4
In den folgenden trüben Regentagen trieb ihn die Neugierde, trotz Verbot, über den Zaun in die nasse Wiese hinaus. Er marschierte zügig in den Nebel. Dass seine Hosenbeine feucht wurden, störte ihn nicht. Er blieb stehen und drehte sich um: das Haus war nur noch ein dunkler Schemen. Und vor ihm war kein Wald! Er war wie in nasse Watte gepackt und bis auf das sachte Geräusch der auf die Halme fallenden Tropfen war es totenstill.
»Vinz!«, ertönte eine hohe, wütende Stimme. Sie kam von dem Schatten dort am Zaun.
»Komm sofort zurück! Ich sehe dich, Lausbub! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht in die Wiese!«
Eilig und von Reue ergriffen stapfte er zurück. Die Tante zog ihm ein wenig am Ohr und er gelobte, artig zu sein.
»Was mach ich, wenn du mir im Nebel nicht mehr zurückfindest? Lausbub.«
»Dem fehlt ein Vater«, meinte beim Abendessen der Onkel hinter seiner Zeitung. »Ach, er ist ja so lieb«, sagte Ilse, und nahm ihn auf den Schoß.
Es folgten eine Reihe schöner Herbsttage, an denen der Wald in allen Farben zu glühen begann, und man über den Graben bis hinüber zu den Feldern und Häusern Vordernörnings sah. Menschen waren beim Heuwenden. Ein Traktor zog ferne knatternd seine Bahn.
»Da. Schau einmal durch.« Onkel Adolf war auf die Terrasse getreten und reichte Vinz ein schweres Binokel. »So hält man es.« Vinz sah durch und war fasziniert von den plötzlich sehr großen, und lautlos rechenden Menschen am Feld.
»Man hört aber nichts«, sagte Vinz.
»Mikrophon ist keines eingebaut«, lachte der Onkel.
Der Herbst ging hin, der Winter fiel ein und eines Morgens war Puchreit mit einem weißen, glitzernden Kleid bedeckt, denn die Schneewolken der Nacht hatten sich verzogen und die Morgensonne lachte. Vinz schlang das Frühstück hinunter, um nur schnell hinaus zu gelangen. Dicht eingemacht durfte er der Tante auf der Terrasse beim Schneeschieben helfen. Gegen Mittag wurde es warm. Dann war er allein. Langsam ging er zum Zaun. Ein strahlend-weißes Schneefeld lag vor ihm in der Sonne. Es verlor sich im dunklen Saum eines Fichtenwaldes. Unbekanntes, zugleich aber verbotenes Land. »Steig mir ja nicht noch einmal über den Zaun und geh ins Feld, sonst gibt's wirklich was«, klang ihm die Warnung der Tante im Ohr. Doch die Schneewiese, der Wald – wie sie lockten! Dort im Wald gab es Rehe, er hatte sie gesehen und der Schrei des Kuckucks kam zwischen den Stämmen hervor. Vinz glaubte ihn zu hören, zwischen den Tropfgeräuschen vom Dach und den Bäumen, das die Luft jetzt erfüllte, denn es ging gegen Mittag. Sehnsüchtig blickte er zum Saum des Waldes. Er stellte sich einen Urwald vor, mit alten Flechten und Moosen, von Schnee überglitzert, bewohnt von Tieren und mystischen Wesen, so wie sie in den Märchen auftraten, die ihm Ilse manchmal vorlas. Dann, wie durch Zauberei, befand er sich wieder jenseits des Zauns und stapfte los. Der Schnee war nass, drang ihm in die Stiefel und durchweichte die Socken. Doch das war ihm egal. Vinz wollte zum Waldrand und einen Blick riskieren. Das Vorankommen war schwieriger, als gedacht, doch wenn er sich beeilte, war er zurück, ehe die Tante etwas bemerkte. Tapfer setzte er Schritt vor Schritt. Vinz kam ins Schwitzen. Dort drüben war er, der Wald, unheimlich und anziehend zugleich. Wenn er ihn erreichte, das wusste er, war er am Ziel all seiner Sehnsucht. Dann würden sich ihm seine Wunder offenbaren! Vinz war ihm schon ein Stück näher. Vinz lief. Die Arme der Natur hatten sich ihm geöffnet und waren bereit ihn aufzunehmen. Nur ein kleines Stück noch, ich komme, Wald!
»Komm sofort zurück, du Lausbub!«
Vinz erstarrte. Der Schrei, der das selige Winteridyll zerriss, stammte von der Tante. Sie hatte seine erneute Missetat entdeckt. Sein Forscherdrang wich blankem Entsetzen. Zögerlich blieb er stehen.
»Was gibt es da noch zu überlegen! Du kommst auf der Stelle her, oder ich hole dich.«
Vinz drehte sich um.
»Na, was ist? Na, warte ... «
Für den Geschmack der Tante hatte er eine Sekunde zu lang gezögert und schon stapfte sie in ihren schwarzen Stallstiefeln heran. Schwer wie ein Dampfer. Vinz wusste, was ihm blühte. Und irgend etwas sagte ihm, dass er verdient hatte, was kommen würde. Die Tante stemmte ein Knie vor, legte ihn drüber und ließ ihre schwere Hand auf seinem Hintern tanzen. Mitten in der schönsten Schneelandschaft bekam er seine Tracht Prügel verpasst und für den nächsten Tag Hausarrest.
Am anderen Morgen kam die Tante noch einmal auf seine Expedition zurück, bat ihn, sie nicht mehr zu zwingen, böse zu werden und alles war wieder gut. Vinz blieb ihr gut. Er hielt sich in den kommenden Monaten an das Expeditionsverbot, nicht, weil er die Prügel fürchtete, sondern, weil er die dicke Frau mochte.
5
Der Winter ging unter vielerlei Spielen und Brettspielen im Haus recht und schlecht vorüber und eines Tages war der Frühling da. Vinz trat gut gelaunt vor das Haus, stellte sich an das Terrassengeländer und schaute nach Innernöring hinüber, wo das Grün letzte nasse Schneeflecken besiegte. In der Luft lag eine warme, belebende Kraft.
Er hörte schwere Schritte und drehte sich um. Onkel Adolf ging eben mit zwei zappelnden Hasen vorbei. Es waren Flecki und Orli. Er hielt sie an den Löffeln. Er verschwand die Treppe hinab und links zur geräumigen Garage hinein.
Vinz blieb unschlüssig stehen. Dann trieb ihn die Neugier, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Garagentür stand weit offen. Es roch nach Diesel. Im Hintergrund, rechts neben dem VW-Käfer des Onkels, befand sich noch eine Tür. Sie war aus Holz und stand halb offen. Vinz trat näher und lugte durch den Spalt. Ein neuer Geruch stieg ihm in die Nase, süßlich. Dann sah er Onkel Adolf. Er hielt Flecki an den Läufen über einen Kübel neben einem Holzpflock. Blut rann dem Hasen aus dem Hals, tropfte in den Kübel, geriet daneben und färbte die Sägespäne auf den Boden. Onkel Adolf bemerkte Vinz, ließ in einem schmalen Lächeln seinen Eisenzahn aufblitzen und achtete wieder auf sein Handwerk. Flecki zappelte noch ein, zwei Mal schwach. Dann rührte er sich nicht mehr. Der Onkel legte ihn auf die Werkbank. Dann holte er Orli hervor. Trotz seiner zusammengebundenen Läufe wand er sich unter Onkel Adolfs festen Griff. Stumm kämpfte er um sein Leben. Doch er hatte keine Chance. Der Onkel griff sich ein langes, blutverschmiertes Messer, und rammte es mit einer energischen Bewegung in Orlis Hals. Blut stürzte heraus, in den Kübel und auf die Sägespäne. Orli zuckte konvulsivisch. Dann stieg auch seine Seele in den Hasenhimmel. Die beiden wackeren Hasen hatten ihren Tod in gespenstischer Lautlosigkeit erduldet.
»Morgen gibt es Hasenbraten«, sagte Onkel Adolf. Betäubt verließ Vinz den Ort der blutigen Tat. Am nächsten Tag gab es den Braten. Alle aßen mit großem Appetit. Vinz zögerte einen Moment, dann langte auch er zu. Tante Sophia war eine grandiose Köchin.
6
Der Sommer kam. Vinz liebte die Gräser, Blumen und Schmetterlinge.
»Wo kommen die vielen weißen Schmetterlinge her?«, fragte er eines Spätsommertages.
»Zuerst sind sie Raupen. Dann verpuppen sie sich, und die Schmetterlinge schlüpfen. Wenn ich nicht aufpasse, fressen mir die Raupen das Gemüse zusammen.«
Vinz saß an der Zufahrtsstraße, beobachtete das von einem raschen Sommerregen gespeiste Rinnsal, dass über den Kies gurgelte und wurde von heller Freude erfasst. Die Laubbäume rauschten und flüsterten ihm Lieder ins Ohr.
Er war eins mit sich und der Welt. Andere Kinder, Spielkameraden, gingen ihm nicht ab, weil er keine kannte. Großmutter, Mutter und Eddy waren schon zu blassen Schemen geworden. Geister einer anderen Zeit. Vinz gehörte hierher. An dieses Rinnsal, an diese Straße, in dieses Haus, das so frei und hoch am Wiesenhang stand, der weiter oben in den verbotenen Wald grenzte. Vinz würde hier bleiben, für immer und immer und immer ...
Während der Sommer in Millionen grünen Blättern schwoll und mit großen Schritten der Herbst kam, fühlte sich Vinz Sabotnik wie die Ewigkeit selbst.
Dann, eines Nachmittags, kam die Mutter. Vinz erkannte sie auf dem ersten Blick gar nicht, als sie neben Tante Sophia in der Küche stand, denn ihr Haarturm war weg. Ihr Erscheinen war ihm unangenehm. Sie murmelte etwas von, dass der Besuch bei Tante Sophia zu Ende sei und er mitzukommen hätte.
»In die Baracke?«, fragte Vinz verzagt.
»Nein«, antwortete die Mutter etwas peinlich berührt. »Komm, packen wir.« Hilflos schaute er in das runde Gesicht von Tante Sophia. Sie stand schweigend und mitfühlend dabei. Das Packen verlief stumm. Zum Abschied gab er allen die Hand. Tante Sophia strich ihm über die Wange. Ilse nahm ihn hoch und herzte ihn. Onkel Adolf reichte ihm stumm seine haarige Pranke. Nur Erika schien es gar nicht recht zu sein, dass Vinz sie wieder verließ. Wütend blätterte sie in einem Katalog.
In den folgenden trüben Regentagen trieb ihn die Neugierde, trotz Verbot, über den Zaun in die nasse Wiese hinaus. Er marschierte zügig in den Nebel. Dass seine Hosenbeine feucht wurden, störte ihn nicht. Er blieb stehen und drehte sich um: das Haus war nur noch ein dunkler Schemen. Und vor ihm war kein Wald! Er war wie in nasse Watte gepackt und bis auf das sachte Geräusch der auf die Halme fallenden Tropfen war es totenstill.
»Vinz!«, ertönte eine hohe, wütende Stimme. Sie kam von dem Schatten dort am Zaun.
»Komm sofort zurück! Ich sehe dich, Lausbub! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht in die Wiese!«
Eilig und von Reue ergriffen stapfte er zurück. Die Tante zog ihm ein wenig am Ohr und er gelobte, artig zu sein.
»Was mach ich, wenn du mir im Nebel nicht mehr zurückfindest? Lausbub.«
»Dem fehlt ein Vater«, meinte beim Abendessen der Onkel hinter seiner Zeitung. »Ach, er ist ja so lieb«, sagte Ilse, und nahm ihn auf den Schoß.
Es folgten eine Reihe schöner Herbsttage, an denen der Wald in allen Farben zu glühen begann, und man über den Graben bis hinüber zu den Feldern und Häusern Vordernörnings sah. Menschen waren beim Heuwenden. Ein Traktor zog ferne knatternd seine Bahn.
»Da. Schau einmal durch.« Onkel Adolf war auf die Terrasse getreten und reichte Vinz ein schweres Binokel. »So hält man es.« Vinz sah durch und war fasziniert von den plötzlich sehr großen, und lautlos rechenden Menschen am Feld.
»Man hört aber nichts«, sagte Vinz.
»Mikrophon ist keines eingebaut«, lachte der Onkel.
Der Herbst ging hin, der Winter fiel ein und eines Morgens war Puchreit mit einem weißen, glitzernden Kleid bedeckt, denn die Schneewolken der Nacht hatten sich verzogen und die Morgensonne lachte. Vinz schlang das Frühstück hinunter, um nur schnell hinaus zu gelangen. Dicht eingemacht durfte er der Tante auf der Terrasse beim Schneeschieben helfen. Gegen Mittag wurde es warm. Dann war er allein. Langsam ging er zum Zaun. Ein strahlend-weißes Schneefeld lag vor ihm in der Sonne. Es verlor sich im dunklen Saum eines Fichtenwaldes. Unbekanntes, zugleich aber verbotenes Land. »Steig mir ja nicht noch einmal über den Zaun und geh ins Feld, sonst gibt's wirklich was«, klang ihm die Warnung der Tante im Ohr. Doch die Schneewiese, der Wald – wie sie lockten! Dort im Wald gab es Rehe, er hatte sie gesehen und der Schrei des Kuckucks kam zwischen den Stämmen hervor. Vinz glaubte ihn zu hören, zwischen den Tropfgeräuschen vom Dach und den Bäumen, das die Luft jetzt erfüllte, denn es ging gegen Mittag. Sehnsüchtig blickte er zum Saum des Waldes. Er stellte sich einen Urwald vor, mit alten Flechten und Moosen, von Schnee überglitzert, bewohnt von Tieren und mystischen Wesen, so wie sie in den Märchen auftraten, die ihm Ilse manchmal vorlas. Dann, wie durch Zauberei, befand er sich wieder jenseits des Zauns und stapfte los. Der Schnee war nass, drang ihm in die Stiefel und durchweichte die Socken. Doch das war ihm egal. Vinz wollte zum Waldrand und einen Blick riskieren. Das Vorankommen war schwieriger, als gedacht, doch wenn er sich beeilte, war er zurück, ehe die Tante etwas bemerkte. Tapfer setzte er Schritt vor Schritt. Vinz kam ins Schwitzen. Dort drüben war er, der Wald, unheimlich und anziehend zugleich. Wenn er ihn erreichte, das wusste er, war er am Ziel all seiner Sehnsucht. Dann würden sich ihm seine Wunder offenbaren! Vinz war ihm schon ein Stück näher. Vinz lief. Die Arme der Natur hatten sich ihm geöffnet und waren bereit ihn aufzunehmen. Nur ein kleines Stück noch, ich komme, Wald!
»Komm sofort zurück, du Lausbub!«
Vinz erstarrte. Der Schrei, der das selige Winteridyll zerriss, stammte von der Tante. Sie hatte seine erneute Missetat entdeckt. Sein Forscherdrang wich blankem Entsetzen. Zögerlich blieb er stehen.
»Was gibt es da noch zu überlegen! Du kommst auf der Stelle her, oder ich hole dich.«
Vinz drehte sich um.
»Na, was ist? Na, warte ... «
Für den Geschmack der Tante hatte er eine Sekunde zu lang gezögert und schon stapfte sie in ihren schwarzen Stallstiefeln heran. Schwer wie ein Dampfer. Vinz wusste, was ihm blühte. Und irgend etwas sagte ihm, dass er verdient hatte, was kommen würde. Die Tante stemmte ein Knie vor, legte ihn drüber und ließ ihre schwere Hand auf seinem Hintern tanzen. Mitten in der schönsten Schneelandschaft bekam er seine Tracht Prügel verpasst und für den nächsten Tag Hausarrest.
Am anderen Morgen kam die Tante noch einmal auf seine Expedition zurück, bat ihn, sie nicht mehr zu zwingen, böse zu werden und alles war wieder gut. Vinz blieb ihr gut. Er hielt sich in den kommenden Monaten an das Expeditionsverbot, nicht, weil er die Prügel fürchtete, sondern, weil er die dicke Frau mochte.
5
Der Winter ging unter vielerlei Spielen und Brettspielen im Haus recht und schlecht vorüber und eines Tages war der Frühling da. Vinz trat gut gelaunt vor das Haus, stellte sich an das Terrassengeländer und schaute nach Innernöring hinüber, wo das Grün letzte nasse Schneeflecken besiegte. In der Luft lag eine warme, belebende Kraft.
Er hörte schwere Schritte und drehte sich um. Onkel Adolf ging eben mit zwei zappelnden Hasen vorbei. Es waren Flecki und Orli. Er hielt sie an den Löffeln. Er verschwand die Treppe hinab und links zur geräumigen Garage hinein.
Vinz blieb unschlüssig stehen. Dann trieb ihn die Neugier, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Garagentür stand weit offen. Es roch nach Diesel. Im Hintergrund, rechts neben dem VW-Käfer des Onkels, befand sich noch eine Tür. Sie war aus Holz und stand halb offen. Vinz trat näher und lugte durch den Spalt. Ein neuer Geruch stieg ihm in die Nase, süßlich. Dann sah er Onkel Adolf. Er hielt Flecki an den Läufen über einen Kübel neben einem Holzpflock. Blut rann dem Hasen aus dem Hals, tropfte in den Kübel, geriet daneben und färbte die Sägespäne auf den Boden. Onkel Adolf bemerkte Vinz, ließ in einem schmalen Lächeln seinen Eisenzahn aufblitzen und achtete wieder auf sein Handwerk. Flecki zappelte noch ein, zwei Mal schwach. Dann rührte er sich nicht mehr. Der Onkel legte ihn auf die Werkbank. Dann holte er Orli hervor. Trotz seiner zusammengebundenen Läufe wand er sich unter Onkel Adolfs festen Griff. Stumm kämpfte er um sein Leben. Doch er hatte keine Chance. Der Onkel griff sich ein langes, blutverschmiertes Messer, und rammte es mit einer energischen Bewegung in Orlis Hals. Blut stürzte heraus, in den Kübel und auf die Sägespäne. Orli zuckte konvulsivisch. Dann stieg auch seine Seele in den Hasenhimmel. Die beiden wackeren Hasen hatten ihren Tod in gespenstischer Lautlosigkeit erduldet.
»Morgen gibt es Hasenbraten«, sagte Onkel Adolf. Betäubt verließ Vinz den Ort der blutigen Tat. Am nächsten Tag gab es den Braten. Alle aßen mit großem Appetit. Vinz zögerte einen Moment, dann langte auch er zu. Tante Sophia war eine grandiose Köchin.
6
Der Sommer kam. Vinz liebte die Gräser, Blumen und Schmetterlinge.
»Wo kommen die vielen weißen Schmetterlinge her?«, fragte er eines Spätsommertages.
»Zuerst sind sie Raupen. Dann verpuppen sie sich, und die Schmetterlinge schlüpfen. Wenn ich nicht aufpasse, fressen mir die Raupen das Gemüse zusammen.«
Vinz saß an der Zufahrtsstraße, beobachtete das von einem raschen Sommerregen gespeiste Rinnsal, dass über den Kies gurgelte und wurde von heller Freude erfasst. Die Laubbäume rauschten und flüsterten ihm Lieder ins Ohr.
Er war eins mit sich und der Welt. Andere Kinder, Spielkameraden, gingen ihm nicht ab, weil er keine kannte. Großmutter, Mutter und Eddy waren schon zu blassen Schemen geworden. Geister einer anderen Zeit. Vinz gehörte hierher. An dieses Rinnsal, an diese Straße, in dieses Haus, das so frei und hoch am Wiesenhang stand, der weiter oben in den verbotenen Wald grenzte. Vinz würde hier bleiben, für immer und immer und immer ...
Während der Sommer in Millionen grünen Blättern schwoll und mit großen Schritten der Herbst kam, fühlte sich Vinz Sabotnik wie die Ewigkeit selbst.
Dann, eines Nachmittags, kam die Mutter. Vinz erkannte sie auf dem ersten Blick gar nicht, als sie neben Tante Sophia in der Küche stand, denn ihr Haarturm war weg. Ihr Erscheinen war ihm unangenehm. Sie murmelte etwas von, dass der Besuch bei Tante Sophia zu Ende sei und er mitzukommen hätte.
»In die Baracke?«, fragte Vinz verzagt.
»Nein«, antwortete die Mutter etwas peinlich berührt. »Komm, packen wir.« Hilflos schaute er in das runde Gesicht von Tante Sophia. Sie stand schweigend und mitfühlend dabei. Das Packen verlief stumm. Zum Abschied gab er allen die Hand. Tante Sophia strich ihm über die Wange. Ilse nahm ihn hoch und herzte ihn. Onkel Adolf reichte ihm stumm seine haarige Pranke. Nur Erika schien es gar nicht recht zu sein, dass Vinz sie wieder verließ. Wütend blätterte sie in einem Katalog.