kolostrum

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Mimi

Mitglied
kolostrum

die mater dolorosa trug sie
unter der haut
direkt über dem herzen tropften
ihre perlentränen
über die hohlen wangen

sie hatte sich ein lächeln aufgesetzt
das unschuldige darin
dürfte dem predicador gefallen
der in ekstase wippte
ohne vom fleck zu kommen

als wäre sein gott
zwischen den laken verborgen
geboren
aus dem delta unter ihrem bauchnabel
und nicht hinter steinernen wänden

wo sie den göttlichen schmerz
aus der luft saugte
wie muttermilch
und ihn hinein
in seinen finsteren schlund blies
 
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sufnus

Mitglied
Hi Mimi!
Wow! Das gehört definitiv nicht mehr in die Hobby- sondern in die Literatur-Ecke. :)
Sehr beeindruckend!
Nur wenige Minimalien:
Das "sie" im ersten Satz ist ein bisschen schwer greifbar. Vermutlich ein noch ungeborenes, weibliches Baby, welches von der Mater Dolorosa - im wörtlichen Sinne - unter der Haut getragen wird. Denkbar wäre aber auch, dass das "sie" das Subjekt und die Mater Dolorosa (als Objekt) das unter der Haut getragene Kind ist - dann hätten wir so eine Art Anna Selbdritt-Konstellation vorliegen.
In der zweiten Strophe gibt es dann wieder ein "sie". Spätestens hier wird es dann etwas verwirrend, ob sich das zweite sie auf die Mater Dolorosa (was etwas naheliegender wäre) oder auf das Objekt des ersten Satzes (das ungeborene Kind?) bezieht.
Vielleicht ließe sich das insgesamt grammatisch noch etwas entwirren? Oder soll hier absichtsvoll der Bezugsrahmen etwas unklarer gehalten werden?
Und dann würde ich - auf einem so hohen literarischen Niveau, wie es der Text entfaltet - noch darüber nachdenken, ob für das "Delta" ein weniger etabliertes Bild verwendet werden könnte. "Delta" ist halt als Metapher schon ziemlich häufig benutzt worden.
Diese kleineren Einwände nehmen Deinem Text aber nichts von seiner Wirkung. Ich bin schwer begeistert! :)
LG!
S.
 

Mimi

Mitglied
Dankeschön für Deine Eindrücke, lieber sufnus,
und natürlich auch für Dein wertschätzendes und überaus freundliches Lob ...:D

Ja, der Einstieg, beziehungsweise die erste Zeile des Gedichts mit dem "sie", ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, aber auch keine poetisch "unüberwindbare Mauer", wie ich finde.
Die unter der Haut (=subcutan) getragene mater dolorosa, ist hier ein Tattoo, das sich sozusagen auf der linken Brust (der "sie"), direkt über dem Herzen befindet und deren Perlentränen mehr oder weniger die Wangen zieren, also das typische Bild der Schmerzensmutter, wie beispielsweise bei Tiziano Vecellio oder Aelbert Bouts.
Na ja, präziser müsste ich jetzt statt subcutan, eigentlich intracutan schreiben, denn die Nadel beim Tätowieren gelangt nur bis zum Corium. Aber das nur nebenbei ...ist fürs Gedicht unerheblich.
So gesehen, trägt also das erste "sie" die mater dolorosa als Tattoo unter der Haut. "Auf der Haut" schien mir aus den oben genannten Gründen nicht richtig, auch wenn es dadurch zwecks Einordnung eventuell für den Leser erkennbarer wäre.
Allerdings liegst Du völlig richtig bezüglich des etwas "unklar gehaltenen Bezugsrahmens" ...
das ist durchaus so gewollt ... ich denke das eröffnet weitere Sinnebenen für den Leser.

Deinen letzten Kritikpunkt, kann ich gut nachvollziehen ... ja, das Delta ist an der Stelle nicht optimal, wobei ich natürlich hier eine eher poetisch anklingende Formulierung oder meinetwegen Umschreibung gewählt habe.
Eine medizinische Fachterminologie wollte ich natürlich vermeiden und eine vulgäre Ausdrucksweise ist hier auch deplatziert.
Alternativ könnte ich mir dem Begriff "Schoß" auch so einigermaßen vorstellen, wobei der jetzt nicht weniger abgegriffen ist ...
Auch der Begriff "Hort", in Anlehnung an das Althochdeutsche, wäre eine Möglichkeit.

Hmm ... es gäbe auch Umschreibungen, die adäquate Übersetzungen/Annäherungen (zum Beispiel aus dem arabischen oder spanischen Wortschatz) sind, allerdings ist eine einordnende Verknüpfung beziehungsweise eine semantische Relation für den Leser hier schwierig.

Gruß
Mimi
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo mimi
Ganz ehrlich wäre ich hier nicht auf ein Tattoo gekommen. Zum einen gefällt mir das Gedicht sprachlich ausgezeichnet, mit Bildern, die stark und still zugleich sind. Zum anderen ringe ich noch immer um Deutung.

In S2 und S3 sehe ich den Geistlichen, der heimlich verbotene Früchte verschlingt. Das 'wie' vor der Extase bräuchte es nicht. Die Hure wird somit selbst Teil eines religiösen Bildes, welches natürlich auf den vermeintlichen Widerspruch zwischen Hure und Heiliger (mater dolorosa) setzt. Welchen Fluch sie wirklich in ihn hineinbläst, man will jedenfalls hoffen, dass sie damit Erfolg hat. Starkes Bild in S4.

LG
Tula
 

Mimi

Mitglied
Hallo Tula,
herzlichen Dank für Deine Eindrücke bzw
Interpretation zu meinem Gedicht.

Das "wie" vor der Ekstase ist tatsächlich überflüssig ... ich werde deshalb Deiner Anregung folgen und es streichen.

Welchen Fluch sie wirklich in ihn hineinbläst, man will jedenfalls hoffen, dass sie damit Erfolg hat.
Tja, die (Schein)Heiligen reden nicht ... aber sie rächen sich ...

Gruß
Mimi
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mimi,

mir ist nicht ganz klar, weshalb der Titel "Kolostrum" heißt. Kolostrum ist ja die Vormilch der eigentlichen reifen Muttermilch. Im Text ist dann von letzterer die Rede.

Das finde ich etwas verwirrend.

Gruß DS
 

Mimi

Mitglied
Hallo Doc,
der Titel "kolostrum" steht hier metaphorisch für den Beginn eines neuen Lebens.
Dem Kolostrum wurde früher in vielen Ländern eine heilende Wirkung nachgesagt, ähnlich einem Elixier, und das ist sozusagen der "Sinn" hinter dem Titel.

In diesem Kontext ist auch der Begriff
"muttermilch" im Gedicht zu verstehen.

Gruß
Mimi
 



 
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