Lieber Michele, wir haben noch nicht fertig
Natürlich würde man einen Menschen stark verändern, wenn man ihm seine Traumatas nimmt. Aber falls so etwas jemals möglch sein sollte, sollte es allein die Entscheidung der Betroffenen sein, ob sie so einen Eingriff vornehmen. Da hat niemand Außenstehender und keine Ethik-Kommision mitzureden!
Unser Gehirn ist nicht modular aufgebaut, sondern es ist ein auf Vernetzung aufgebautes System. Jeden Tag nach dem Trauma denken wir daran und bauen neue Synapsen - ein Leben lang. Wie sollte man das Trauma und den Versuch seiner Verarbeitung aus dem Spinnennetz wieder rauskratzen? Es ginge also nur mit biochemischer Unterdrückung von Impulsen - wie es bei der Depressionsbehandlung geschieht. Und was mit Kranken gemacht wird, da hat sehr wohl eine unabhängige Instanz ein Wörtchen mitzureden. Es eht dabei um Güteabwägung. Ein ähnliches Dilemma sehe ich bei der Sterbehilfe. Einerseits stehe ich auf der Seite der Betroffenen, die über ihr Leben und Sterben selbst entscheiden können sollten, aber ich sehe auch die Gefahr, dass eine 'Legalisierung' die Möglichkeit entstehen lässt, diese zu missbrauchen, indem Alte und Kranke von ihrem Umfeld dazu gedrängt werden. Der Gesetzgeber muss alle Aspekte berücksichtigen und seine Entscheidung ohne Ansehen der Person treffen - das ist für mich überhaupt der Wesenskern eines Rechtsstaates.
Diese Einstellung "Ich will gar nicht immer glücklich sein" ist genau wie "Ich will gar nicht ewig leben" ein Trick unseres Gehirns. Weil wir an keine Veränderung glauben können , akzeptieren wir die Sachen so wie sie sind und tun sogar noch so, als wäre uns das sowieso lieber.
Das hat mit Wollen nichts zu tun - wir können es nicht. Ich bin sehr sehr glücklich verheiratet, und auf eine subtile Weise trägt einen das auch ein Stück weit durch den Tag, aber die Momente, in denen ich das ganz stark auch
spüre, verschwinden in der Anzahl der Momente, in denen ich glücklich
bin.
Und das mit dem Sterben ist auch kein Selbstbetrug. Vielleicht bist Du noch jung - sehr wahrscheinlich jünger als ich - und hast es noch nicht bei anderen gesehen oder selbst empfunden, dass man quasi aus der Zeit fallen kann. Jeden Tag aufs Neue stellen wir die Berechnung an, ob dies ein guter Tag ist und wir uns darauf freuen, ihn zu erleben. Im Laufe des Lebens verändern sich viele Werte und Bezugsgrößen des eigenen Lebens bis man irgendwann nur noch von 'Fremden' umgeben ist. Hinzu kommen die körperlichen Einschränkungen, die Mühe wird mehr, den neuen Tag zu begrüßen und anzunehmen. Man hört oft, man möchte noch einmal zwanzig sein mit dem Wissen von heute - was natürlich nicht geht, aber eigentlich möchte man es nicht wirklich. Du darfst es ihnen glauben, wenn sie sagen, sie hätten nun genug, auch, wenn sie sich vielleicht freuen, doch noch am nächsten Tag wieder aufgewacht zu sein. Loslassen ist immer schwer.
Aber ist es das nicht wert, dafür um im irdischen Paradies zu leben? Und der einfachste Weg dahin ist die gezielte Manipulation des Gehirns.
Hier sehe ich ein Missverständnis am Werk. Weder Müßiggang noch Abwesenheit von Unglück und Schmerz können das Paradies auf Erden sein. Erst recht nicht, wenn dem Menschen durch Manipulation sein Selbst genommen wird. Aber ab hier würde ich mich wiederholen.
Ich verstehe ja was du meinst, unglückliche Menschen erscheinen oft tiefsinniger, vielleicht sogar menschlicher, aber frag mal die Unglücklichen, ob sie diese Dinge nicht gerne aufgeben würden. Außerdem gilt das auch nur bis zu einem gewissen Grad, irgendwann stumpft Unglück ab und macht empathielos.
Nein, Michele, das meine ich nicht. Es geht immer auch um die Ursachen von 'Glück' oder 'Unglück', die selten statisch sind und häufig sehr viel mit uns selbst zu tun haben. Für jeden Menschen gilt, dass er durch die rationale und moralische Durchdringung seiner Situation 'tief' werden kann. Sehr oft sind die beiden Extreme Ergebnis unserer
Bewertung der Situation. Natürlich nicht im Fall des Selbstmordes eines Kindes. Das sind die Schicksalsschläge, die man hinnehmen muss. Wir sind nicht alle gleich zur Glücksfähigkeit geboren. Ich habe mal gelesebn, dass wir unterschiedlich mit den Glückshormonen ausgestattet sind und eine Situation, die für den einen ok ist, den anderen schon sich unglücklich fühlen lässt. Es gibt keinen Weg aus dieser Gemengelage hinaus.
Glück oder Unglück werden allein durch unser Gehirn hervorgerufen und haben oft nichts mit unseren Lebensumständen zu tun.
Das sehe ich nicht so. Natürlich gibt es Erkrankungen des biochemischen Haushalts, die diesen Schluss nahe legen. Aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel. Die Neurowissenschaften brechen gerne alles auf diese chemischen Botenstoffe herunter, ohne die nichts passieren würde - selbst die Liebe wäre so etwas - und das Ich nur eine Fiktion. Das kann man so sehen. Man kann aber auch sein Leben annehmen, seine Herausforderungen annehmen, lieben und sich Aufgaben widmen und all diese Botenstoffe fleißig produzieren, die dann für uns die Fiktion von Selbstwirksamkeit entstehen lassen. So what?
Ich glaube diese stille Erduldung des Unglücks, der Irrglaube, dass das eben zum Leben dazugehört, ist ein Überbleibsel des Christentums, dass eben noch sehr stark im kollektiven Unterbewusstsein vorhanden ist, selbst bei selbsternannten Atheisten. In 500 Jahren wird man diese Einstellung nicht mehr verstehen können
Auch das sehe ich anders in der Hinsicht, dass wir natürlich noch Reste dieser Prägung haben, aber das hat weniger mit Erdulden von Leiden zu tun als einer Erklärung der Welt zu folgen, die darauf besteht, dass wir durch unser Handeln Wirkungen erzielen. Es ist ist nicht so einfach.
Und ehrlich? In diesen 500 Jahren werde ich nicht leben wollen, wenn der Mensch aus Bauteilen und Prozessoren besteht und die Fortpflanzung reglementiert werden muss, weil wir entweder so lange leben, oder nicht mehr sterben. Natürlich werden diejenigen, die da hineingeboren wurden, ein lebenswertes Leben darin sehen, aber ich, ich werde gründlich aus der Zeit gefallen sein. Manchmal fürchte ich, dass es jetzt schon so weit ist; zumindest fängt es an. Und ein bisschen schließt sich jetzt ein Kreis.
Liebe Grüße
Petra