Klimadioten (3/4)

Elso Damrow

Mitglied
21
Samstag​

Am nächsten Morgen wundert sich Winkleer über sein gutes Vorankommen im morgendlichen Verkehr, als ihm aufgeht, dass es Samstag ist, denkt er mit dem Allgemeinen hadernd, ›Ohne Wochenstruktur verliert man total den Überblick. Ein Tag ist wie der andere.

Auf dem Weg in sein Büro, macht er zunächst am Getränkeautomaten halt, um sich dort mit einem Kaffee zu versorgen. An seinem Arbeitsplatz angekommen, stellt er überrascht fest, dass seine Kollegin bereits vor Ort ist, dunkle Ringe unter ihren Augen verraten ihm, dass Rheas Nacht sehr wahrscheinlich nur kurz war.

»Morgen Rhea, heiße Nacht mit deinem computerversierten Verehrer gehabt?«, fragt Winkleer leichthin flapsig.

»Nein, im Gegensatz zu meinem werten Kollegen, der gemütlich an seiner Matratze gehorcht hat, bin ich schon seit halb vier im Dienst …«, erwidert die Inspektorin gereizt.

»Ist ja schon gut, war ein blöder Spruch von mir. Was ist denn passiert?«, fragt Lars beschwichtigend.

»Kieselmaier wurde in der vergangenen Nacht von Jale Seymens Bruder ermordet.«, berichtet seine Kollegin.

»Trotz Polizeibewachung??«, fragt Winkleer verdutzt.

»Ja, irgendwie hatte der sich Dienstkleidung vom Krankenhaus besorgt, konnte sich so dem Kollegen nähern ohne, dass der Verdacht schöpfte und diesen dann niederschlagen. Dem Kieselmaier hat er anschließend klassisch das Kissen aufs Gesicht gedrückt.«, sagt Bruchheim.

»Lauft die Fahndung nach Adis?«, fragt Winkleer ernüchtert.

»Nicht nötig, nachdem unser Kollege sich wieder aufgerappelt hatte, konnte er den Mörder nach kurzer Verfolgung stellen.«, schließt die Inspektorin ihren Bericht ab.

»Ein Lichtblick, wurde er bereits vernommen?«, will der Chefinspektor wissen.

»Glaubst Du, ich habe hier rumgesessen und der Sonne beim Aufgehen zugesehen? Natürlich ist der schon vernommen worden, es ist praktisch genauso, wie wir vermutet haben. Jale hat gesehen, wie der Kieselmaier dem Hausmeister etwas ins Fach gelegt hat, und versucht, daraus Kapital für das Anwaltshonorar ihres Bruders zu schlagen.«, wird ihm geantwortet.

»Und wohl vorher mit ihm geredet, Jales Schweigen hat zwei Menschenleben gekostet und das ihres Bruders auf lange Jahre vernichtet.«, resümiert Winkleer murmelnd und fährt fort, »Was hat denn die Hintergrundrecherche über diesen Edwin Kuhnert ergeben?«

»Ist vorhin gekommen, achtunddreißig Jahre alt, ehemaliger Zeitsoldat, arbeitet jetzt bei den Wentho-Werken als Schichtleiter, geschieden, zwei Kinder. Bisher ist er zweimal in Erscheinung getreten. Einem Angestellten eines Lebensmitteldiscounters hat er ein Veilchen verpasst, weil die dort Geflügelprodukte aus Käfighaltung verkaufen. Seine Frau hat Prügel bezogen, weil sie wegen der Kinder eine größere Wohnung wollte. Das war dann auch der Scheidungsgrund.«

»Ein Sonnenschein … Wenn Hühner beengt leben, ist das ein Problem, bei Menschen hingegen nicht …«, kommentiert der Chefinspektor das Gehörte und will wissen, »Hat die Observation sich gemeldet? Irgendwelche Aktivitäten?«

Bruchheim nickt und sagt, »Ja hat sie, alles ruhig, kein Licht, Kuhnert ist momentan nicht zu Hause.«

»Was machen wir, wenn der jetzt tagelang nicht nach Hause kommt? Vielleicht sollten wir die Kollegen mal ablösen, um uns mit dem Umfeld vertraut zu machen?«, wirft der Chefinspektor beiläufig ein.

»Umfeld vertraut machen, bedeutet bei Dir doch, sich mal in der Wohnung umsehen und die Kollegen willst Du ablösen, um die Anzahl der Mitwisser zu reduzieren.«, kommentiert Rhea das Gehörte.

»Du liest in mir wie in einem offenen Buch, wann fahren wir?«, antwortet der Chefinspektor grinsend.

*​

Als die Ermittler an dem sechsstöckigen Mehrfamilienhaus, in dem Edwin Kuhnert wohnt, ankommen, lassen sie sich von dem anwesenden Observationsteam einweisen. Kuhnerts Wohnung befindet sich im fünften Stock und ist nur über einen von der Straße einsehbaren Laubengang zu erreichen. Die Zufahrt zur Tiefgarage liegt unweit der Haustüre. Beide Eingänge können vom aktuellen Standort problemlos eingesehen werden. So wie die Kollegen berichten, befindet sich hinter dem Haus lediglich ein Kellereingang.

Nachdem sich die abgelösten Beamten verabschiedet hatten, sagt Winkleer, »Ideal, der Kuhnert wird garantiert nicht um das Haus herumlaufen und den Kellereingang nehmen, der wird entweder die Tür oder die Garage nehmen.«

»Lass mich raten, Du wirfst einen Blick in die Wohnung und ich passe hier auf, sollte Kuhnert kommen, rufe ich dich an.«, fasst Bruchheim das Offensichtliche in Worte.

»Genauso ist es.«, wird ihr geantwortet.

»Bist Du dir sicher, das Schloss zügig aufzubekommen? Der Laubengang ist einsehbar. Nicht dass Du als Einbrecher von unseren Kollegen festgenommen wirst.«, gibt seine Kollegin zu bedenken.

»Ich war lange Zeit im Einbruchsdezernat. Die Techniken beherrsche ich aus dem Effeff, das wird ein Kinderspiel.«, antwortet Winkleer großspurig, denkt aber, ›Da hat sie nicht unrecht, ich stehe da wie auf dem Präsentierteller und habe schon lange nicht mehr geübt.

Geschickt nutzt er die Gelegenheit, das Haus zu betreten, als ein Bewohner dies mit mehreren Mülltüten bewaffnet verlässt.

Auf die Benutzung des Aufzugs verzichtet er und kraxelt die fünf Etagen über die Treppe empor. Oben angekommen, orientiert er sich kurz und steht kurze Zeit später vor Kuhnerts Wohnungstür.

Glück gehabt, ein Nullachtfünfzehn-Schloss …‹, denkt Winkleer, während er die beiden Stifte aus dem Etui hervorzieht und anfängt, in dem kleinen schmalen Schlüsselloch herumzustochern.

Nur eine Minute später öffnet sich die Tür, ›Na also, ich habe es doch noch drauf …‹, triumphiert der Chefinspektor in Gedanken als er die Wohnung betritt.

Kurz orientiert er sich, alle Räume sind menschenleer. Mitten auf dem Wohnzimmertisch fällt ihm eine Digitalkamera ins Auge.

Mal schauen, was da so alles drauf ist …‹, denkt der Chefinspektor, als er die Kamera aufnimmt und einschaltet. Direkt das erste Bild, welches auf dem kleinen Bildschirm erscheint, ist ein Volltreffer. Zeigt es doch das Entführungsopfer. Winkleer versucht, weitere Einzelheiten auszumachen, Melissa scheint in einem kleinen Raum gefangen gehalten zu werden. Im Hintergrund sieht man eine nackte Betonwand. Das Mädchen hält mit traurigem Blick die Titelseite einer Zeitung ins Objektiv.

Hier sind wir genau richtig …‹, stellt Winkleer zufrieden fest.

*​

Edwin Kuhnert sitzt in seinem kleinen Elektrowagen und fährt nach Hause, leider haben die letzten Tage gezeigt, dass er den Leuten seiner Truppe quasi ständig auf die Finger schauen muss.

Von Saskia mal abgesehen, sind diese Idioten schon damit überfordert, Melissa einmal am Tag das Essen zu bringen.‹, denkt er, als er in die schmale Straße einbiegt, die ihn auf den Parkplatz führt, welcher hinter seinem Wohnhaus liegt.

Zunächst hatte er sich fürchterlich darüber aufgeregt, als es ihm verboten wurde, sein Elektrofahrzeug in der Tiefgarage abzustellen. Der Vermieter befürchtet einen Akkubrand hatte ihm der Hausmeister mitgeteilt. Er musste sich schon kräftig zusammenreißen, um diesem Idioten nicht einen kräftigen Denkzettel zu verpassen, aber noch einen Vorfall kann er sich nicht leisten, da war der Richter seinerzeit ziemlich deutlich.

Nachdem er dann aber festgestellt hatte, dass sich auf dem Parkplatz hinter dem Haus eine Ladesäule befindet, war er mit dieser Lösung mehr als zufrieden. Zwar muss er das Haus dann über den Kellereingang betreten, aber das kurze Stückchen über die Wiese stellt nun wirklich kein Problem dar.

Nur ungern hat er seine Truppe alleingelassen, aber er braucht dringend den Fotoapparat, auch eine Dusche und frische Wäsche will er sich bei dieser Gelegenheit gönnen. Auf dem Weg zurück, will er sich dann auch irgendwo eine Sonntagszeitung für das nächste Foto besorgen.

Diese Trottel wollten das Foto mit Ihren Smartphones machen, da würden dann die Koordinaten direkt mitgeliefert.‹, denkt er kopfschüttelnd, während er mit dem Aufzug hinauf zu seiner Wohnung fährt.

*​

Kaum hatte Winkleer die Kamera wieder zurück auf den Tisch gelegt, da meldete sein Handy den Eingang einer SMS.

Pass auf, der Kuhnert steht vor der Wohnungstür.

Noch auf die Nachricht blickend, hört er schon, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird.

Hektisch schaut er sich im Wohnzimmer um und verkriecht sich gerade noch rechtzeitig hinter dem frei stehenden Sofa vor dem Fenster. ›Wenn der auf den Balkon geht, bin ich geliefert …‹, denkt Winkleer, während er mit zittrigen Fingern sein Handy auf lautlos stellt.

Mit Schweiß auf der Stirn hört er wie eine Person in der Wohnung umherwuselt, offenbar wird die Kühlschranktür geöffnet, deutlich ist ein gemurmeltes ›Scheiße‹ zu vernehmen.

Schrittgeräusche lassen erahnen, dass sich jemand in ein anderes Zimmer begibt. Kurze Zeit später hört Winkleer Wasser rauschen.

Der steht unter der Dusche. Meine Chance, mich zu verdrücken.‹, frohlockt Winkleer spontan und lugt vorsichtig hinter dem Sofa hervor. Nachdem er sich halbwegs sicher ist, dass die Luft rein ist, kriecht er aus seinem Versteck hervor und schleicht vorsichtig in Richtung Wohnungstür.

Gerade als er das Wohnzimmer verlassen will, da klingelt hinter ihm das Telefon, aus dem Bad hört er einen Fluch in Verbindung mit platschenden Trittgeräuschen, so als würde jemand mit nassen Füßen über einen gefliesten Boden laufen.

In Gedanken fluchend hechtet der Chefinspektor wieder zurück hinter die Couch. Nur Sekunden später betritt Kuhnert nackt, wie der liebe Gott ihn schuf den Raum und nimmt das Gespräch an.

»Ja«

»…«

»Ja Chef, ist schon klar.«

»…«

»Na klar sind das Knalltüten, ansonsten hätten wir die ja wohl auch nicht mit unserer Geschichte einwickeln können.«

»…«

»Nein Chef, ich lasse die so wenig wie möglich allein.«

»…«

»Ok Chef, bis morgen um die gleiche Zeit.«

Winkleer hört das Klacken des Telefonhörers und ein gemurmeltes »Was glaubt der Idiot?«

Einige Schrittgeräusche und eine zugeschlagene Tür später fängt das Wasser erneut an zu rauschen.

Noch etwas verdattert ob des gerade gehörten, rappelt sich der Chefinspektor auf und verlässt leise schleichend die Wohnung.




22
Nachdem der Chefinspektor wieder zu seiner Kollegin in den Dienstwagen gestiegen ist, bringt er diese zunächst einmal auf den neusten Stand. Seine Ausführungen schließt er mit der Frage ab, »Dein Hinweis kam aber ziemlich spät, das war verdammt knapp, was war los?«

»Der war auf einmal auf dem Laubengang, wo der herkam weiß ich nicht, auf gar keinen Fall ist der hier vorne hereingekommen.«, antwortet Bruchheim.

»Dann bleibt ja eigentlich doch nur der Kellereingang, ich schaue mir das mal an.«, murmelt Winkleer überlegend.

»Lass mich das mal erledigen, ein älterer Herr, wie Du es bist, der braucht nach einer solchen Anstrengung auch mal ein Päuschen.«, widerspricht Rhea gespielt fürsorglich, während sie schon das Fahrzeug verlässt.

»Wegen meiner … Über den älteren Herrn reden wir aber noch.«, ruft Lars ihr hinterher.

Bruchheim umrundet das Haus, hinter dem Gebäude schließt sich eine größere Grünfläche an. Das gesamte Gelände wird an dieser Seite durch ein mannshohes Gestrüpp abgegrenzt. Als die Inspektorin darauf zugeht, entdeckt sie nach einigen Metern einen fast zugewucherten Durchgang, welcher auf einen hinter dem Gelände liegenden Parkplatz führt.

Hmm, wenn der hier durch ist, dann hat der seine Karre garantiert da vorne irgendwo abgestellt. Mal schauen …‹, mutmaßt die Inspektorin.

Gerade als sie mit der systematischen Suche beginnen will, sieht sie am linken Rand des Parkplatzes eine Ladesäule.

Der fährt doch ein Elektroauto … Wenn der die Karre auflädt, dann müsste die da hinten stehen.‹, überlegt Bruchheim, während sie auf die Ladestation zugeht.

Schon aus einigen Metern Entfernung, sieht sie ihre Überlegungen bestätigt, wie vermutet steht Kuhnerts Fahrzeug an der Ladesäule.

Flugs wendet sie sich um und kehrt zum Dienstwagen zurück.

Nachdem sie eingestiegen ist, sagt sie, »Kuhnert hat doch ein E-Auto, hinter dem Haus ist ein Parkplatz mit Ladestation. Ideal für ihn, der ist also durch den Keller rein, den habe ich gar nicht erst zu sehen bekommen.«

»Ok, typischer Fall von ›Denkste‹, das heißt, für uns, dass wir unseren Beobachtungsposten auf eben diesen Parkplatz verlagern müssen«, resümiert Winkleer das Gehörte.

Rhea nickt, während sie schon den Motor startet.

»Nebenbei, der ›ältere Herr‹ hat wehgetan«, sagt Winkleer gespielt tadelnd.

»Sei lieber ruhig, ansonsten fange ich im Präsidium an für Dich zu sammeln, eine Rheumadecke fehlt Dir doch noch, oder?«, kommentiert Bruchheim grinsend das Gehörte.

*​

Auf dem Parkplatz parkt Rhea den Dienstwagen so, dass sie das Zielfahrzeug gut im Blick haben, ohne direkt aufzufallen.

Nach rund einer halben Stunde ist es dann so weit, Kuhnert kommt aus dem Durchgang und geht eilig auf sein Fahrzeug zu. Nachdem er das Ladekabel entfernt hat, steigt er ein und fährt langsam los.

»Los hinterher …«, treibt Winkleer seine Kollegin ungeduldig an.

»Immer mit der Ruhe, das wird eine Observation und keine Verfolgungsjagd. Merken darf der nichts.«, entgegnet Bruchheim beruhigend.

Schon nach kurzer Fahrt hält Kuhnert an einer Tankstelle an und verlässt seinen Wagen.

»Was will der mit seinem Stromer denn an der Tanke?«, murmelt Winkleer irritiert vor sich hin, während Rhea den Dienstwagen so vor der angeschlossenen Waschanlage abstellt, als wolle sie in diese einfahren.

Nur Minuten später kommt Kuhnert mit einer zusammengerollten Zeitung unter dem Arm wieder zurück, steigt ein und setzt seine Fahrt fort.

Der Dienstwagen setzt vorsichtig nach.

Die Fahrt geht quer durch die Stadt, Bruchheim ist stets darauf bedacht, immer mindestens ein Auto zwischen sich und Kuhnert zu haben, zweimal muss sie eine Ampel auf den letzten Drücker, quasi bei ›orange‹ überfahren, um die Zielperson nicht zu verlieren.

Langsam nähert man sich der westlichen Vorstadt mit ihren Gewerbegebieten. Hier schlägt das produktive Herz der Hauptstadt, jetzt am Wochenende, herrscht jedoch auch hier deutlich weniger Verkehr als an normalen Werktagen, Bruchheim muss den Abstand zum verfolgten Fahrzeug deutlich vergrößern, um nicht doch noch aufzufallen.

Letztlich stoppt Kuhnert sein Fahrzeug vor einer etwas abseits gelegenen Industriebrache.

»Fahre einfach daran vorbei, bloß nicht anhalten …«, zischt Winkleer angespannt auf dem Beifahrersitz.

»Mensch Lars, ich bin kein Polizeischüler mehr, lass mich mal machen …«, knurrt seine Kollegin leicht verärgert, während sie wie zufällig an dem geparkten Elektrofahrzeug vorbeifährt.

Im Rückspiegel beobachtet sie, wie Kuhnert das Fahrzeug verlässt, sich prüfend umschaut und letztlich ein altes verrostetes Tor öffnet.

»Der will da rein …«, informiert sie ihren Kollegen.

»Dann wird er am Ziel sein, da vorne kannst Du einbiegen und dann für ihn nicht sichtbar wenden.«, stimmt der Chefinspektor zu.

Nach dem Richtungswechsel fährt man langsam die Straße wieder zurück, von Kuhnert und seinem Fahrzeug ist inzwischen nichts mehr zu sehen. Kurz vor der Einfahrt, in der ihr Zielobjekt verschwunden ist, parken die Ermittler das Dienstfahrzeug, steigen aus und begeben sich nun ihrerseits zu dem Tor.

»Das steht einen Spalt offen«, sagt Bruchheim verdutzt.

Winkleer nickt, soweit er sehen kann, befindet sich hinter dem Tor ein ungepflegter, teilweise vermüllter Innenhof.

Die Außenmauern des daran angrenzenden Gebäudes sind durch eine Vielzahl von Graffiti verunziert.

Die schwarzen hohlen Öffnungen, welche einst die Fenster und Türen beherbergten, wirken wie dunkle Fremdkörper inmitten dieser farbenprächtigen Dissonanzen.

Vorsichtig drückt er das Tor weiter auf.

Nun ist zu sehen, dass Kuhnerts Fahrzeug neben dem dunklen Eingang zu dem hallenartigen Gebäude abgestellt ist.

Bruchheim tritt neben ihn und fragt, »Erst mal schauen, oder direkt die Kavallerie?«

»Gute Frage … Ich denke, wir erkunden erst einmal die Lage und entscheiden dann.«, antwortet der Chefinspektor.

Bruchheim nickt, vorsichtig gehen sie auf den Eingang zu.

Als sie das dunkle Gebäude betreten haben, befinden sie sich in einer großen Halle, ›Hier haben früher wahrscheinlich Dutzende von Arbeitern ihre Brötchen verdient.‹, denkt Winkleer. Er konnte sich aber nicht mehr erinnern, was hier seinerzeit produziert wurde. Jetzt beherbergte dieser Ort nur noch Müll, Schutt und wahrscheinlich das eine oder andere Nagetier.

Die Ermittler ziehen ihre Dienstwaffen und dringen, die regelmäßig im Raum verteilten Pfeiler ausnutzend, sich gegenseitig Deckung gebend tiefer in den durch das einfallende Licht nur spärlich ausgeleuchteten Raum ein.

Nach einigen Metern sind dann auch Einzelheiten der rückwärtigen Wand zu erkennen. Bruchheim flüstert, »Schau mal die Tür da hinten, die passt nicht zu der Bruchbude hier.«

Der Chefinspektor muss ihr spontan recht geben, unterhalb einer balkonartigen Empore befindet sich, unweit einer alten Werkbank, eine recht neu und solide aussehende geschlossene Metalltür.

»Das schauen wir uns genauer an.«, antwortete er leise seiner Kollegin.

Schritt für Schritt, immer wieder hinter einer der Säulen innehaltend, tasten sich die Polizisten langsam vor.

Plötzlich sagt Bruchheim leise, »Hörst Du das auch?«

*​

Nachdem Edwin Kuhnert wieder bei seiner Truppe in der alten Industriebrache angekommen ist, sitzt er mit Saskia, Robert und Ralf in dem provisorischen Aufenthaltsraum.

»Also noch mal zum Mitschreiben … Kommt bloß nicht auf die Idee die Fotos mit dem Handy zu machen, dann könnt ihr auch direkt die Polizei hier hinbestellen. Immer diesen Fotoapparat nehmen, der hat kein GPS. Ist das klar?«, führt Kuhnert nochmals mit ernster Stimme aus, während er immer wieder mit dem Finger auf die vor ihm liegende Kamera tippt.

»Wir haben es verstanden. Das brauchst Du uns nicht jedes Mal aufs Neue vorzubeten. Wir sind nicht blöde.«, sagt Saskia leicht pikiert.

Gerade will Kuhnert darauf eingehen, da ertönt im Hintergrund ein lauter Piepton.

Erschrocken wenden sich alle Blicke dem Monitor der Überwachungsanlage zu. »Schaut mal, da schleichen zwei Typen durch die Halle«, ruft Ralf aus.

»So wie das aussieht, sind die bewaffnet und nicht zufällig hier.«, ergänzt Saskia, »Die hast Du uns angeschleppt, statt Vorträge über GPS zu halten, hättest Du lieber öfter mal in den Rückspiegel schauen sollen.«, fährt sie an Edwin gerichtet fort.

»Scheiße, Ihr beide schnappt Euch was zum Ballern …«, sagt Kuhnert zu den männlichen Teammitgliedern und weist im Anschluss Robert an, »Du besetzt die Empore und nimmst diese beiden Schnüffler unter Feuer.«

Mit ernstem Blick fährt er fort, »Ralf, sobald die von oben eingedeckt werden, gehst Du in der Halle hinter der alten Werkbank in Deckung. Ich schleiche mich hinten raus, umrunde das Gebäude und falle denen dann in den Rücken. Saskia hält hier die Stellung. Dann sind diese Komiker da draußen in er Zwickmühle.«

»Hör mal Edwin, ich finde die Saskia sollte den Teil mit der Werkbank übernehmen … Von wegen der Frauenquote und so … Also nicht, dass die sich da zurückgesetzt fühlt.«, wirft Ralf mit ängstlicher Stimme ein.

»Halt die Klappe und mach das, was ich Dir gesagt habe.«, antwortet Kuhnert brüllend.

*​

Winkleer lauscht und sagt, »Du hast recht, das piepst irgendwo.«

Kurz danach öffnet sich oben der Zugang zur Empore, ein Mann orientiert sich kurz und nimmt Bruchheim unter Feuer. In letztem Moment gelingt es ihr, sich hinter einem der Pfeiler in Sicherheit zu bringen.

Bevor die Polizisten reagieren können, öffnet sich die Tür und eine weitere Person hechtet aus dem angrenzenden Raum hinter die Werkbank. Knallend fällt die Tür wieder ins Schloss.

Kurze Zeit später werden die Ermittler von zwei Seiten aus beschossen.

Jetzt wäre die Kavallerie eine gute Idee.‹, denkt Winkleer während er seine Taschen nach dem Handy durchsucht, siedend heiß geht ihm auf, ›Scheiße, das liegt auf dem Armaturenbrett.

Der Chefinspektor feuert zwei Schüsse in Richtung der Empore ab, hastig geht sein Ziel hinter Brüstung auf Tauchstation.

»Hole Verstärkung, mein Handy liegt im Auto.«, brüllt Winkleer zu Bruchheim rüber.

»Ich bekomme kein Netz, der ganze Stahlbeton hier schirmt wohl zu stark ab.«, antwortet ihm seine Kollegin, während sie ihrerseits den Gegner hinter der Werkbank unter Feuer nimmt, sodass sich auch der schnell duckt, um kein Ziel abzugeben.

In der Zwischenzeit hat sich der andere Schütze wieder herausgetraut und feuert abwechselnd auf Winkleer und Bruchheim.

So unkoordiniert, wie die hier herumballern, sind das garantiert Amateure, wären die Profis, hätte es sicherlich schon einen von uns erwischt.‹, denkt Winkleer.

In einer kurzen Feuerpause tritt Winkleer aus seiner Deckung hervor und nimmt Empore und Werkbank abwechselnd unter Feuer, gleichzeitig brüllt er seiner Kollegin zu, »Los jetzt, schnell zurück, nahe der Tür wirst Du wahrscheinlich wieder Empfang haben.«

Rhea hastet los und peilt einen, sich in der Nähe des Ausgangs befindlichen Pfeiler als Ziel an.

Nach zwei Schritten tritt sie auf einen im Dämmerlicht verborgenen Stein, schlägt mit dem Fuß um und kommt zu Fall.

Der inzwischen wieder hervorgekommene Schütze auf der Empore versucht die Situation auszunutzen, legt an, zielt und schießt.

Das Projektil schlägt knapp neben Rheas Kopf in den Boden ein.

Während Robert einen erneuten Versuch startet, hat der Chefinspektor Rheas Notlage erfasst, visiert aus seiner inzwischen wieder eingenommenen Deckung heraus den Schützen an, atmet tief durch und drückt ab.

Robert klappt getroffen zusammen und fällt über die Brüstung hinab auf den Hallenboden, wo er reglos liegen bleibt.

Rhea nutzt die Gelegenheit, um sich wieder aufzurappeln, und humpelt in Richtung Ausgang.

Das Schicksal seines Spießgesellen vor Augen, ruft der zweite Schütze, »Bitte nicht schießen, ich ergebe mich, aber bitte nicht mehr schießen.«

Winkleer lugt um den Pfeiler herum und ruft, »Ok, zuerst die Waffe herüberwerfen und dann mit erhobenen Händen herauskommen.«

Kaum sind die Worte verklungen, da fliegt die Pistole schon in hohem Bogen hinter der Werkbank hervor und landet ein gutes Stück entfernt auf dem Hallenboden.

Vorsichtig tritt Winkleer hinter dem Pfeiler hervor und sieht Ralf, welcher mit erhobenen Armen hinter der Werkbank steht.

Der Chefinspektor zielt mit seiner Dienstwaffe auf Ralf und denkt, ›Gut, dass der nicht weiß, dass mein Magazin inzwischen leer ist.‹, sagt aber markig, »Ok, langsam um die Werkbank herumgehen, dann auf die Knie und die Hände hinter den Kopf. Keine Mätzchen, sonst knallt es.«

»Ja klar, sofort. Aber bitte nicht schießen. Ich mache alles, was Sie wollen.«, antwortet Ralf ängstlich mit sich überschlagender Stimme, während er sich hastig anschickt, das Geforderte umzusetzen.

Kurz nachdem Winkleer den Gefangenen mit seinen Handschellen an die Werkbank gekettet hat, kommt Rhea angehumpelt und sagt, »Die Truppe ist unterwegs.«

Der Chefinspektor schaut sich den anderen Schützen an und sagt kopfschüttelnd, »Exitus, der braucht keinen Anwalt mehr.«

Rhea rüttelt kurz an der Tür. »Zu, da kommen wir nicht durch. Sollen wir mal schauen, ob es einen Hintereingang gibt?«

»Negativ, das Gelände ist groß, wer weiß wie lange das dauert, bis wir den gefunden haben. Warten können wir auch nicht, Maardam schneidet uns in Scheiben, wenn Melissa etwas passiert oder fortgeschafft wird. Ich versuche, das Schloss zu knacken, und Du besorgst mir die Waffe von einem unserer Freunde hier.«, sagt Winkleer.




23
Dumpf vor sich hinbrütend sitzt Melissa in ihrer Zelle. Zähflüssig reiht sich Stunde an Stunde. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie begonnen eines der bereitliegenden Bücher zu lesen, dieses Vorhaben jedoch schon nach wenigen Seiten wieder verworfen, zu sehr belastete die unerträgliche Zwangssituation ihr Denken.

Die sie umgebene Stille durchdringt plötzlich ein leiser, bisher nicht vernommener, Piepton. Während sie noch überlegt, woher dieses Geräusch wohl kommen mag, da hört sie mehrere aufeinanderfolgende Knallgeräusche.

Sind das etwa Schüsse?‹, überlegt sie, ›Vielleicht geht es diesen Arschgeigen gerade an den Kragen?

Mensch, das ist bestimmt die Polizei, die wollen mich befreien.‹, frohlockt Melissa hoffnungsvoll.

Die aufkeimende Euphorie wird gebremst, als sich vor ihrem geistigen Auge eine Szene abspielt, in der sie mit einer Pistole am Kopf als Kugelfang die Flucht dieser Verbrecher ermöglicht.

Das muss ich verhindern …‹, denkt sie, ›Aber wie?

Hektisch überlegend, blickt sie sich in ihrer Zelle um, auf einmal schießt ihr blitzartig eine Idee durch den Kopf, ›Ja klar, das könnte klappen.

*​

»Wolltest Du nicht hinten raus und dann diesen Bullen da draußen in den Rücken fallen?«, fragt Saskia Kuhnert irritiert.

»Blödsinn, die beiden Polizisten in der Halle werden längst Verstärkung angefordert haben, wir müssen hier weg, bevor es hier von Polente nur so wimmelt.«, antwortet Kuhnert, während er hektisch einige Dinge zusammensucht.

»Und wieso hast Du dann Robert und Ralf herausgeschickt, wir hätten uns doch alle gemeinsam verdrücken können?«, will seine Verlobte von ihm wissen.

Edwin verdreht genervt die Augen, »Diese beiden Idioten sind entbehrlich, wir aber brauchen die Zeit, die sie uns verschaffen, um Melissa von unten zu holen und dann mit ihr durch den Hintereingang anzuhauen. Und nun hör auf zu labern, gehe endlich runter und schnapp Dir das Balg, wir treffen uns dann an der Hintertür … Denk an Deine Pistole, falls die Göre Stress macht, kannst Du ihr damit drohen, mehr aber nicht, wir brauchen die lebend.«

Verunsichert steigt Saskia die Treppe herunter und fragt sich, an welchem Punkt man die falsche Richtung eingeschlagen hat, ›Mensch, wir mussten doch radikalere Maßnahmen ergreifen, damit man auf unser Anliegen aufmerksam wird, da hat Edwin doch recht, aber wie konnte es zu dieser Scheiße hier kommen, hätte ich vielleicht doch auf Doris hören sollen?

›Mann, jetzt reiß dich zusammen, hätte hätte Fahrradkette, egal wer recht hat, jetzt ist die Situation so wie sie ist, da muss ich durch.‹, ruft die Umweltaktivistin sich in Gedanken selbst zur Ordnung, während sie den Kellergang in Richtung Zelle entlanggeht.

Kurz vor dem Erreichen der Türe hört sie ein lautes Rumpeln aus der Zelle, so als würden dort eilig Möbel gerückt.

Schulterzuckend schiebt sie die Riegel zurück und versucht, die schwere Eisentür aufzudrücken.

Die Tür gibt keinen Millimeter nach.

Saskia verstärkt ihre Bemühungen und drückt mit aller Kraft gegen das Türblatt …

Vergeblich, nichts tut sich, der Zutritt bleibt ihr verwehrt.

»Verdammt noch mal, was immer Du gemacht hast, lass mich rein oder ich ziehe dir das Fell über die Ohren.«, brüllt Saskia, während sie mit voller Wucht vor die Türe tritt.

»Dazu müsstest Du erst mal an mein Fell herankommen, ich habe das Bett längs hinter die Tür gestellt, die bekommst Du garantiert nicht auf.«, wird ihr hämisch von innen zugerufen.

Tatsächlich passt das Bettgestell längs fast genau hinter die Tür, in die verbleibende Lücke hat Melissa einfach eins der Bücher hineingepresst. Auf die Schnelle kommt da erst einmal niemand rein.

Laut keifend verwünscht Saskia die Situation im Allgemeinen und Melissa im Besonderen, letztlich muss sie jedoch erkennen, dass sie hier nicht weiterkommt. Sie kehrt um, Kuhnert muss informiert werden, die Umweltaktivistin hofft, dass dieser eine rettende Idee hat. Also eilt sie den Weg zum Aufenthaltsraum wieder zurück, als sie die Treppe hinaufgehen will, sieht sie zwei Schatten an der Wand des oberen Absatzes.

Erschrocken verharrt sie in ihrer Bewegung und denkt, ›Scheiße, die Bullen sind schon hinter der Tür. Was nun?

*​

Das Türschloss widersteht bislang allen Bemühungen des Chefinspektors es zu öffnen. Seit geraumer Zeit stochert er erfolglos mit wachsender Nervosität in ihm herum.

Er kann machen, was er will, das Schloss lässt sich nicht überwinden.

»Hallo Herr Polizist …«, ruft Ralf von der Werkbank herüber.

Winkleer und Bruchheim schenken ihm keine Beachtung.

»Hallo Herr Polizist, hören Sie doch mal …«, versucht er erneut sein Glück.

»Mensch halt die Klappe, Du nervst.«, ranzt Bruchheim den Gefangenen an.

»Ist ja schon gut, ich wollte ja nur sagen, dass das ein Sicherheitsschloss ist, das bekommt man so nicht auf.«, gibt Ralf kleinlaut von sich.

»Ich habe gesagt, Du sollst die Klappe halten.«, wiederholt Rhea knurrend.

»Ok, Ok, ich bin ja schon ruhig, eigentlich wollte ich ihnen auch nur mitteilen, dass ich einen passenden Schlüssel dazu in der Tasche habe.«, murmelt der Gefesselte beleidigt vor sich hin.

Winkleer und Bruchheim schauen sich verdutzt an, Winkleer sagt, während er den Schlüssel holt, »Oh Mann ist das peinlich, das bleibt auf alle Fälle unter uns, kein Sterbenswort zu den Kollegen.«

Mit dem Schlüssel geht es dann ganz einfach, eine Sekunde später steht die Türe offen.

Bruchheim hält ihrem Kollegen eine Pistole hin und sagt, »Das ist die von dem Schlüssel-Typen, das Magazin ist voll.«

Vorsichtig tasten sich die Ermittler in den hinter der Tür liegenden Raum vor, keine Menschenseele ist zu sehen, in einer Ecke gibt eine Alarmanlage einen penetrant nervenden Piepton von sich, auf dem dazugehörigen Monitor ist die Halle zu sehen, aus der sie gerade kommen.

Hinter diesem Zimmer schließt sich rechts eine nach unten führende Treppe an. Linkerhand befindet sich eine verschlossene Tür.

»Wie weiter?«, fragt Winkleer.

»Wenn unsere Öko-Terroristen Melissa hier irgendwo eingesperrt haben, dann wahrscheinlich im Keller.«, antwortet seine Kollegin.

Der Chefinspektor nickt und murmelt »Also die Treppe.«

Gerade will er vorsichtig die Treppe hinabsteigen, da hört er von unten eine Frauenstimme rufen, »Hallo, ich bin hier unten. Nicht schießen, ich ergebe mich.«

Winkleer ruft hinunter, »Ok, verstanden, wenn sie eine Waffe haben, dann legen sie die auf die Treppe.«

Von der Seite kommt eine Hand aus der Dunkelheit und legt vorsichtig eine Pistole gut sichtbar auf eine Stufe.

»Gut, jetzt mit erhobenen Händen warten, wir kommen runter. Eine falsche Bewegung und es knallt.«, sagt der Chefinspektor warnend, während er langsam die Stufen hinuntersteigt.

Seine Kollegin folgt ihm langsam, an einen Hinterhalt oder Trick denkend, hält sie das Umfeld wachsam im Blick.

Kurze Zeit spät später sind Saskias Hände auf den Rücken gefesselt. Bruchheim will wissen, »Wo ist Melissa?«

»Da vorne den Gang lang, die letzte Türe.«, antwortet die Gefragte.

»Beten Sie, dass das Mädchen wohlbehalten ist. Sie gehen vor.«, sagt Rhea barsch und stößt Saskia vor sich her.

An der Türe angekommen, versucht Winkleer diese zu öffnen. Nachdem auch er an der Barrikade gescheitert ist, ruft er, »Melissa, hier ist die Polizei, Du kannst aufmachen.«

»Das kann jeder sagen, woher soll ich wissen, dass das auch stimmt.«, lautet die Antwort.

»Da hast Du vollkommen recht, ich kann Dir meinen Ausweis zeigen, wenn Du die Tür einen Spalt öffnest.«, antwortet der Chefinspektor.

Einen Moment herrscht Stille, als müsse Melissa darüber nachdenken, dann hört man drinnen ein ratschendes Geräusch, anschließend ruft das Mädchen, »Wenn Sie jetzt drücken, müsste die Tür ein kleines Stückchen aufgehen.«

Tatsächlich gelingt es Winkleer nun, die Tür so weit zu öffnen, dass er seinen Dienstausweis hindurchschnipsen kann.

Nach einigen Sekunden hört man, wie in der Zelle Möbel gerückt werden, unmittelbar danach öffnet sich die Türe - Melissa ist wieder frei.

*​

Kurze Zeit später trifft die angeforderte Verstärkung ein, die befreite Geisel wird an eine Krankenwagenbesatzung übergeben, die beiden Gefangenen werden von den Kollegen übernommen und dem Präsidium zugeführt.

Edwin Kuhnert und sein Elektroflitzer sind verschwunden. Winkleer leitet noch vor Ort eine landesweite Fahndung ein.

»Hier ist erst einmal alles in besten Händen, die Tatortteams haben alle Hände voll zu tun. Ich denke, wir können zurück ins Präsidium, um uns dort dann unsere beiden Öko-Terroristen mal vorknöpfen.«, stellt Winkleer fest.

»Bis die durch den Erkennungsdienst sind, haben wir noch etwas Zeit für eine Tasse Kaffee … Nebenbei, Danke, dass Du mir den Rücken freigehalten hast, der Typ auf der Empore hätte mich fast erwischt.«

»Kein Thema, das war mein Dankeschön dafür, dass Du mir letztens in dem Ferienhaus in Groolingen das Leben gerettet hast.«, sagt der Chefinspektor abwinkend.




24
Edwin Kuhnert wartet am Hinterausgang wie auf glühenden Kohlen auf Saskia. Als diese nach fünf Minuten noch immer nicht eingetroffen ist, denkt er, ›Scheiße, da ist etwas schiefgegangen. Länger kann ich nicht warten. Ist sowieso ein Wunder, dass es hier noch nicht vor Bullen nur so wimmelt.

Vorsichtig geht er um das Gebäude herum und lugt um die letzte Ecke.

Niemand ist zu sehen, einsam und verlassen steht sein Wagen vor dem Gebäude, als er sieht, dass die Ermittler das Tor haben aufstehen lassen, denkt er, ›Super Service, ich brauche nur einsteigen und abhauen.

Flugs setzt er sich in seinem Elektroflitzer hinters Steuer und braust von dannen. Nicht einmal fünfhundert Meter von der Brache entfernt, rasen dann schon die ersten Einsatzfahrzeuge auf der Gegenfahrbahn an ihm vorbei.

Schwein gehabt, ich hätte mich keine Minute später verdrücken dürfen.‹, geht es ihm erleichtert durch den Kopf.

Ihm ist klar, dass er seinen Wagen so schnell wie möglich loswerden muss, also fährt er in die Innenstadt und stellt sein Auto auf dem ersten freien Parkplatz, den er findet, ab. Sein Handy schaltet er aus und entsorgt es im nächsten Mülleimer.

Im erstbesten Supermarkt besorgt er sich zur Tarnung ein Basecap und eine Sonnenbrille.

Um seine Lage in aller Ruhe zu überdenken, holt er sich im Stehcafé gegenüber einen Mokka und stellt sich mit diesem an einen ruhigen, etwas abseits gelegenen Tisch.

Saskia hat Recht, die Bullen werden mir gefolgt sein, wahrscheinlich hat dieser Kieselmaier nicht die Schnauze gehalten.‹, resümiert er seine Situation.

Das bedeutet, die wissen, wer ich bin, wie ich aussehe, wo ich wohne … Scheiße, eigentlich wissen die alles von mir … Ich muss also weg von hier, und zwar sehr schnell und sehr weit.‹, führt er den Gedankengang fort.

Geldautomaten, Züge, Busse und Linienflüge usw. kann ich knicken … Da wird der Boss was einstielen müssen, mit einem Privatflugzeug sollte ich noch rauskommen. Am Bahnhof gibt es noch öffentliche Fernsprecher, von da aus kann ich den anrufen.‹, nimmt er sich vor.

Um sein Ziel zu erreichen, muss er praktisch die gesamte Innenstadt durchqueren. Trotz des Siegeszuges des Handys stehen auf dem Bahnhofsvorplatz noch immer zwei Telefonzellen.

Kuhnert kramt Kleingeld hervor, und wählt die auswendig gelernte Nummer. Nach dem dritten Rufzeichen kommt das Gespräch zustande.

»Ja.«

»Hier spricht der Expansionsbeauftragte.«

»Ich höre.«

»Die Erschließung der neuen Absatzmärkte ist gescheitert. Ich wiederhole, die Erschließung neuer Märkte ist gescheitert.«

»Bearbeiten Sie das Motivationsmittel, um den Druck zu erhöhen.«

»Negativ, das Motivationsmittel ist uns abhandengekommen.«

»Was schlagen sie vor?«

»Ich muss eine langfristige Dienstreise ins Ausland unternehmen, um zu verhindern, dass unsere Strategie dem Gegner bekannt wird. Konventionelle Transportmittel scheiden aus. Ein Privatflugzeug erscheint notwendig zu sein.«

»Das muss ich überdenken, rufen Sie in zwei Stunden erneut an.«

*​

Nachdenklich legt der Boss den Telefonhörer auf die Gabel.

Kurz lässt er sich das Gehörte durch den Kopf gehen, ›Das kann nur bedeuten, dass Melissa befreit wurde und sich Kuhnert auf der Flucht befindet.

Was sagte der noch, „Langfristige Dienstreise ins Ausland, um zu verhindern, dass unsere Strategie bekannt wird …“. Das soll wohl heißen, ich soll seine Flucht bezahlen und organisieren, ansonsten fängt der an, mich zu verzinken.‹, übersetzt er in Gedanken das Gehörte.

Wenn ich einmal damit anfange, kann ich auch direkt einen Dauerauftrag einrichten. Da müssen alternative Lösungen her.‹, beschließt er grimmig.




25
Als Winkleer die Tür zum Büro öffnen will, sagt er zu seiner Kollegin, »Gut, dass der Abteilungsdrache im Wochenende ist, sonst müssten wir jetzt zum Rapport in ihrem Büro antanzen.«

»Stimmt, so können wir uns, bevor wir unseren Beifang ausquetschen noch einen Kaffee gönnen.«, stimmt ihm Bruchheim zu.

Nach dem Öffnen der Tür wird Winkleer aus dem Raum heraus angesprochen, »Wen genau meinen Sie mit ›Abteilungsdrache‹?«

Überrascht blickt der Chefinspektor auf, vor ihm steht Maardam, offenkundig hat sie wegen der aktuellen Ereignisse ihr Wochenende unterbrochen und hier auf sie gewartet. Erschrocken antwortet er, »Ähh, Ja … Das … das ist ein … ähhh Missverständnis, ich sagte natürlich … ›Abteilungssache‹.«

Bruchheim springt ihm bei, »Ja, stimmt genau, der Kollege sagte sinngemäß ›So etwas wäre auch am Wochenende Abteilungssache.‹.«

»Dann ist es ja gut, Sie sollten an Ihrer Aussprache arbeiten, solcherlei Missverständnisse können schnell unmissverständliche Reaktionen hervorrufen. Was gibt es zu berichten?«, antwortet die Abteilungsleiterin.

Schnell bringt Winkleer seine Chefin auf den neusten Stand, die Tatsache, dass Kuhnert sich dem Zugriff entziehen konnte, erregt offenkundig ihr Missfallen, etwas besänftigen kann sie allerdings die Tatsache, dass Melissa befreit wurde.

»Nun gut, alles in allem ist das Teilergebnis durchaus recht passabel. Ich spitze mal meinen Bekannten aus der Pressestelle wegen einer Öffentlichkeitsfahndung nach diesem Kuhnert an. Für die Beantragung der Haftbefehle brauche ich dann die Personalbögen der Festgenommenen, sobald Sie die haben, lassen Sie mir eine Kopie zukommen. Wohl an, frisch ans Werk.«, verabschiedet sich Maardam.

»Passabel … Das nennt die passabel … Sollte die irgendwann einmal abgemurkst werden, dann werde ich allerhöchstens passabel ermitteln …«, stößt Winkleer ungehalten, aber vorsichtshalber in gedämpfter Tonlage aus.

»Immer mit der Ruhe, Lars. Ich kenne sie schon länger als Du. Das war für ihre Verhältnisse ein besonderes Lob. «, erwidert Bruchheim beschwichtigend.

Gerade will der Chefinspektor zu einer Antwort ansetzen, da tritt ein junger Polizist ein, überreicht zwei Aktenmappen und meldet, dass der Erkennungsdienst seine Arbeit abgeschlossen hat.

»So viel zum Thema Kaffeepause.«, sagt Winkleer resigniert, schaut in die erste Mappe und sagt, »Ok, fangen wir mit dem hier an.«

*​

Ralf sitzt mit hängenden Schultern im Vernehmungsraum den Beamten gegenüber.

»Sie sind Ralf Säger, dreißig Jahre alt, zurzeit beschäftigungslos?«, leitet Winkleer die Vernehmung ein.

»Ja, stimmt.«, wird leise geantwortet.

»Sie wurden belehrt und verzichten auf einen Rechtsbeistand?«, fragt der Chefinspektor weiter.

»Ja, auch das ist richtig.«, bestätigt Ralf ruhig.

»Sie gehören also zu den Helden, die zwei Mädchen in einer Turnhalle überfallen und eins davon gekidnappt haben?«, schaltet sich Bruchheim ein.

»Nein, nein. Ich habe mit Doris nur den Fahrzeugwechsel organisiert, also den Wagen zum Treffpunkt gefahren.«, schränkt der Vernommene hastig ein.

»Sieh mal einer an, ein wahrer Menschenfreund.«, fährt ihm die Inspektorin in die Parade.

Winkleer wirft seiner Kollegin einen tadelnden Blick zu, »Ich bin ja schon ruhig.«, sagt Rhea.

»Wie hat die ganze Sache angefangen?«, will der Chefinspektor wissen.

Ralf Säger redet wie ein Wasserfall, anfangs hatte man nur protestiert, vielleicht in dem Zusammenhang mal ein paar kleinere Straftaten begangen. Dann sei Edwin Kuhnert zu ihrer Gruppe gestoßen, der habe dann ganz andere Ideen gehabt, Autos in Brand setzen, Strommasten flachlegen usw. Kuhnert hätte immer genau darauf geachtet, dass mindestens einer aus der Gruppe mit dabei war. Irgendwann konnte dann keiner mehr zurück.

Vor ungefähr einem Monat hätte Kuhnert schließlich die Führung übernommen und die Gruppe anschließend einer sogenannten Leitungsebene unterstellt. So sollten koordinierte Aktionen mit anderen Gruppen möglich werden. Der erste Auftrag wäre dann die Entführung gewesen.

Abschließend meldet sich Bruchheim zu Wort, »Wer sind die übrigen Mitglieder und wo finden wir die?«

»Saskia Atzke und mich haben sie festgenommen. Dann gibt es noch Doris Balmar und Norbert Lohmann, wo die sind, weiß ich nicht, die sind mit einem Spezialauftrag irgendwo unterwegs. Den Robert haben sie erschossen.«, wird mit weinerlicher Stimme geantwortet.

»Also mit Kuhnert insgesamt sechs Mitglieder. Was ist das für ein Spezialauftrag, den die beiden haben?«, will Winkleer wissen.

»Das weiß nur Kuhnert.«, sagt Ralf.

*​

Nach einer kurzen Pause nimmt man sich Saskia Atzke vor, im Groben decken sich deren Angaben mit denen von Ralf Säger. An der Entführung hätte sie lediglich als Fahrerin teilgenommen und überhaupt an sonstigen Straftaten kämen bei ihr höchstens ein abgefackeltes Auto in Betracht, schon allein, weil Kuhnert sie, als dessen Verlobte, nur sehr zurückhaltend eingesetzt hätte.

Nach einigem Hin und Her gehen die Ermittler davon aus, dass sie zunächst einmal nichts Weiteres erfahren werden.

Maardam hatte schnelle Arbeit geleistet, nach Beendigung des Verhörs, können beide Umweltaktivisten zwecks Haftbefehlsverkündung direkt dem Haftrichter vorgeführt werden. Ihnen steht die Erste von vielen Nächten im Gefängnis bevor.

Zum Abschluss eines langen Arbeitstages sitzen sich die Ermittler noch am Schreibtisch gegenüber und lassen sich das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen.

»Wenn man einmal von der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung absieht, dann haben wir bei Säger Kindesentführung, Sachbeschädigung und den Mordversuch an uns, Atzke hätte dann Kindesentführung und Sachbeschädigung auf dem Kerbholz.«, resümiert Winkleer das Gehörte.

»Ich weiß nicht, der Säger hörte sich recht glaubwürdig an, bei der Atzke … Irgendwie stimmt da etwas nicht, ich glaube nicht, dass das alles war.«, wirft Rhea skeptisch ein.

»Ja, kann schon sein. Die individuellen Straftatbestände sind jetzt für uns auch nicht so wichtig, das kann Haarmann übernehmen.«, sagt Winkleer nachdenklich und fährt fort, »Ich tippe mal da drauf, dass das Ganze gar nichts mit Klimaschutz oder Öko-Gebrösel zu tun hat, Kuhnert wird diese Idioten für seine Zwecke eingespannt haben.«

»Sieht ganz danach aus, wie soll man sonst das Telefongespräch mit seinem ›Chef‹ verstehen, wobei … dann wäre auch er nur ein Mittelmann.«, stimmt Rhea nachdenklich zu.

»Wir leiten jetzt noch die Fahndung nach Doris Balmar und Norbert Lohmann ein.«, sagt der Chefinspektor.

Seine Kollegin ergänzt, »Das Rechercheteam soll mal versuchen, herauszufinden, wer Kuhnert heute angerufen hat. Vielleicht erfahren wir so, wer der ›Chef‹ ist.«

»Und dann ist Schicht für heute.«, verkündet Winkleer.




26
Nachdem Edwin Kuhnert sich zwei Stunden am Bahnhof herumgedrückt hat, nutzt er den öffentlichen Fernsprecher erneut, um den ›Chef‹ zu kontaktieren.

»Hier spricht der Expansionsbeauftragte.«

»Ich höre.«

»Ich möchte den Sachstand bezüglich der Dienstreise erfragen.«

»Positiv, die Dienstreise ist genehmigt.«

»Einzelheiten?«

»Flug in einem Privatjet, Abflug Krullstadt. Sonntag vierzehn Uhr.«

»Wie erfolgt der Transfer?«

»Selbstanreise per Dienstwagen. Das Fahrzeug steht im Parkhaus des Hauptstadt-Centers auf dem Stellplatz 148 für sie bereit. Der Schlüssel wird auf dem linken Vorderreifen deponiert.«

»Verstanden.«

Na also, klappt doch.‹, denkt Kuhnert zufrieden, als den Hörer zurück auf die Gabel legt.

Das Hauptstadt-Center liegt quasi genau im Herzen der Stadt, von seinem jetzigen Standpunkt ein sattes Stück entfernt.

Kurz überlegt Edwin, ob er die Wegstrecke mit dem Bus hinter sich bringen soll, entscheidet sich aber dagegen.

Im Bus ist man quasi eingesperrt und kommt im Falle eines Falles nicht so ohne Weiteres weg. Zu Fuß ist sicherer.‹, denkt er und läuft strammen Schrittes los.

*​

Die Strecke zieht sich dann doch länger hin, als er vermutet hat. Als er das Parkhaus erreicht, ist die Dämmerung bereits weit fortgeschritten.

Das Auto ist schnell gefunden, wie versprochen liegt der Schlüssel auf dem linken Vorderreifen.

Kurz prüft er die Tankanzeige, zufrieden stellt er fest, dass der Wagen vollgetankt ist.

Krulllstadt liegt rund fünfhundert Kilometer entfernt, wenn er dort ankommt, wird es tiefe Nacht oder früher Morgen sein, aber er hat ja am Folgetag bis vierzehn Uhr Zeit, es besteht also kein Grund zur Eile.

Entspannt startet er das Fahrzeug und fährt langsam und bedächtig los.






27
Auf dem Weg nach Hause überlegt Winkleer, wie er den Restaurantbesuch mit seiner Nachbarin angehen soll. ›Gut, dass ich daran gedacht habe, einen Tisch zu bestellen.‹, denkt er erleichtert.

Schmunzelnd muss er daran denken, wie man ihm am Telefon sagte, ›Für Ispettore immer Platz in Locale.

Bis zu seiner Verabredung hat er noch ein Weilchen Zeit, also wird zunächst einmal Samson mit allem versorgt, was das Katerleben lebenswert macht, von einer Katze vielleicht mal abgesehen.

Anschließend belegt Winkleer das Bad und gönnt sich das volle Programm, als er fertig ist, erinnert er sich dunkel daran, dass er irgendwo noch eine Flasche Aftershave haben müsste. Ein Weihnachtsgeschenk seiner letzten Flamme, vier Wochen später kam dann die Trennung. Seitdem bilden Samson und er quasi eine Männer-WG.

Nach einigem Herumkramen findet er, die noch immer in Geschenkpapier eingeschlagene, Flasche hinter dem Toilettenpapier.

Misstrauisch von Samson beäugt, steht er abschließend vor dem Kleiderschrank und überlegt, was er anziehen soll, ›Gediegen mit Anzug und Krawatte, oder sportlich salopp?

Eingedenk der Tatsache, dass es in eine Pizzeria und nicht ins Nobelrestaurant geht, entscheidet er sich für sportlich salopp.

So ausstaffiert und vor dem Spiegel für gut befunden, begibt er sich in den ersten Stock und klingelt bei seiner Nachbarin.

Nicht, dass die da jetzt gleich im Abendkleid im Rahmen steht.‹, befürchtet er in Gedanken, stellt aber nach dem Öffnen der Tür erleichtert fest, dass auch Sigrid eine pizzeriakonforme Ausstattung gewählt hat.

»Die ›beste Pizza der Stadt‹ wartet auf die Signorina. Darf ich bitten«, sagt Winkleer lächelnd.

»Aber gerne, ich freue mich schon den ganzen Tag auf diesen Abend.«, erwidert Sigrid, greift sich ihre Handtasche und verlässt die Wohnung.

*​

Nachdem Winkleer das Fahrzeug auf dem Parkplatz der Pizzeria abgestellt und galant, wie er nun einmal ist, Sigrid die Beifahrertür geöffnet hat, bemerkt diese, dass das Lokal von außen wirklich einen gemütlichen Eindruck vermitteln würde.

Die Tatsache, dass vor Kurzem eine junge Frau wahrscheinlich genau hier erdrosselt wurde, verschweigt er, nimmt er doch an, dass dieser Umstand den Zauber des Augenblicks trüben könnte.

Der freundliche Kellner empfängt Winkleer und seine Begleitung wie einen alten Bekannten, »Ahh … Ispettore mit Signorina, Benvenuta!«, und weist ihnen einen kleinen schnuckeligen Tisch am Rande des Geschehens zu.

Im flackernden Schein der Kerze studieren sie die Speisekarte, beide entscheiden sich, wie könnte es auch anders sein, für eine der ›besten Pizzen der Stadt‹.

Heute am Wochenende ist die Gaststätte wohl gefüllt, ohne Reservierung wäre ihnen ein Platz wahrscheinlich verwehrt geblieben.

Nachdem sie ihr Mahl bis auf den letzten Krümel verzehrt haben und noch gemütlich plaudernd bei einem Glas Wein zusammensitzen, fragt Sigrid, »Wirklich eine sehr angenehme Atmosphäre hier, wie bist Du nur auf dieses nette Lokal gekommen. Das liegt ja nun wirklich nicht in unserer Nähe.«

»Reiner Zufall, letztens war ich wegen einer Ermittlung hier, weil gerade Mittagszeit war, sind wir hier eingekehrt.«, antwortet Lars und denkt ›So ganz genau willst Du das nicht wissen.

Irgendwann ist der letzte Tropfen getrunken, die Kerze niedergebrannt. Der freundliche Kellner hat abkassiert und wünscht, mit einem satten Trinkgeld bedacht, »Arrivederci.«

Wieder zu Hause angekommen, bedankt sich Sigrid für den überaus schönen Abend, Winkleer winkt ab und weist darauf hin, dass er es sei, der zu danken habe und sich freuen würde, wenn man am nächsten Wochenende einen gemeinsamen Spaziergang im Naherholungsgebiet im Süden der Stadt unternehmen könnte.

»Ja gerne, da war ich schon lange nicht mehr, insbesondere am See ist es herrlich.«, wird ihm geantwortet.

Stimmt, genau da haben wir vor nicht allzu langer Zeit Lales Leiche aus dem Wasser gefischt. Na ja, muss ich ja nicht erzählen.‹, denkt Winkleer und sagt, »Also, dann ist es abgemacht, nächstes Wochenende wir beide am See.«

»Ich freue mich jetzt schon darauf. Schade, dass es erst in einer Woche ist. Vielleicht sieht man sich ja in der Zwischenzeit einmal.«, sagt Sigrid und wünscht, nachdem sie ihre Wohnungstür erreicht haben »Gute Nacht.«

Als Winkleer wieder seine Wohnung betritt, ist es schon spät, eigentlich schon viel zu spät, obwohl morgen Sonntag ist, wird er zum Dienst müssen, der Fall wartet nicht.

Trotzdem setzt er sich mit einem Tagesabschlussbierchen im Wohnzimmer auf das Sofa und denkt über den Abend nach, ›Bahnt sich da etwas an? Und wenn ja, wie finde ich das?

Spontan wischt er eventuelle Bedenken beiseite und stellt fest, dass er die Aussicht darauf gut findet und darauf hofft, dass sich da etwas anbahnt.

Mit einem guten Gefühl begibt er sich zu Bett.




28
Sonntag​

Langsam und fast unmerklich setzt die Morgendämmerung ein. Edwin Kuhnert hat Krullstadt fast erreicht. Am Sonntag zu dieser frühen Stunde gehört die Autobahn quasi ihm allein, nichts stört seine Anreise. Die nächste Ausfahrt muss er nehmen.

Um sich zu erleichtern, fährt er kurz vor seinem Ziel noch einen Parkplatz an. Mit einem Blick orientiert er sich, bis auf einen Lkw weiter vorn, ist er allein.

Der Fahrer wird schlafen.‹, nimmt er an, steigt aus und streckt sich. Nach fast fünfhundert Kilometern am Steuer fühlt er sich steif und ungelenk.

Gern wäre er zur Auflockerung einfach mehrmals ein wenig umhergegangen, der Druck in seiner Blase treibt ihn jedoch in die hinteren Gefilde, einen günstig stehenden Strauch hat er zur Erledigung des Anstehenden ins Auge gefasst.

Als er sich rund dreißig Meter von dem Wagen entfernt hat, hört er ein helles Piepsen. Noch bevor er sich umwenden kann, zerreißt krachend eine ohrenbetäubend laute Detonation sein Auto in einem Feuerball. Kuhnert wird von der Druckwelle erfasst und mit voller Wucht gegen einen der umstehenden fest einbetonierten Tische geschleudert. Einige der umherfliegenden Trümmerteile treffen ihn ungebremst und fügen ihm zahlreiche blutende Wunden zu.

Unwillkürlich will er sich an dem Tisch, der seinen Flug gestoppt hat, hochziehen, stellt jedoch fest, dass statt seiner Hand nur noch ein blutiger Stumpf vorhanden ist, auch seine Beine versagen ihm den gewohnten Dienst.

*​

André Scheuert ist Brummipilot aus Leidenschaft. Als Kapitän der Landstraße ist er auf jedem Rastplatz zu Hause. In seiner Koje hinter dem Fahrersitz schläft er normalerweise tief und fest, fast schon besser als Daheim. Heute jedoch wird er von lautem Donner und heftigem Gerüttel jäh aus seinem Schlummer gerissen, noch nicht ganz bei sich, weiß er zunächst nicht, wie ihm geschieht und wo er ist. Tanzendes helles rotes Licht dringt durch die Seitenscheibe zu ihm hinein.

Andrés erster Gedanke ist, dass der Auflieger seines Gefährts am Brennen sei, also verlässt er schleunigst die Fahrerkabine, stellt aber erleichtert fest, dass nicht sein Fahrzeug in Flammen steht, sondern die Reste eines weiter hinten parkenden Personenwagens.

Scheiße, was ist da passiert. Fackelt da schon wieder so eine Elektrokarre ab.‹, denkt Scheuert spontan, während er sich den Feuerlöscher greift, um zu retten, was zu retten ist.

Als er näher kommt, wird ihm klar, dass er mit seinem kleinen Feuerlöscher hier nichts ausrichten kann. André wendet seinen Blick ab, weil ihn der helle Schein des Feuers blendet, dabei erblickt er voller Entsetzen vor einem der Betontische den unnatürlich verdreht daliegenden Körper eines Mannes.

Oh Scheiße, der wurde bestimmt herausgeschleudert.‹, schießt es ihm spontan durch den Kopf. Schnell rennt Scheuert zu Kuhnert, um zu erkunden, ob und wie er helfen kann.

Kuhnert blickt ihn an und bewegt stumm die Lippen. Der Fernfahrer bückt sich zu Edwin hinab, noch immer übertönt das Prasseln der rückwärtigen Flammen die geflüsterten Worte, erst als André sein Ohr an den Mund des Strebenden hält, da meint er ›Wendo‹ zu verstehen.

Mit einem letzten Röcheln sackt Kuhnert dann endgültig zusammen.

Scheuert denkt, ›Scheiße, der wird mir doch nicht abnippeln …‹ und rennt hektisch zu seinem Wagen zurück, kramt das Handy aus dem Handschuhfach hervor und wählt die Nummer des Notdienstes.

Mit dem Verbandskasten in den Händen eilt er im Laufschritt zurück, es ist jedoch zu spät, Kuhnert ist tot.




29
Kaum hat Winkleer das Büro betreten, da wird er mit den Worten begrüßt, »Morgen, Du kannst die Jacke direkt anlassen.«

Verständnislos blickt der Chefinspektor seine Kollegin an, »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Was weißt Du über Krullstadt?«, fragt Rhea rhetorisch, während sie ihrerseits in ihre Jacke schlüpft.

»Kreisstadt im Süden des Landes, wie der Name es sagt, an der Krull gelegen, mittelalterlicher Stadtkern. Unweit des Ortes auf einem Hügel liegt die gut erhaltene Krullburg.«, brilliert Winkleer mit seinem Allgemeinwissen.

»Ohh, statt Wikipedia, künftig Winkipedia … Spaß beiseite, in der Pathologie von Krullstadt liegt unser Freund Edwin Kuhnert. Maardam ist bereits informiert und hat die Dienstreise angeordnet.«, erklärt Bruchheim.

»Dienstreise nach Krullstadt? Heute? Das sind rund fünfhundert Kilometer, kann das nicht die örtliche Polizei übernehmen?«, fragt Lars genervt zur Decke blickend.

»Möchtest Du das mit Maardam ausdiskutieren oder sollen wir besser losfahren?«, fragt seine Kollegin grinsend.

»Du hast mich überzeugt.«, gibt Winkleer auf.

»Wir nehmen meinen Wagen, das geht schneller.«, verkündet Rhea.

Mir bleibt auch nichts erspart.‹, denkt der Chefinspektor, während er tapfer nickt.

*​

Bruchheim legt die Strecke in der ihr eigenen Art und Weise in Rekordzeit zurück, bereits kurz nach Mittag fahren die Ermittler über die große Brücke in Krullstadt ein.

Das Navi leitet die Fahrerin durch die engen Gassen der Altstadt zum dortigen Polizeipräsidium.

Nachdem sie das Gebäude betreten haben, werden sie von Inspektor Carlo Bropaz begrüßt. Keine fünf Minuten später sitzen sie vor einer dampfenden Tasse Kaffee in dessen Büro.

Kurz berichtet er von den Vorfällen auf dem Parkplatz in den frühen Morgenstunden des Tages.

»Wie konnten Sie so schnell sicher sein, dass das unser Kuhnert ist, wenn ich mir die Verletzungen so anschaue, dann wird das mit den Fingerabdrücken ein Problem gewesen sein.«, fragt Winkleer, während er auf die auf dem Tisch liegenden Fotos aus der Pathologie zeigt und denkt, ›Den hat es wirklich böse erwischt, die eine Hand ist gar nicht mehr da und die andere sieht auch nicht gerade spurentauglich aus.

»Der hatte seinen Ausweis in der Tasche und bei der verbleibenden Hand konnte man von zwei Fingern noch brauchbare Abdrücke nehmen.«, erklärt Bropaz trocken.

»War das ein Unfall?«, will Bruchheim von ihrem hiesigen Kollegen wissen.

»Nein, garantiert nicht. Nichts in einem Auto kann solch eine heftige Explosion hervorrufen. Durch die Druckwelle wurde der Lkw unseres Zeugen mächtig durchgeschüttelt, Teile der Ladung und der Plane sind beschädigt. Entweder hatte Kuhnert etwas extrem Explosives geladen und der Transport ist schiefgegangen oder man hatte ihm eine Bombe untergeschoben. Die Techniker sind dran, bis Ergebnisse vorliegen wird es allerdings noch dauern.«, antwortet Carlos kopfschüttelnd.

»Was ist mit dem ausgebrannten Wagen?«, fragt die Inspektorin.

»Das Fahrzeug ist als gestohlen gemeldet. Spuren können sie nach dem Feuer vergessen.«, wird ihr geantwortet.

Winkleer nickt bedauernd und fragt weiter, »Hatte er außer seinem Ausweis noch etwas dabei?«

»Ja, Moment …«, wird geantwortet, während Bropaz sich umwendet, einen kleinen Karton hinter sich aufnimmt und an den Chefinspektor weiterreicht.

Der Chefinspektor nimmt die Schachtel und fragt, »Die Spurensicherung ist durch?«

Sein Kollege nickt ihm zu.

Winkleer schaut in den Karton, neben dem Ausweis findet sich dort eine fast leere Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Zettel.

Übersichtlich, interessant könnte eigentlich nur der Zettel sein …‹, überlegt Winkleer enttäuscht, während er das Stück Papier herausnimmt.

Lilienthalstraße

… steht dort geschrieben. Stirnrunzelnd fragt er, »Lilienthalstraße, gibt es die hier?«

»Ja, die haben wir, liegt etwas außerhalb. Außer unserem Sportflughafen ist da aber praktisch nichts.«, antwortet Carlos.

»Flughafen? Vielleicht hat der sich irgendein Flugzeug organisiert, um aus dem Land zu kommen. Sind für heute Flüge angemeldet?«, fragt Bruchheim alarmiert.

»Werte Kollegin, das haben wir schon längst abgeklopft … Von ein paar Segelfliegern mal abgesehen liegen für heute keine Anmeldungen vor.«, wird ihr geantwortet.

»Mist, wäre auch zu schön gewesen.«, flucht Rhea.

»Nein nein, das passt schon, es reicht, dass Kuhnert geglaubt hat, dass hier ein Flugzeug auf ihn wartet.«, wirft Winkleer ein.

»Du meinst, er wurde mit dem Versprechen auf einen Flug hier hin gelockt, um dann weit weg von der Hauptstadt in seinem Auto zu verbrennen, damit die Leiche gar nicht erst mit Kuhnert in Verbindung gebracht wird?«, fragt Bruchheim.

»Genau und das hätte ja auch fast geklappt. Wäre der nicht aus irgendeinem Grund ausgestiegen, dann gäbe es hier jetzt eine unbekannte stark verkohlte Leiche. Ob die dann jemals identifiziert worden wäre, steht in den Sternen.«, führt der Chefinspektor seine Theorie aus.

»Herr Bropaz, Sie erwähnten einen Zeugen. Mit dem würden wir gerne sprechen.«, sagt Bruchheim.

»Ja, das ist ein André Scheuert, weil der erst morgen weiterfahren kann, haben wir den hier einquartiert. Ich bringe Sie hin.«, sagt Carlos.

*​

Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass der Auflieger von Scheuerts Lkw durch die Explosion doch die eine oder andere Blessur davon getragen hatte. Heute am Sonntag ist an eine Reparatur nicht zu denken. Der Empfänger in Italien muss warten.

Die Polizei hatte ihm freundlicherweise ein Hotel empfohlen, hier hat er es gut getroffen, zurzeit erholt er sich auf der Sonnenterrasse mit einem Bierchen von dem morgendlichen Schreck.

Gerade hat er ein zweites hopfenhaltiges Kaltgetränk geordert, als zwei ihm unbekannte Personen an seinen Tisch treten.

Freundlich stellt sich der etwas ältere Mann vor, »Guten Tag Herr Scheuert, ich bin Chefinspektor Winkleer aus der Hauptstadt, die Dame hier neben mir ist die Inspektorin Bruchheim. Wir würden gerne mit Ihnen über den Vorfall heute Morgen sprechen.«

André bittet seine unverhofften Gäste, sich zu setzen und sagt, »Jetzt kommt schon extra die Polizei aus der Hauptstadt, weil hier mal wieder so eine Elektrokarre weggekokelt ist?«

»Nun, das war kein Elektrofahrzeug, wir sind auch aus einem anderen Grund hier. Lassen Sie uns ihre Aussage nochmals durchgehen, vielleicht ist sie unvollständig, weil mein Kollege eine Kleinigkeit überhört hat oder Ihnen noch etwas eingefallen ist.«, sagt Winkleer erklärend.

Scheuert nickt und sagt, »Ich bin ganz Ohr.«

»Heute Morgen noch vor Sonnenaufgang wurden Sie durch eine Detonation geweckt und sind anschließend ausgestiegen, um zu helfen. Soweit richtig?«

Scheuert nickt und ergänzt, »Den Feuerlöscher hatte ich mitgenommen, das Feuer war aber zu groß.«

»Dann haben sie den Mann gesehen, sind zum Führerhaus zurück, um den Notruf abzusetzen und den Verbandskasten zu holen. Als Sie wieder bei dem Opfer ankamen, war es bereits verstorben. Stimmt das so?«, fragt der Chefinspektor weiter.

»Nicht ganz, bevor ich zum Laster zurück bin, habe ich mir das arme Schwein genau angesehen, dabei hat der etwas gesagt. Das hatte ich vergessen ihren Kollegen zu sagen.«

Winkleer ist elektrisiert und will wissen, »Was hat der Mann gesagt? Möglichst genau bitte.«

»Also genau habe ich das nicht verstanden, der hat ganz leise gesprochen und das Feuer prasselte laut im Hintergrund. Ich musste ziemlich nah ran, um überhaupt etwas mitzubekommen …«, sagt André entschuldigend.

»Was haben sie verstanden?«, hakt der Chefinspektor hartnäckig nach.

»So was wie ›Wendo‹, ›Vento‹, ›Wänto‹ oder so ähnlich, der war nicht wirklich gesprächig, müssen Sie wissen.«, gibt der Brummifahrer von sich.

*​

Vor ihrer Heimfahrt gönnen sich die Ermittler in einem Imbiss noch eine Currywurst.

»Was meinst Du, hat sich die Fahrt gelohnt?«, fragt Bruchheim kauend.

»Ich denke nach dieser Sache können wir jetzt sicher davon ausgehen, dass es noch eine Instanz über Kuhnert gibt. So gesehen schon.«, antwortet Winkleer, während er mit einem Stück Weißbrot die Soße aus der Schale herausdippt.

»Und was kann der bloß mit ›Wendo‹ oder so gemeint haben?«, murmelt Rhea vor sich hin, während Lars unwissend mit den Schultern zuckt.

Auf der Rückfahrt in die Hauptstadt kostet Bruchheim wieder einmal alle Leistungsreserven ihres Sportwagens aus. Als sie endlich auf den Parkplatz des Präsidiums rollen, ist es bereits dunkel. Winkler kämpft sich aus diesem tiefer gelegten Folterinstrument heraus, wünscht einen schönen Feierabend und steigt müde in seinen Dienstwagen ein, um sich nach einem langen Tag in den Feierabend zu begeben.

>Fortsetzung folgt<
 



 
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