und fragt, ob sie nach Kildalton wollen. Sie steigen ein. Er scherzt, ihnen sei der Weg wohl doch zu weit gewesen. Aber nur, weil sie gestern bis zur letzten Runde im Pub einen Pint nach dem anderen gekippt hätten, prahlen sie zurück. Sesmak war ewig nicht mehr im Pub. Die Dartpfeile fliegen dort nicht mehr Richtung Bulls Eye.

An der Brennerei angekommen fährt er auf den Parkplatz für Besucher. Sein Wagen kommt quer zu den Markierungen zum Stehen, er stellt den Motor ab. Die Parkfläche ist kaum gefüllt, obwohl die Besucherzahlen hoch sind und die hausgemachte Kräuterlimonade hervorragend schmeckt. Die Brennerei erstrahlt im Weiß frischer Farbe, auf der Seeseite des alten Lagerhauses prangt ihr Name in großen, schwarzen Lettern. Schon von der Fähre aus kann man sie sehen. Die Pagoden sind grün gestrichen. Sie stehen zu allen Seiten offen wie Glockentürme. Die Luft riecht nach vergorenem Brot und ist durchzogen von warmen, unsichtbaren Schwaden aus Jod, vielleicht Phenol.
An der Anlegestelle werden keine Fässer mehr auf kleine Boote gerollt, sie werden von Lastern geholt, zum Hafen gefahren und von dort zum Festland verschifft. Zu Tausenden.

Die Burschen sind zu groß, als dass sie ohne Verrenkungen aus dem Wagen steigen könnten. Sie sind Deutsche, Studenten der Betriebswissenschaftslehre, erklären sie dem Alten, indem sie sagen, sie machten in Geld. Wenigstens nicht wieder solche Langhaarigen wie letztens, meint Sesmak. Deren Rucksäcke wären zwar von der Armee, aber voller kindischer Aufnäher mit Teufeln und Monstern bestickt gewesen, und irgendein Kauderwelsch hätten sie mit Edding draufgemalt. Darin eine Handvoll Abenteuerlust und bestenfalls ein paar Socken, zwei Shorts und ein Shirt zum Wechseln, schätze er. „Und vielleicht noch der Herr der Ringe als zerknittertes Taschenbuch“, lacht einer der Studenten. „Geduscht wurde mit dem Deo-Roller“, scherzt ein anderer und streicht sich den Scheitel.

Sesmak geht voran, er kennt ja den Weg. Er habe vergessen abzuschließen, meint einer Studenten zu ihm. Er habe in seinem ganzen Leben noch nicht abgeschlossen, nicht sein Auto, nicht einmal sein Haus. Sesmak zieht die Schultern ein wenig hoch. Er gehe jetzt essen, sagt er. Heute gäbe es Krabben-Eintopf, wie jeden Freitag, und er liebe Maggies Krabben-Eintopf. Sie, Maggie, mache den besten weit und breit. Ob er denn auch Haggis möge, fragt einer der Studenten, er habe vorgestern in Edinborough nämlich einen vorzüglichen Haggis-Burger mit Rucola-Pesto und Balsamico-Schalotten gegessen und fand ihn toll. Als der Student den Namen der Stadt ausspricht, rollt er das R, als ob er sich räuspern müsse. Sesmak schüttelt wortlos den Kopf. Ob man ihn denn einladen dürfe, als Dankeschön für das Mitnehmen. Warum nicht, antwortet er. Nicht alles am schottischen Festland ist schlecht.

In der Cafeteria setzen sie sich an den Stammtisch des Alten. Man bringt ihm dampfenden Krabben-Eintopf und ein Glas Zehnjährigen, ohne dass er danach verlangte. Was die Jungen bestellen wollen, fragt die Bedienung. Nur Bier, Whisky um zwölf sei schon krass, lachen sie. Und im Eintopf seien ja Scheren und Beine, flüstern sie zu Sesmak, als die Bedienung weg ist. Außerdem bekäme man gleich Whisky und zu Essen auf dem Tasting, das sie per App gebucht haben. Sie zeigen ihm ein Smartphone. Er erkennt darauf etwas, das ihn an ein Kiesbett erinnert.

Ob er jeden Tag zum Mittag hier speise, wollen sie wissen. Ja. Ob er jeden Tag dabei einen Whisky trinke und danach Auto führe, geifern sie. Sicher, was sonst, sei ja nur ein Glas. Sie würden gleich mehrere Whiskys der neuen Serie verkosten zusammen mit Räucherlachs, dunkler Schokolade aus Äquatorial-Guinea und Blauschimmelkäse, exakt in dieser Reihenfolge, sonst wäre der Gaumen belegt, haben sie gelesen; ob er das auch schon probiert habe, interessiert sie. Nein, antwortet er, er trinke Whisky einfach nur so und zu allem. Früher habe er öfter getrunken am liebsten, nachdem er den ganzen Tag draußen Torf gestochen und danach Holz gehackt hatte, als er nach Feierabend nach Hause kam und seine Frau ihn schon mit einer deftigen Mahlzeit erwartet hatte, und er anschließend in den Garten ging, sich auf die Veranda setzte und außer dem Klappern in der Küche und den ewigen Möwen kein Geräusch seine Stille störte. Der Krabben-Eintopf sei heute übrigens besonders gut, da mit vielen Scheren und Beinen. Maggie könne da nicht immer so großzügig sein, man habe halt schwierige Zeiten.
Ach, tatsächlich, er habe hier mal gearbeitet, da habe er doch sicher noch das ein oder andere Schätzchen auf Lager, staubalt und sündhaft teuer. Als Außenstehender käme man an sowas ja nie ran. Nein, entgegnet er, Whisky ist zum Trinken gemacht. Sie müssen dann auch los, das Tasting beginne gleich. Good bye, sagen sie, und ssanks for tekin us wiss ju. Er nickt erst den Jungen, dann dem Eintopf, während er beidhändig eine Schere hält und die letzten Reste heraus saugt.

Sesmak legt das Lokalblatt beiseite. Die Jungen sind sicher schon beim Käse. Er nippt den letzten Rest seines Glases, legt ein paar Münzen auf den Tisch, winkt Maggie mit einer Schere, lacht und geht.

Auf dem Parkplatz stürmt ein Anzugträger auf ihn zu. Seine Krawatte flattert im Wind.
»Fahren Sie nach Port Ellen?«, fragt er den Alten. »Der Bus ist grad weg! Alle Taxen unterwegs ...«
»Der nächste Bus fährt in einer halben Stunde, Sir.«
»Zu spät. Hören Sie … «, der Mann greift in die Innentasche seines Sakkos, »hier sind zwanzig Pfund. Ich muss nach Port Ellen, sofort! Die Fähre!«
»Ach, Sie müssen rüber nach Kintyre. Gut, wenn’s so dringend ist. Geben Sie her. Mein Wagen steht da drüben.«
Der Herr ist zu sehr in Eile, um das Wrackhafte des Wagens zu bemerken. Sie fahren los. »Arbeiten Sie in der Brennerei? Sie kenne ich gar nicht«, fragt der Alte.
»Nein, nicht direkt.«
»Sie sind aus den Staaten, ich höre es. Sie arbeiten bestimmt für Thinwater & Sons Company, oder?«
»Ja stimmt, aber könnten Sie vielleicht schneller fahren? Die Fähre!«
Sesmak mag eigentlich niemanden dieser Firma kutschieren, soll er doch seine Fähre verpassen! Er mag auch nicht mehr schnell fahren, aber Sesmak hat die zwanzig Pfund genommen und ihm damit sein Wort gegeben. Soll er halt seine blöde Fähre bekommen.

Sie schneiden die lange Kurve, rauschen vorbei an der Haltestelle, vorbei an den Resten der alten Trutzburg, vorbei an Moos und Fels und Stein, als plötzlich, wie aus dem Nichts, der Hirsch mit dem großen Geweih auf die Straße springt. Mit gesenktem Kopf rennt er auf den Wagen zu. Sesmak hat keine Chance, der Aufprall ist unausweichlich und kolossal. Ein dumpfer Schlag, das Geweih zersplittert in tausend Teile, der Körper wird von der Wucht durch die Luft bis ins nahe Gebüsch geschleudert. Der Motor qualmt. Totalschaden.

Sesmak steigt aus und eilt zu dem Tier. Er geht auf die Knie und tätschelt das Fell. Der Schädel ist zerstört, tot von jetzt auf gleich. Sesmaks Augenmulde ist prallrot, als springe gleich Blut aus ihr heraus.
»Was habe ich getan?«
Der Anzugträger hält sein Smartphone vor das Gesicht.
»Ich schaffe es nicht, sorry, die verfickte Fähre ist gleich weg. Halt die Japsen irgendwie bei Laune. Fahrt zu diesem scheiß Steinhaufen im Kaff nebenan. Laber die Trottel mit irgendwas von Artus voll, was weiß ich. Der Deal darf auf keinen Fall platzen, hörst du? Ich komme, so schnell ich kann!«
Sesmak steht auf, hält sich beide Wangen. Nach einer Weile geht er zurück zum Wagen.
»Kann ich jemanden anrufen?«, fragt Sesmak. Er gibt Buchanan Bescheid, dem Förster.

»Dieser verfickte Hirsch, aber was will man machen, ist echt nicht Ihre Schuld. Dämliches Vieh, was rennt es auch in uns rein. Völlig gestört, das scheiß Teil. Hat wohl Tollwut. Fuck you! Wegen dir verpasse ich jetzt die scheiß Fähre!«
»Haben Sie gar keinen Anstand?«
»Was regen Sie sich auf? Ich habe den Bock ja nicht platt gemacht oder?«
»Aber Sie könnten Mitgefühl zeigen. Er hatte ein Leben. So wie Sie.«
»Ich kann mir … – es tut mir Leid. Besser?«
»Was ist denn so wichtig, Jungchen?«
»Verstehste eh nicht«, nuschelt der Anzugträger, ohne von seinem Smartphone aufzuschauen. »Neuer Großkunde, mehr Produktion und so. Steht demnächst in eurem Käseblatt.«
»Und so, aha.« Sesmak schaut ihn nicht an. »Kennt man.«

Sie schieben den Wagen von der Straße. Fremde fahren vorbei, halten an, fragen, ob sie helfen können. Nein, danke, Hilfe sei bereits unterwegs.
»Ach, wegen Ihres Wagens«, er nestelt wieder in der Tasche seines Sakkos, »rufen Sie mich an. Don´t worry, das zahlt die Firma.«
»Aha. Wie praktisch.« Sesmak nimmt die Visitenkarte und steckt sie achtlos ein. Er starrt auf den Kadaver.

„Halt die Ohren steif, sowas passiert“, sagt Buchanan, der Förster, als er den Alten vor dessen Haus absetzt. Sesmak wirft die Wagentür hinter sich zu und klopft mit den Fingerknöcheln ein paar Mal auf die Motorhaube. Buchanan startet den Motor. Der Hirsch liegt hinten auf der Ladefläche unter einer Plane. Buchanan wird ihn zu Maggie bringen.
Sesmak betritt sein Haus, geht in die Küche, schenkt sich einen Zehnjährigen ein und setzt sich auf seine Veranda. Es wird Abend. Er schaut den Wolken nach, sie ziehen Richtung Festland. Nach einer Weile fällt ihm ein, dass er die Karte des Anzugträgers eingesteckt hatte. Er holt sie heraus und mustert sie eine ganze Minute. Dann steht er auf, geht zur Mülltonne, die an der Straße steht, klappt den Deckel auf und wirft die Karte hinein. Er geht zurück ins Haus, macht die Tür hinter sich zu, kramt eine Weile in der Schublade der Kommode, die im Flur steht, geht zurück zur Haustür, steckt den Schlüssel hinein, dreht ihn um, zweimal, und schließt ab.

Auf der Visitenkarte stand MacKenzie, Ian MacKenzie. Vertrieb.
 

rothsten

Mitglied
Hallo CPMan,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Es ist erstaunlich: Bereits so viele wirklich gute Autoren haben diesen Text gelesen, und trotzdem finden sich noch einfachste Fehler ("gekippt anderen").

Ich danke Dir für den kritischen Blick auf mein Werk. Besonders hierüber werde ich nachdenken: "Zu viel tell und zu wenig show."

Es sind Kommentare wie diese, die einen weiterbringen. Danke!

lg
 

Mistralgitter

Mitglied
Mir geht es mit meinen eigenen Texten genauso - bis da alles sitzt, gibt es unendlich viele Durchgänge. Man sieht immer wieder neue Schwächen. Man schaut auch immer wieder mit anderen Augen darauf. Damit möchte ich natürlich mich ein wenig auch entschuldigen ...
 

rothsten

Mitglied
Liebe Mistralgitter, Du musst Dich nicht für Deine Textarbeit entschuldigen. Ich bin ein Glückspilz, so viele gute Kommentare erhalten zu haben. ;)

Es geht uns wohl allen so: Wenn man sich vom eigenen Text nicht entfremdet hat, überliest man gewisse Fehler einfach. Ich jedenfalls finde in fremden Texten leichter die Fehler als bei meinen eigenen.

lg
 
S

steky

Gast
Es ist erstaunlich: Bereits so viele wirklich gute Autoren haben diesen Text gelesen, und trotzdem finden sich noch einfachste Fehler ("gekippt anderen").
Du hättest einfach meinen Kommentar genauer lesen sollen :D

LG
 

FrankK

Mitglied
Hallo rothsten

Da hat der Hirsch dem MacKenzie aber ganz schön die Tour vemasselt – und Sesmak war der Mitelsmann. Stilistisch gelungen geschrieben – zur Perfektion fehlt nicht mehr viel.
Die Story ist leicht hintergründig, von zarter Ironie geführt und gleichzeitig einfühlsam gezeichnet.

Stolpersteinchen (aber was für welche ;) ):
Er habe vergessen abzuschließen, meint einer [blue]der[/blue] Studenten zu ihm.
Früher habe er öfter getrunken [blue][Komma oder Punkt][/blue] am liebsten, [blue]nachdem[/blue] er den ganzen Tag draußen Torf gestochen und [blue]danach[/blue] Holz gehackt hatte, als er nach Feierabend nach Hause kam und seine Frau ihn schon mit einer deftigen Mahlzeit erwartet hatte, und er anschließend in den Garten ging, sich auf die Veranda setzte und außer dem Klappern in der Küche und den ewigen Möwen kein Geräusch seine Stille störte.
Dieser Satz ist ziemlich arg verflochten. Während sich der ganze Text recht flüssig lesen lässt und man fast in einen Sprachrhythmus fällt, holpert es an diesem Satz gewaltig. Ein wenig Entflechtung täte ihm gut.
Das „nachdem“ würde ich mit einem „wenn“ ersetzen.

Er nickt erst den Jungen [blue](zu)[/blue], dann dem Eintopf [blue](zu)[/blue], während er beidhändig eine Schere hält und die letzten Reste heraus saugt.
Mindestens eines der beiden „zu“ fehlt.

Sprache / Ausdruck:
... und in der meisten Zeit dazwischen [blue]drücken[/blue] kräftige Böen kreischende Möwen vor sich her.
Mir geht es wie Steky, auch mir will das „drücken“ nicht ganz harmonisch zum Text gefallen. Vielleicht würde sich ein „treiben“ besser einfügen.


Nun noch zu Deinen beliebten Adjektiven und Aussagedopplungen. Da habe ich nicht viel gefunden, trotz dreimaligen Lesens, aber immerhin – weit vorne, beim Setting:

Seit fünf Jahren liegt sie auf dem Friedhof inmitten der [strike]alten[/strike] Gräber seines Clans. Dutzende musste der Clan der Torquils [blue]damals[/blue] begraben, als sie in die große Schlacht gegen die MacKenzies gezogen waren. Sie wären für ihre Heimat gestorben, hatte ihm [blue]früher[/blue] der [blue]alte[/blue] Finlaggan erzählt.
Sehr viele (doppelte) Verweise auf die „vergangene Zeit“. Mindestens das erste „alten“ könnte gestrichen werden, möglicherweise auch noch das „damals“, darüber darfst Du Dir selbst Gedanken machen. ;)

Das Grab seiner Frau [blue]ist das jüngste[/blue], hier wurden [blue]seit Langem[/blue] keine Torquils mehr beerdigt.
Dies ist eine doppelte Aussage, sie geht Konform mit der vorherigen „Friedhofsszene“.
Ich glaube, den ganzen Satz könntest Du getrost streichen.

Er hatte es verloren, als er besoffen war. Wie es passierte, [blue]weiß[/blue] keiner, am wenigsten er selbst; [blue]kompletter Filmriss[/blue].
Der „Filmriss“ ist eine kombinierte Wiederholung von „besoffen“ und „am wenigsten er selbst“.
Außerdem: Sollte das „weiß“ nicht eher „wusste“ sein?

Hin und wieder liegen Schafe auf dem Asphalt, um sich zu wärmen. Sie winken nicht, [blue]sie liegen einfach nur da[/blue] und weichen erst, wenn man ganz langsam auf sie zufährt.
Simple Aussagedopplung.

Das wars – mehr ist mir nicht aufgefallen, denn:
Ich rieche förmlich die frische Seeluft, schmecke das Salz, fühle den Wind.
Man merkt, Du kennst Dich mit den Leuten und der Landschaft dort gut aus.


Einen schönen und geruhsamen Sonntag-Nachmittag noch mit den
Besten Grüßen aus Westfalen
Frank
 

rothsten

Mitglied
Hups, wo kommt dieser Text denn her? Irgendwie kommt der mir bekannt vor ... ;)

Wow, Frank, vielen Dank für Dein Interesse an meinem Text und vor allem für Deine Gründlichkeit. Es ist erstaunlich: Da haben schon so einige echt gute Kritiker intensiv meinen Text durchleuchtet, und dennoch findest Du so viel, was man besser machen könnte.

Auf Anhieb kann ich Deine Punkte abnicken. Bis aufs "drücken", das habe ich schon steky erklärt. :D

Ich werde Anpassungen vornehmen, allerdings nicht jetzt sofort. Muss erstmal sacken.

Ein bisschen stolz bin ich ja schon ob Deiner Komplimente. Danke! :)

lg
 

FrankK

Mitglied
Hallo, rothsten

Auf Anhieb kann ich Deine Punkte abnicken. Bis aufs "drücken", das habe ich schon steky erklärt.
???
Ich bin jetzt noch einmal alle Kommentare in Ruhe durchgegangen - ich find keine Reaktion von Dir auf "steky´s drücken". ;)

Deine Begründung, warum Du so aufs "drücken" stehst, fände ich interessant.


Abendliche Grüße aus Westfalen
Frank
 

rothsten

Mitglied
Ähem, ich bin

- drogensüchtig
- Profi-Armdrücker
- Chef einer Drücker-Kolonne ...?

such Dir was aus. :)

Ich habe das steky wohl per PN erklärt, wenn ich es recht erinnere.

Also auf ein Neues:

In dieser Szenerie treibt der Wind nicht die Möwen. "Treiben" hieße, sie fliehten vor ihm, sie würden aktiv gegensteuern, gar mit den Flügeln schlagen. Hier jedoch stehen sie einfach in der Luft, beinahe unbewegt, und der Wind drückt sie in dieser Pose von a nach b. Es ginge noch "schieben", aber das löste sicher ähnliche Verwirrung aus.

Beobachte Möwen an einer Klippe in starkem Wind. Für mich treiben die nicht, sondern sie werden gedrückt.

Besser?

lg
 

FrankK

Mitglied
Guten Abend, rothsten
Ähem, ich bin

- drogensüchtig
- Profi-Armdrücker
- Chef einer Drücker-Kolonne ...?

such Dir was aus.
Ähh - [blue]Schreiberling[/blue]? ;)

"Treiben" hieße, sie fliehten vor ihm, sie würden aktiv gegensteuern, gar mit den Flügeln schlagen.
Tja, ich ahnte, dass Du darauf abziehlst.
Bei mir erscheint die Deutungshoheit beim "drücken", dass es gegen den Willen des "gedrückten" geschieht.

Wie wäre es aber mit "Treiben" im Sinne von "Antreiben"?

So, wie ein Segelschif durch die Kraft des Windes angetrieben, die Weltmeere bereist.
Wäre, im Sinne von Möwen, eine durchaus "geflügelte" Deutung.

Mein letzter Versuch, Dich zu überzeugen. ;)


Abendlich westfälische Grüße
Frank
 

rothsten

Mitglied
Frank, welchen der folgenden Sätze würdest Du in einem Deiner Texte verwenden:

- rothsten drückte seine Faust FrankK aufs Auge ...

- rothsten trieb seine Faust FrankK aufs Auge ...

weil dieser einfach nicht einsehen wollte, dass Möwen auf Islay nicht vom Wind getrieben, sondern gedrückt werden? :D

lg
 

FrankK

Mitglied
Gut, rothsten.
Ich "drück" dann mal beide Augen zu und "treibe" Dich an, Dir endlich mal was neues einfallen zu lassen. ;)

Gute Nacht aus Westfalen
Frank
 

Maribu

Mitglied
Hallo rothsten,

die inzwischen 1646 Aufrufe und die 32 Kommentare haben mich neugierig gemacht.

Ich werde sie erst nach meiner Kritik lesen, um nicht
eventuell davon beeinflusst zu werden.

Obwohl der Titel "Kleinöde" nicht gerade Spannung verspricht, war ich nicht gelangweilt. Im Gegenteil: mit deinem Stil verstehst du es, dass man, obwohl nichts Spektakuläres passiert, weiter liest, was den Sesmak zum Protagonisten einer Erzählung macht.

Atmosphärisch dicht, sind die Menschen und die Landschaft authentisch.

Wenn die weggeworfene Visitenkarte "MacKenzie" eine Pointe sein soll (die du eigentlich nicht nötig hättest), müsstest du von der "Schlacht" des Clan der Torquils gegen den MacKenzie-Clan zumindest etwas erklären!

Freundlichen Gruß
Maribu
 

rothsten

Mitglied
Der Schauer ist vorüber. Schon wagen sich erste Strahlen durch die zügig wandernde Wolkendecke. Sesmak Torquil braucht nicht aus dem Fenster zu schauen, um auf das Ende des Regens zu warten. Er muss auch nicht dem Wind lauschen oder ob es noch prasselt. Er weiß es auch so. Sein ganzes Leben verbrachte er hier auf Islay, einer Insel, nicht schottisch, nicht irisch. Hier regnet es jeden Tag, hier scheint jeden Tag die Sonne und in der meisten Zeit dazwischen drücken kräftige Böen kreischende Möwen vor sich her.

Sein Magen knurrt, es ist Mittag. Sesmak hat keine Frau mehr, die für ihn kocht. Seit fünf Jahren liegt sie auf dem Friedhof inmitten der Gräber seines Clans. Dutzende musste der Clan der Torquils damals begraben, als sie in die große Schlacht gegen die MacKenzies gezogen waren. Sie wären für ihre Heimat gestorben, hatte ihm der alte Finlaggan erzählt. Oft schwänzte Sesmak die Schule, um mit dem Alten Lachse fischen zu gehen, und da sie selten anbissen, blieb viel Zeit für all die Geschichten über den Clan, über die MacKenzies, über die Lords of the Isle. Oder einfach nur, wie man am besten das Loch in Sesmaks Hose stopfen sollte, damit seine Mutter nichts bemerkte.

Aus dem Küchenfenster kann er den Friedhof sehen und darauf das große Steinkreuz Grabes seiner Frau. Er kann seither nicht mehr in der Küche sitzen und essen, also zieht er sich seinen fleckigen Fleece-Pulli an, um in der Cafeteria der Brennerei Kildalton zu speisen, dort, wo er von der Lehre bis zur Rente gearbeitet hatte. Der Pulli spannt ein wenig am Bauch. Die Mahlzeiten in Kildalton sind einfach, aber fett und gehaltvoll, ähnlich wie der Whisky, für den er all die Jahre den Torf gestochen hatte. Er ist über siebzig. Heute machen das die Maschinen.

Wo einst sein rechtes Auge war, gähnt seit Jahrzehnten eine Hautmulde. Die Naht ist noch zu erahnen. Er hatte es verloren, als er sturzbesoffen war. Wie es passierte, wusste keiner, am wenigsten er selbst. Er war alleine auf dem Heimweg. Ein Glasauge brauche er nicht, hatte er damals gesagt, hier wisse doch eh jeder, dass es nicht echt sei, das sähe ja albern aus. Er trage die Narbe und halte sie in Ehren. Als Erinnerung an den Verkauf der Brennerei an die Thinwater & Sons Company, dem Investor aus den Staaten, der an jenem Tag die meisten von ihnen entlassen hatte. Er hätte ein Auge auf die Yankees geworfen, sagte er später, und der ganze Pub grölte.

Das war viele Jahre her. Nun schaut er kurz noch in den Spiegel, denn sein langer, weißer Vollbart hält häufig Laub, Frühstück oder anderes lustiges Zeug gefangen. Er schnappt sich den Auto-Schlüssel und verlässt das Haus. Die Haustür lässt er offen, sie ist nur angelehnt. Er steigt in seinen klapprigen Toyota Corolla ein, der Lack ist bereits vor Jahren ins Ziegelrote verblasst. Tim, sein Nachbar, ist ein begnadeter Schrauber und hält die Karre am Laufen. Mittlerweile habe er sogar Rasenmäher darin verbaut, behauptet Tim stolz bei jeder Gelegenheit.

Die Straße ist einspurig, alle hundert Meter gibt es eine Haltebucht, damit andere Wagen vorbei können. Heute kommen ihm vorwiegend Fremde entgegen. Sie kommen vom Festland. Stündlich wirft die Fähre eine Horde von ihnen bei Port Ellen auf die Insel. Jedes Mal, wenn ihn ein fremder Wagen passiert, reckt er den Zeigefinger seiner Steuerhand zum Gruße. Die Fremden winken stets zurück, mit dem ganzen Arm, als ob sie einen lange nicht gesehenen Freund begrüßten, manchmal auch, als ob sie Wespen verscheuchten. Hin und wieder liegen Schafe auf dem Asphalt, um sich zu wärmen. Sie winken nicht, sie weichen erst, wenn man ganz langsam auf sie zufährt. Sesmak mag Schafe.

Er fährt weiter, vorbei an Felsen, deren Alter hinter Moos und Flechten versteckt zu sein scheint, vorbei an dornigen Büschen und niedrigen Bäumen. Der Sturm duldet auf dieser Insel keinen Hochmut. Er passiert eine Hügelkette, auf der die einstige Trutzburg der Torquils thronte, bevor sie von den MacKenzies geschliffen worden war. Heute aber scheint ein guter Tag zu sein, denn plötzlich taucht auf einem Vorsprung unweit der Straße eine Gruppe Damwild auf. Er hält an. Ein mächtiger Hirsch stellt sich auf, sein Geweih trägt die Last schwerer Kämpfe. Es ist Brunftzeit. Auf Islay heißt es, sie beim Kampf zu beobachten stärke den Mut für die kommende Schlacht. Sesmak und der Hirsch schauen sich in die Augen, einige Sekunden, als ob sie einander verstünden. Dann verschwindet die Gruppe im Unterholz, und er gibt Gas.

Auf halber Strecke warnt ihn ein Schulbusschild, welches noch immer an der Haltestelle steht, obwohl längst kein Kind mehr abgeholt wird. Hinter einer lang geschwungenen Kurve sieht er drei junge Burschen am Straßenrand. Sie marschieren Richtung Kildalton. Für die Touristen fährt zwar ein Bus, aber die paar Meilen von Port Ellen gehen viele Brennerei-Besucher lieber zu Fuß, der Landschaft wegen. Sie machen Fotos von den Felsen, von den Schafen, probieren sich durch das Neue im Sortiment, kaufen vor allem die verkosteten Wässerchen. Keltische Runen auf der Verpackung, daneben eine Goldmedaille für den Weltbesten, laut Ratgeber in der Nase Lagerfeuer, am Gaumen nasser Hund, im Abgang heiße Glut aus Teer, daher Höchstnoten, limitiert auf 55.000 Stück, ohne Altersangabe, distillers edition, only available at the shop, zu haben für nur 65 Pfund die Flasche.
Auf dem Rückweg kaum mehr Fotos von Felsen, dafür vermehrt Fotos von Schafen mit Menschen, die neue beste Freunde gefunden zu haben scheinen. Auf Schafen wächst kein Moos.

Sesmak fragt seit Langem keine Wanderer mehr, ob er sie mitnehmen solle, die meisten schauen auf seinen Corolla und lehnen dankend ab. Die Burschen aber halten den Daumen raus. Er hält neben ihnen an, kurbelt das Fenster runter und fragt, ob sie nach Kildalton wollen. Sie steigen ein. Er scherzt, ihnen sei der Weg wohl doch zu weit gewesen. Aber nur, weil sie gestern bis zur letzten Runde im Pub einen Pint nach dem anderen gekippt hätten, prahlen sie zurück. Sesmak war ewig nicht mehr im Pub. Die Dartpfeile fliegen dort nicht mehr Richtung Bulls Eye.

An der Brennerei angekommen fährt er auf den Parkplatz für Besucher. Sein Wagen kommt quer zu den Markierungen zum Stehen, er stellt den Motor ab. Die Parkfläche ist kaum gefüllt, obwohl die Besucherzahlen hoch sind und die hausgemachte Kräuterlimonade hervorragend schmeckt. Die Brennerei erstrahlt im Weiß frischer Farbe, auf der Seeseite des alten Lagerhauses prangt ihr Name in großen, schwarzen Lettern. Schon von der Fähre aus kann man sie sehen. Die Pagoden sind grün gestrichen. Sie stehen zu allen Seiten offen wie Glockentürme. Die Luft riecht nach vergorenem Brot und ist durchzogen von warmen, unsichtbaren Schwaden aus Jod, vielleicht Phenol.
An der Anlegestelle werden keine Fässer mehr auf kleine Boote gerollt, sie werden von Lastern geholt, zum Hafen gefahren und von dort zum Festland verschifft. Zu Tausenden.

Die Burschen sind zu groß, als dass sie ohne Verrenkungen aus dem Wagen steigen könnten. Sie sind Deutsche, Studenten der Betriebswissenschaftslehre, erklären sie dem Alten, indem sie sagen, sie machten in Geld. Wenigstens nicht wieder solche Langhaarigen wie letztens, meint Sesmak. Deren Rucksäcke wären zwar von der Armee, aber voller kindischer Aufnäher mit Teufeln und Monstern bestickt gewesen, und irgendein Kauderwelsch hätten sie mit Edding draufgemalt. Darin eine Handvoll Abenteuerlust und bestenfalls ein paar Socken, zwei Shorts und ein Shirt zum Wechseln, schätze er. „Und vielleicht noch der Herr der Ringe als zerknittertes Taschenbuch“, lacht einer der Studenten. „Geduscht wurde mit dem Deo-Roller“, scherzt ein anderer und streicht sich den Scheitel.

Sesmak geht voran, er kennt ja den Weg. Er habe vergessen abzuschließen, meint einer der Studenten zu ihm. Er habe in seinem ganzen Leben noch nicht abgeschlossen, nicht sein Auto, nicht einmal sein Haus. Sesmak zieht die Schultern ein wenig hoch. Er gehe jetzt essen, sagt er. Heute gäbe es Krabben-Eintopf, wie jeden Freitag, und er liebe Maggies Krabben-Eintopf. Sie, Maggie, mache den besten weit und breit. Ob er denn auch Haggis möge, fragt einer der Studenten, er habe vorgestern in Edinborough nämlich einen vorzüglichen Haggis-Burger mit Rucola-Pesto und Balsamico-Schalotten gegessen und fand ihn toll. Als der Student den Namen der Stadt ausspricht, rollt er das R, als ob er sich räuspern müsse. Sesmak schüttelt wortlos den Kopf. Ob man ihn denn einladen dürfe, als Dankeschön für das Mitnehmen. Warum nicht, antwortet er. Nicht alles am schottischen Festland ist schlecht.

In der Cafeteria setzen sie sich an den Stammtisch des Alten. Man bringt ihm dampfenden Krabben-Eintopf und ein Glas Zehnjährigen, ohne dass er danach verlangte. Was die Jungen bestellen wollen, fragt die Bedienung. Nur Bier, Whisky um zwölf sei schon krass, lachen sie. Und im Eintopf seien ja Scheren und Beine, flüstern sie zu Sesmak, als die Bedienung weg ist. Außerdem bekäme man gleich Whisky und zu Essen auf dem Tasting, das sie per App gebucht haben. Sie zeigen ihm ein Smartphone. Er erkennt darauf etwas, das ihn an ein Kiesbett erinnert.

Ob er jeden Tag zum Mittag hier speise, wollen sie wissen. Ja. Ob er jeden Tag dabei einen Whisky trinke und danach Auto führe, geifern sie. Sicher, was sonst, sei ja nur ein Glas. Sie würden gleich mehrere Whiskys der neuen Serie verkosten zusammen mit Räucherlachs, dunkler Schokolade aus Äquatorial-Guinea und Blauschimmelkäse, exakt in dieser Reihenfolge, sonst wäre der Gaumen belegt, haben sie gelesen; ob er das auch schon probiert habe, interessiert sie. Nein, antwortet er, er trinke Whisky einfach nur so und zu allem. Früher habe er öfter getrunken, am liebsten nach dem Torfstechen, wenn er am Feierabend nach Hause kam und seine Frau ihn schon mit einer deftigen Mahlzeit erwartet hatte, wenn er anschließend in den Garten ging, sich auf die Veranda setzte und außer dem Klappern in der Küche und den ewigen Möwen kein Geräusch seine Stille störte. Der Krabben-Eintopf sei heute übrigens besonders gut, da mit vielen Scheren und Beinen. Maggie könne da nicht immer so großzügig sein, man habe halt schwierige Zeiten.
Ach, tatsächlich, er habe hier mal gearbeitet, da habe er doch sicher noch das ein oder andere Schätzchen auf Lager, staubalt und sündhaft teuer. Als Außenstehender käme man an sowas ja nie ran. Nein, entgegnet er, Whisky ist zum Trinken gemacht. Sie müssen dann auch los, das Tasting beginne gleich. Good bye, sagen sie, und ssanks for tekin us wiss ju. Er nickt erst den Jungen, dann dem Eintopf, während er beidhändig eine Schere hält und die letzten Reste heraus saugt.

Sesmak legt das Lokalblatt beiseite. Die Jungen sind sicher schon beim Käse. Er nippt den letzten Rest seines Glases, legt ein paar Münzen auf den Tisch, winkt Maggie mit einer Schere zu, lacht und geht.

Auf dem Parkplatz stürmt ein Anzugträger auf ihn zu. Seine Krawatte flattert im Wind.
»Fahren Sie nach Port Ellen?«, fragt er den Alten. »Der Bus ist grad weg! Alle Taxen unterwegs ...«
»Der nächste Bus fährt in einer halben Stunde, Sir.«
»Zu spät. Hören Sie … «, der Mann greift in die Innentasche seines Sakkos, »hier sind zwanzig Pfund. Ich muss nach Port Ellen, sofort! Die Fähre!«
»Ach, Sie müssen rüber nach Kintyre. Gut, wenn’s so dringend ist. Geben Sie her. Mein Wagen steht da drüben.«
Der Herr ist zu sehr in Eile, um das Wrackhafte des Wagens zu bemerken. Sie fahren los. »Arbeiten Sie in der Brennerei? Sie kenne ich gar nicht«, fragt der Alte.
»Nein, nicht direkt.«
»Sie sind aus den Staaten, ich höre es. Sie arbeiten bestimmt für Thinwater & Sons Company, oder?«
»Ja stimmt, aber könnten Sie vielleicht schneller fahren? Die Fähre!«
Sesmak mag eigentlich niemanden dieser Firma kutschieren, soll er doch seine Fähre verpassen! Er mag auch nicht mehr schnell fahren, aber Sesmak hat die zwanzig Pfund genommen und ihm damit sein Wort gegeben. Soll er halt seine blöde Fähre bekommen.

Sie schneiden die lange Kurve, rauschen vorbei an der Haltestelle, vorbei an den Resten der alten Trutzburg, vorbei an Moos und Fels und Stein, als plötzlich, wie aus dem Nichts, der Hirsch mit dem großen Geweih auf die Straße springt. Mit gesenktem Kopf rennt er auf den Wagen zu. Sesmak hat keine Chance, der Aufprall ist unausweichlich und kolossal. Ein dumpfer Schlag, das Geweih zersplittert in tausend Teile, der Körper wird von der Wucht durch die Luft bis ins nahe Gebüsch geschleudert. Der Motor qualmt. Totalschaden.

Sesmak steigt aus und eilt zu dem Tier. Er geht auf die Knie und tätschelt das Fell. Der Schädel ist zerstört, tot von jetzt auf gleich. Sesmaks Augenmulde ist prallrot, als springe gleich Blut aus ihr heraus.
»Was habe ich getan?«
Der Anzugträger hält sein Smartphone vor das Gesicht.
»Ich schaffe es nicht, sorry, die verfickte Fähre ist gleich weg. Halt die Japsen irgendwie bei Laune. Fahrt zu diesem scheiß Steinhaufen im Kaff nebenan. Laber die Trottel mit irgendwas von Artus voll, was weiß ich. Der Deal darf auf keinen Fall platzen, hörst du? Ich komme, so schnell ich kann!«
Sesmak steht auf, hält sich beide Wangen. Nach einer Weile geht er zurück zum Wagen.
»Kann ich jemanden anrufen?«, fragt Sesmak. Er gibt Buchanan Bescheid, dem Förster.

»Dieser verfickte Hirsch, aber was will man machen, ist echt nicht Ihre Schuld. Dämliches Vieh, was rennt es auch in uns rein. Völlig gestört, das scheiß Teil. Hat wohl Tollwut. Fuck you! Wegen dir verpasse ich jetzt die scheiß Fähre!«
»Haben Sie gar keinen Anstand?«
»Was regen Sie sich auf? Ich habe den Bock ja nicht platt gemacht oder?«
»Aber Sie könnten Mitgefühl zeigen. Er hatte ein Leben. So wie Sie.«
»Ich kann mir … – es tut mir Leid. Besser?«
»Was ist denn so wichtig, Jungchen?«
»Verstehste eh nicht«, nuschelt der Anzugträger, ohne von seinem Smartphone aufzuschauen. »Neuer Großkunde, mehr Produktion und so. Steht demnächst in eurem Käseblatt.«
»Und so, aha.« Sesmak schaut ihn nicht an. »Kennt man.«

Sie schieben den Wagen von der Straße. Fremde fahren vorbei, halten an, fragen, ob sie helfen können. Nein, danke, Hilfe sei bereits unterwegs.
»Ach, wegen Ihres Wagens«, er nestelt wieder in der Tasche seines Sakkos, »rufen Sie mich an. Don´t worry, das zahlt die Firma.«
»Aha. Wie praktisch.« Sesmak nimmt die Visitenkarte und steckt sie achtlos ein. Er starrt auf den Kadaver.

„Halt die Ohren steif, sowas passiert“, sagt Buchanan, der Förster, als er den Alten vor dessen Haus absetzt. Sesmak wirft die Wagentür hinter sich zu und klopft mit den Fingerknöcheln ein paar Mal auf die Motorhaube. Buchanan startet den Motor. Der Hirsch liegt hinten auf der Ladefläche unter einer Plane. Buchanan wird ihn zu Maggie bringen.
Sesmak betritt sein Haus, geht in die Küche, schenkt sich einen Zehnjährigen ein und setzt sich auf seine Veranda. Es wird Abend. Er schaut den Wolken nach, sie ziehen Richtung Festland. Nach einer Weile fällt ihm ein, dass er die Karte des Anzugträgers eingesteckt hatte. Er holt sie heraus und mustert sie eine ganze Minute. Dann steht er auf, geht zur Mülltonne, die an der Straße steht, klappt den Deckel auf und wirft die Karte hinein. Er geht zurück ins Haus, macht die Tür hinter sich zu, kramt eine Weile in der Schublade der Kommode, die im Flur steht, geht zurück zur Haustür, steckt den Schlüssel hinein, dreht ihn um, zweimal, und schließt ab.

Auf der Visitenkarte stand MacKenzie, Ian MacKenzie. Vertrieb.
 



 
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