Knistern

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Knistern

Wigald lag in seinem Bett und versuchte, einzuschlafen. Da hörte er ein leises Knistern vom Schrank her. „Nanu,“ dachte er, „sind da etwa Mäuse hinter dem Schrank? Das fehlte mir gerade noch!“ Eigentlich wollte er aufstehen und nachsehen, aber seine Lider waren so schwer, er bekam die Augen nicht auf.
Wieder vernahm er ein Knistern. Er konnte es genau orten – es kam von den Schranktüren! Sie bewegten sich. Nein, nicht in den Scharnieren, wie jeder es kennt, sondern nur die Furniere. Das polierte Kastanienholz wellte sich leicht und knisterte. Hellwach saß Wigald nun auf dem Bettrand und fragte: „Was ist denn hier los? Wer knistert da mit meinen Schranktüren?“
Eine dünne Stimme antwortete: „Das bin ich, Gilmarinda. Ich bin eine schöne Fee und ich wurde vor fünfhundert Jahren von einer ganz, ganz bösen Zauberin in einen Kastanienbaum verwandelt. Jetzt könnte ich wieder leben und frei herum laufen, aber irgendein Mensch hat den Baum gefällt und jetzt bin ich auf mehrere Bretter verteilt! Aber ich spüre, es gibt diese Bretter alle noch. Es wäre wundervoll, wenn du losgehen würdest, diese Bretter zu suchen. Ich werde dir dabei helfen und dir sagen, wo du so ein Brett findest, ich spüre es nämlich, wenn du in die Nähe meiner Teile kommst.“
Wigald überlegte: „Soso, schöne Fee und böse Zauberin. Und ich soll in der Welt herumirren und darauf warten, dass sie was merkt. Erst will ich genauer wissen, um wen es sich hier handelt!“
Er fragte: „Was hast du denn ausgefressen, damit dich die Zauberin verhext?“
„Garnix!“, kam es wie aus der Pistole geschossen vom Schrank her.
„Aber irgendeinen Grund muss die Olle doch gehabt haben, also, weswegen wurdest du ein Baum?“
„Weil . . . weil . . .“, stotterte die dünne Stimme. In Wigald keimte der Gedanke, dass es sich bei dem Geschöpf in den Schranktüren wohl kaum um etwas Edles handelt. So fragte er weiter: „Wenn ich dir nun nicht den Gefallen tue, was wird dann aus dir?“
„Dann könnte ich als Geist existieren oder im Körper eines Menschen.“
„So wie Voldemort?“
Die angebliche Fee ließ sich erklären, wer Voldemort ist und bestätigte freudig. Nun war Wigald pappesatt. Der Unhold Voldemort hatte schließlich das wunderbare Einhorn getötet! Nein, so einem Wesen wollte er nicht helfen. Er nahm die Axt und schlug den Schrank in kleine Stücke, die er dann im Ofen verbrannte. Das Wimmern und Wehklagen und die wüsten Beschimpfungen verstummten erst, als die Glut zu verlöschen begann. Sehr zufrieden legte Wigald sich zu Bett und schlief ein.
Am anderen Morgen wurde er von den Sonnenstrahlen wach gekitzelt und glaubte zunächst, immer noch in die Ofenglut zu schauen. Da erinnerte er sich daran, dass er eine Wohnung mit Zentralheizung hatte und keinen Ofen, in welchem er was auch immer verbrennen könnte. Er riss die Augen auf und starrte zum Schrank hinüber. Die eine Tür war einen Spalt breit geöffnet.
Aufseufzend sank er in die Kissen zurück. Er hatte vergessen, den Schrank richtig abzuschließen. Und immer, wenn das geschah, öffnete er sich einen Spalt breit. Mit einem leisen Knistern.

Juli 2003
 

Traveller

Mitglied
Nina

Hallo,
Deine Geschichte hat mich gerade zu einer eigenen Geschichte inspiriert. Du sieht Deine Worte am Anfang und wie ich diese dann -aus mir- weitergesponnen habe.

Nina

Nina lag in ihrem Bett und versuchte, einzuschlafen. Da hörte sie ein leises Knistern vom Schrank her. „Nanu,“ dachte sie, „sind da etwa Mäuse hinter dem Schrank? Das fehlte mir gerade noch!“ Eigentlich wollte sie aufstehen und nachsehen, aber ihre Lider waren so schwer, sie bekam die Augen nicht auf.
Wieder vernahm sie ein Knistern. Sie konnte es genau orten – es kam von den nicht verschlossenen Schranktüren! Sie bewegten sich. Nein, nicht in den Scharnieren, wie jeder es kennt, sondern nur die Bretter und Furniere. Das polierte Eichenholz wellte sich leicht und knisterte. Hellwach saß Nina nun auf dem Bettrand und fragte: „Was ist denn hier los? Wer knistert da mit meinen Schranktüren?“
Eine dünne Stimme antwortete: „Das bin ich. Ich bin eine gefangene Seele und ich lebte in einer großen Eiche. Aber ein Mensch hat vor langer langer Zeit den Baum gefällt und jetzt bin ich auf viele Bretter verteilt! Aber ich spüre alle Bretter noch, was mich zwischen verschieden Schränken, Tischen und Stühlen an unterschiedlichen Orten hin und her zieht, an mir jede Nacht reisst. Es gibt diese Bretter fast alle noch.
Erst wenn alle zusammengetragen und in Öfen verbrannt sind, werde ich wieder frei sein, erlöst aus dem Gefängnis des Holzes des mächtigen Baums.“
Nina dachte laut: „Was ist mit der Seele des Baumes“. Wieder knisterte der Schrank und sie hörte die flüsternde Stimme. „Als der Baum gefällt wurde zog dessen Seele in die Wurzel sich zurück und trieb vom Baumstumpf neu aus. Aber ich war gefangen im Holz und wurde zerteilt in hunderte Bretter.“ Nina fragte sich nun, weshalb die Seele in dem Baum gefangen war. Immer leiser flüsterte der Schrank: „Auch ich wollte einst den Baum fällen, da seine Äste zuviel Schatten auf mein Haus warfen. Da meine Säge für den Stamm zu klein war, kletterte ich an ihm hinauf und sägte an seinen mächtigen Ästen. Immer wenn diese ächzenden zu Boden krachten, spürte ich den Schmerz des Baumes und ihn bitten - hör auf, hör auf - . Ich achtete nicht darauf, bis ein Sägeblatt riß. Nun auf dem Weg hinab, verlor ich den Halt und fiel hinab. Mein Kopf verfing sich in einer Astgabel des Baumes, in der ich hängen blieb. Dort blieb mein lebloser Körper, bis er andertags gefunden wurde. Meine Seele sah den Schmerz des Baumes und be-gann den verletzten Baum zu heilen. So drang sie immer tiefer hinein und verband sich mit der Seele des Baumes. Wir waren so für viele Jahre eine Einheit und ich sah die Schönheit der Natur um uns, all das was ich als Mensch vorher nie gesehen. Aber als Holzfäller kamen und die Eiche fällten, blieb ich allein im Holz zurück und erlitt das Leid des Zerteilens. So lebe ich nun dahin in den Häusern der Menschen und sehe deren Leben hundertfach, sehe sie lieben und leiden, bin mitten drin und nur nachts kann ich mich als Ganzes spüren, mich dehnen und strecken.“
Nina hatte zugehört und war dabei eingeschlafen. Am nächsten Morgen wußte sie nicht, ob sie dies geträumt hatte und betrachtete den alten Schrank. Schon lange wollte sie sich von ihm trennen, aber keiner wollte diesen haben. Sie berührte ihn vorsichtig und die Türe knarrte. Plötzlich riß ein Türscharnier. Nina erschrak und ihr wurde bewußt, daß ihr Traum real war. Sie erinnerte sich deutlich der flüsternden Worte und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Nach dem Frühstuck holte sie eine Kerze und entzündete diese im Schrank. Als diese niedergebrannt war, holte sie eine Säge und zerteilte den Schrank in viele handliche Einzelteile. Das Feuer im Kachelofen loderte hoch und das trockene Holz knisterte auf seinem letzten Weg. Nina fühlte, wie sich damit etwas erlöste. Am Abend war im Raum eine Lücke, aber keine Leere und sie selber fühlte sich erlöst. Sie war befreit von Altem und Neues konnte in den Raum ihres Lebens einkehren. Als sie gerade am Einschlafen war, hörte sie ein Knistern am Fenster und hörte leise ein langes „Daaaaaanke !!!“. Zunächst erschrak sie, als ein feiner Lichtstrahl vor dem Fenster sich zeigte. Aber darauf wurde es ihr warm im Herz und sie schlief ein und träumte eine wunderschöne Geschichte. Sie sah den Schrank zum Himmel fliegen, begleitet von lichtvollen Engeln. Diese streuten wunderschöne Sterne auf sie herab und ihr Haus füllte sich mit diesem Sternenstaub.
Ab dieser Nacht hatte Nina nur noch Glück und der geträumte Sternenstaub materialisierte sich in Münzen, genug für ein zufriedenes Leben. Ab diesem Tag litt sie keinen Hunger mehr. Alles was sie nun altes ablöste, brachte ihr doppelt soviel neues und ihr Leben wurde reicher und täglich immer schöner.
Ihre Zimmer waren nun frisch und leuchtend, so wie sie selber leuchtete. Alle Menschen spürten dies und sie wurde zu einer lebenden Lichtgestalt. Denn sie verstrahlte etwas Leichtes, was den Anderen fehlte, welche immer noch ihre Vergangenheit festhielten.

27.7.2003
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
is ja unglaublich!

ich krieg mich überhaupt nicht wieder ein! was für eine schöne geschichte. kannste ruhig für sich alleine posten, die glühbirne wurde auch von mindestens zwei erfindern gleichzeitig entwickelt.
ganz lieb grüßt
 

Traveller

Mitglied
lach

Der Anfang Deiner Geschichte steckte mich spontan an und da ich mich gerne in Bäume einfühle, setzte sich diese Geschichte frei. Zudem habe ich vor vielen Jahren einen Schrank meines Vaters "rituell verbrannt" und damit mich von einer Belastung befreit!
Meine Mutter besass einen Schrank, an dem ich lange sehr hing und den ich unbedingt erben wollte. Als sie verstarb, sagte mir mein Bruder, dass er mit Mutter diesen Schrank nach dem Krieg aus einem Depot der Waffen-SS abtransportiert hatte. So liess ich ihm diesen Schrank und heute bin ich froh nicht mehr mit dieser Vergangenheit leben zu müssen. Denn in Schränken speichert sich oft auch gelegte Vergangenheit, im Guten wie im Schlechten.
Alle diese eigenen Erfahrungen flossen nun spontan in diese Geschichte ein.

Schön, dass Du es so locker nimmst !!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na

klar nehm ich das locker. ich hab fantasie und du auch. sie sind gleichberechtigt! ich finde deine geschichte sogar noch schöner als meine.
was alles in schränken drin sein kann außer sachen - daran habe ich noch gar nicht gedacht. für mich is n schrank nur n gebrauchsgegenstand.
ganz lieb grüßt
 

Traveller

Mitglied
Alte Schränke

In alten Schränken und in alten Häusern kann das gespeicherte Wissen von Generationen sein, aber auch das Leid von Generationen.
Es gibt "bereichernde" Schränke und Häuser. Aber es gibt auch hochbelastete Schränke und Häuser, in denen man mit dem Leid der Anderen konfrontiert wird. In wenigenen Fällen leben die Bewohner das Leid der Anderen aus, obwohl sie nichts damit zu tun haben.
Es gibt da Phänomene, die weit über das Vorstellbare des Verstandes gehen !

Schön, dass Dich meine Variante der Geschichte anspricht !
 

Traveller

Mitglied
besser ?

Du, ich denke, es geht nicht um besser oder schlechter. Deine Geschichte ist einfach "anders" und wäre sie nicht gewesen, wäre meine Geschichte nicht entstanden.
Alles wächst ineinander und wir sollten uns von solchen Bewertungen lösen.
Den einen spricht Deine Geschichte an, andere mehr meine.

Was mir in diesem Forum auffällt, dass hier meist nur geantwortet wird, wenn es was zu kritisieren gibt. Selten schreibt hier jemand "oh wie wunderschön".
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

die lupe soll dazu dienen, einen schreiber in seinem schaffen vorwärts zu bringen. (grins.)
ganz lieb grüßt
 

Traveller

Mitglied
.

Es gibt viele Wege jemanden in seinem Schaffen vorwärts zu bringen. Am Wenigsten hilft da der schulmeisterliche Zeigefinger !
Ich halte da mehr von einem kollegialen Austausch von Gedanken. Dies befruchtet mehr.
 



 
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