Klopapier

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lietzensee

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Klopapier

Karl arbeitete seit Jahren in der Einkaufsabteilung eines kleinen Bürowarenhandels. Er bestellte Kisten mit Kugelschreibern und Druckerkartuschen. Drei Wochen nach seinem vierzigsten Geburtstag hatte er den schlausten Einfall seines Lebens, der ihn dann ins Verderben stürzte.
Es fing damit an, dass überall im Internet von einer neuen Krise zu lesen war. Die Leute auf seiner Freundesliste posteten Videos über Konservendosen und Selbstverteidigung. Lange fand Karl das nur lästig. Dann aber begann er, etwas genauer hinzusehen und ihm fiel auf, dass sie alle über Klopapier schrieben. Sie kauften Klopapier, sie wollten mehr Klopapier kaufen und sie regten sich auf, weil es nicht genug Klopapier zu kaufen gab. Das machte Karl neugierig. Er scrollte durch die Postings, kratzte sich hinter den Ohren und schrieb schließlich Sven Hennemeyer an. Den hatte er mal auf einem Junggesellenabschied kennengelernt.
Hennemeyer antwortete ihm sofort: „Ja, jetzt ist es so weit. Die sozioökonomische Fliehkraft hat den Point of no Return erreicht. Wie Karl Popper vorher gesagt hat, die Demokratie wird zum Faschismus, der Faschismus wird zum Failing System und morgen schon wird es diesen Staat nicht mehr geben. Statt Polizei wird dann der einfache Bürger mit Schlagstock und Fahrradkette in der Hand regieren.“
Karl erinnerte an den gemeinsamen Junggesellenabschied und lenkte das Gespräch behutsam in Richtung seiner Frage.
Nach einigem hin und her bekam er von Hennemeyer schließlich Antwort. „Ich bin dabei, Atze! Und ich hab Freunde, die ebenfalls Interesse haben.“
Hennemeyer hatte viele Freunde und Karls Postfach wurde nun geflutet. Sie alle wollten Klopapier und dafür wollten sie mehr zahlen, als Karl je für möglich gehalten hätte. Es war ein merkwürdiges Gefühl für ihn. Sein öder Beruf war plötzlich ein Privileg. Er schrieb seinen Kontakt beim Großhändler an und dies wurde der beste Geschäftsbrief, den er je verfasst hatte, voll mit Anspielungen auf frühere Geschäfte und zukünftige Zusammenarbeit und mit einigen diskreten Scheinen Bargeld. Gerade fünf Paletten der teuersten Sorte hatte der Großhändler noch auf Lager und die sollten an Karl privat gehen, nicht an seine Firma.
Als er die Lieferzusage erhielt, schwirrte ihm der Kopf, wie schnell sich alles entwickelte. Die Leute standen für Klopapier nun Schlange, jeder wollte alles dafür bezahlen und fünf Paletten von diesem Zeug waren auf dem Weg zu seiner Wohnung. Erst wurde ihm klar, dass er ein gemachter Mann war. Dann wurde ihm klar, dass er in seiner Wohnung kein Platz für fünf Paletten Klopapier hatte. Der Liefertermin war schon Morgen und auf der Arbeit meldete Karl sich krank.
Er trug die Wintersachen in den Flur und das Gästebett in den Garten. Er überlegte, wie viele Pakete wohl in seine Kochnische passten und schob die gesamte Schrankwand ins Treppenhaus. Schließlich war das Wohnzimmer fast leer. Aber es reichte noch immer nicht ganz und für Karl kam nun der Moment, an dem er sich entscheiden musste. Er würde es durchziehen, egal welche Opfer er bringen musste. Mit einem Eimer leerte er die 800 Liter seines Aquariums. Er spülte die Fische das Klo hinunter und kippte den leeren Glaskasten aus dem Fenster. Jetzt gab es kein Zurück mehr. An der Tür klingelte es.
Fünf Paletten Klopapier standen in der Einfahrt des Mehrfamilienhauses. Der Fahrer forderte eine Unterschrift von Karl und wollte wieder ins Fahrerhaus steigen. Da hielt Karl ihm am Arm zurück.
„Was?“
Karl zeigte auf die Paletten und auf seine Wohnung im zweiten Stock. Der Fahrer zeigte ihm einen Vogel. Schnell heizte sich die Diskussion auf und Karl begann zu schreien, aber es war der Fahrer, der schließlich auf die Lösung kam.
„Vier Pakete!“
Das rechnete Karl in den Marktwert der Ware um und fühlte sich erpresst. Aber er hatte keine Wahl. Zumindest konnte er dann den Postboten für nur ein Paket rekrutieren und drei Stunden später stand er mit angewinkelten Armen in seinem Wohnzimmer. Mehr Platz ließ das gestapelte Klopapier ihm nicht. Ringsum bedrängte ihn bares Geld. Er rechnete seinen Profit zusammen und begann, vor Aufregung zu zittern. Dann geschah, was immer geschah, wenn er vor Aufregung zitterte. Aber nun sollte es seinem Leben eine wichtige Wendung geben. Er musste aufs Klo.
Als er auf der Schüssel saß und seine neue Lebenssituation überdachte, wurde er unruhig. Er riss eines der Pakete auf und betastete den Inhalt. „Ich will ja keine ungeprüfte Ware verkaufen“, sagte er und lachte allein über seinen Witz. Dann wischte er sich mit diesem Papier den Hintern ab. Es war vierlagig, weich und hinterließ ein angenehm gepflegtes Gefühl. Wirklich eine gute Qualität, dachte Karl und zog die Spülung. Aus Übermut schmiss er sein altes Billig-Papier aus dem Fenster.
Gedrängt zwischen den Paketen im Wohnzimmer begann er dann, E-Mails an seine Käufer zu schreiben. Er bestätigte Zahlungseingänge und kündigte baldige Lieferung an. Aber es war ein langer Tag gewesen. Die Aufregung, die schwere Arbeit. Er spürte noch, wie die Müdigkeit ihn übermannte und rutschte dann von seinem Stuhl. Dabei fiel er weich. Karl streckte sich auf dem Papier aus und es trug ihn sanft und fluffig. Er träumte.
Als er am nächsten Morgen erwachte, hielt er die Augen noch lange geschlossen. Er müsste heute zur Arbeit gehen, doch gab es Wichtigeres zu tun. Um sich herum fühlte er das extraweiche Vierlagige. Die Finger sanken darin ein, wie in Flanell. Das Beste, was an Klopapier zu haben war und, so hatte der Großhändler ihm versichert, wohl für lange Zeit die letzte Lieferung auf dem Markt. Es wurde ihm klar, dass er auf diesen weichen Luxus nicht mehr verzichten wollte – nie wieder!
Am Computer schrieb er eine kurze Mail an alle Kunden, dass er stornieren musste. Sie würden ihr Geld zurückbekommen. Er aber würde das Klopapier behalten, alles! Jede einzelne, flauschige Rolle! Er schob sich einen engen Weg zum Fenster frei und betrachtete dort ein Blatt im Tageslicht. Seltsam, dass er Klopapier vorher noch nie genau angesehen hatte. Er ließ das Papier durch die Finger gleiten. Diese weiße Farbe, diese Reinheit, er vergrub sein Gesicht in dem Papier und atmete den Duft der Bleichmittel.
Auf seine E-Mails bekam er nur eine Antwort. Hennemeyer verlangte, dass bei einer Stornierungen der aktuelle Marktwert zu erstatten sei. Andernfalls würde es Ärger geben und statt eines Grußes fügte er Links zu Online-Auktionen an. Für Klopapier wurde dort das Zehnfache des von Karl geforderten Preises bezahlt. Hennemeyer, erinnerte Karl sich nun wieder, hatte bei dem Junggesellenabschied auf ein Blumenbukett gekotzt und den Barmann verprügelt.
Da klingelte es an der Tür. Ein Nachbar regte sich über die leeren Paletten in der Einfahrt auf. Ein Zweiter kam hinzu und drohte mit der Hausverwaltung. Ein Dritter verlangte Klopapier. Dem schlug Karl die Tür ins Gesicht. Er knirschte mit den Zähnen. Das hätte er doch vorhersehen müssen. Es war weißes, weiches Klopapier, vier Lagen und in der besten Qualität. Da wollte jeder mit seinen Fingern ran. Der Gedanke schmerzte ihn, die schmutzigen Finger der Nachbarn auf seinem weißen Papier. Reinheit besudelt von Exkrement und Bazillen, eine schreckliche Vorstellung. Er nahm Anlauf, sprang und vergrub sich in die Stapel sanfter Rollen. Mit den Händen knetend, blieb er so liegen, bis ihn ein Geräusch vor dem Fenster schreckte.
Das Geräusch wurde schnell lauter. Er zwängte sich zum Vorhang und sah in der Einfahrt Männer mit Schlagstöcken und Fahrradketten in der Hand – seine Kunden.
Die Lage wurde ernst. Aber er würde nicht aufgeben. Er hatte, so sagte er sich, für diese Sache sogar seine Fische die Toilette runtergespült. Karl riss das Fenster auf und rief dem Mob entgegen, dass er kein Papier aus seiner Hand gab, keine Rolle, kein Blatt, kein Fitzelchen. Das müssten sie sich schon mit Gewalt holen.
Die Leute in der Einfahrt johlten und erste Steine flogen in Richtung seiner Fenster.
Karl zitterte vor Aufregung. Er brüllte noch einmal, dass er sein weißes Papier von ihnen nicht beschmutzen lassen würde. Aber sehr plötzlich wurde ihm klar, dass sein Kampf verloren war. Die wahre Gefahr für die Reinheit seines Papiers war perfider als der Mob. Wenn er vor Aufregung zitterte, dann musste er immer aufs Klo.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo lietzensee,

die Nummer mit dem Klopapier hatten wir doch vor etwa 21 Monaten, nicht wahr? Da wurde das plötzlich Mangelware.
Wie man jedoch einen Fetisch für vierlagiges Klopapier aufbauen kann, ist mir ein Rätsel ... ;)

Ein kleines Fehlerchen ist mir aufgefallen. Im letzten Absatz:
... das er sein weißes Papier vor von ihnen nicht beschmutzen lassen würde.

Eine ziemlich verrückte Geschichte.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Nostoc

Mitglied
Ich habe sehr schmunzeln müssen bei dieser Geschichte, vielen Dank dafür :). Verrückte Geschichte mit aktuellem Bezug. Gerne mehr davon!
 
Hallo lietzensee,

spannend, lustig, aufbauend, ein Höhepunkt. Prima!

Ein paar Kleinigkeiten:

Jetzt gab es kein zurück mehr.
kein Zurück
(das Zurück)

Wenn er vor Aufregung zitterte, dann musste er immer aufs Klo.
Das Ende bzw. der Schlusssatz gefällt mir persönlich nicht so gut wie der Text davor.
Das könnte man noch weiter ausbauen, dramatisieren. Dass er, wenn sie unten kommen/rufen, vor Aufregung/Angst aufs Klo muss. Dann wieder und wieder. Sein ToiPa wird immer weniger und weniger. (So ungefähr, nur besser ausgebaut.)

Als er auf der Schüssel saß und seine neue Lebenssituation überdachte, wurde er nachdenklich.
"überdachte", "nachdenklich" (Grundform jeweils "denken"): Würde eines davon ersetzen.

Als er die Lieferzusage erhielt,
Als er auf der Schüssel saß
Als er am nächsten Morgen erwachte
Da fielen mir die gleichen Absatz-Anfänge auf. Könnte man variieren.

Hat mir gut gefallen.

Wünsche dir einen schönen "Übergang".
Liebe Grüße, Franklyn Francis
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Rainer, Nostoc und Franklyn,
vielen Dank für eure Kommentare!

Wer noch das einlagige Raufaserpapier kennt, der weiß sein Vierlagiges zu schätzen, Rainer ;-)

Hoffen wir, dass es von diesem aktuellen Bezug nicht noch mehr gibt, Nostoc

@Franklyn Francis , vielen Dank für die wie immer genaue Prüfung. Ich hab die offensichtlichen Schreibfehler erst mal überarbeitet.
Das Ende könnte ich wirklich noch dramatischer machen, das war mal wieder eine der Stellen, wo ich lange gehadert habe. Mir ist vor allem wichtig, dass es ihm nicht mehr um den Gebrauchswert des Papiers geht, sondern, dass er einfach raffgierig geworden ist. Darum will ich nicht in die Richtung gehen, dass er etwas von seinem Papier verwendet. Denn bei Lichte betrachtet, hätte er ja mehr als genug. Ich werde aber an dem Ende noch mal schrauben

Viele Grüße und auf weiterhin gutes Schreiben in 2022
lietzensee
 



 
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