Kontrapunkt:Vergangenheit und Zukunft Part I

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Senerva

Mitglied
Ich sah auf. Mein Blick glitt fort von der Gestalt des Mädchens, dass ich in den Armen hielt und in dessen Hals ich vor wenigen Minuten noch gebissen hatte. Ich spürte, wie der Herzschlag von ihr verlangsamte und ich genoss es. Mir gierte es nach dem süßen Blut, das aus den kleinen Bisswunden an ihrem Hals drang und wollte es gerade mit der Zungenspitze auflecken, als ich ein Geräusch vernahm. Ich war solche Geräusche gewöhnt, ja, aber nicht um diese Zeit – es war Samstagnacht – und besonders nicht in dieser Gegend. Ich fuhr mit der Hand durch das Haar des Mädchens und ließ ihren Kopf langsam los, sodass dieser, mit einem etwas Harten Aufprall, auf dem Boden aufkam. Ich sah mich um; der Wald war so wie immer. Dunkel und bedrohlich wirkte er, wie in jeder Nacht, in der ich mich hier befand und Spaziergängern auflauerte, die gerade von einer nächtlichen Party heimkommen und, damit sie ihren ‚Rausch’ auskosten konnten, durch den Wald taumelten. Und genau auf diese Unwissenden wartete ich; Menschen. Bei diesen Gedanken wurde mir schlecht und ich erhob mich vom Boden, wobei ich mir mit dem Handrücken das Blut vom Mund fortwischte. Blut. Diese rote, süße Flüssigkeit war nicht immer mein Lebenselixier gewesen.

Mein Name ist Lance O’Connor. Ich wurde am 01.06.1754 in einem kleinen Kaff in Frankreich geboren; als armer Bauernjunge, versteht sich. Ich hasste dieses Leben; mehr noch, ich verabscheute es wie die Pest. Jeden Tag eine neue Arbeit; jeden Tag die wütenden Schreie meiner Mutter; und, wenn sie wirklich wütend war und nicht genug Geld mit nach Hause brachte, ließ sie ihren Zorn des öfteren auch einmal an mir aus. Ich fühlte nichts mehr. Mit 12 Jahren fand ich, durch gutes Glück, eine Arbeit bei reichen Leuten. Ich konnte sie nicht leiden; genauso wenig wie ihre kreischenden kleinen Bengel. Ich kam abends spät nach Hause, sodass ich direkt, müde und zu Tode geschafft, ins Bett fiel und schlafen konnte. Doch, eines Abends war dies nicht der Fall gewesen. Ich wälzte mich im Schlaf hin und her; doch ich fand ihn nicht. Ich hatte den ganzen Tag mit diesen kreischenden Kindern zugebracht, obwohl ich selbst noch eines war, und es war fast so, als würde ich dieses Geschrei noch immer in den Ohren hören. Mir war plötzlich nicht mehr danach, zu schlafen, sondern einfach an die frische Luft zu gehen und diese auf der Haut zu spüren.

Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und betrachtete noch einmal die Gestalt des nunmehr toten Mädchens. Natürlich, es war noch nicht alles getan. Ich ging in die Knie, umfasste den Kopf des Mädchens mit beiden Händen; ein leises Knacken folgte, als ich ihr das Genick gebrochen hatte. Das Verlangen, welches ich, vor wenigen Minuten noch tief in mir spüren konnte, war nun verschwunden. Ich hatte das bekommen, was ich wollte: Blut.
Ich ließ den leblosen Körper einfach, ganz achtlos, auf dem Boden liegen und entfernte mich rasch von dieser; die Hände verbarg ich in dem schwarzen Ledermantel, den ich trug. Den Kopf hielt ich gesenkt. Nicht, weil ich „Angst“ davor hatte, dass mich jemand in der Nähe der Leiche sehen konnte; einfach nur, weil der verschmutzte Boden interessanter war, als diese jämmerlichen Wesen, die sich Menschen nannten.


Genau, dass, was ich im Sinn hatte, zu tun, war mein großer Fehler. Fehler? Halt. Meine Gedanken waren falsch. Es war das Beste, was ich machen konnte. Meine Füße führten mich, wie von selbst, durch die Gassen des Dorfes, dass ich, ironischer Weise, „Heimatstadt“ nannte. Ein kleiner Junge alleine auf der Straße. Für manche Wesen ein Vorteil, um ihre Nahrung zu bekommen. Im ersten Moment realisierte ich nicht, was geschehen war. Eine Hand legte sich, als ich leise pfeifend durch eine dunkle Gasse spazierte, plötzlich auf meinen Mund, und zog mich in den Schatten. Ich versuchte zu schreien, doch genau diese Hand unterdrückte dies. Ich versuchte ihn, nein, „es“, von mir fort zu drücken, doch war ein ausgewachsener Kerl wohl stärker als ein kleiner Junge. Das seltsame war, egal, was ich machte, der Kerl rührte sich nicht. War es denn überhaupt ein Kerl? Und besonders, was hatte er mit mir vor? Ich schloss die Augen. Mein Leben war verwirkt, dass wusste ich mit einem Male. Und doch, wie seltsam es auch klang: Ich war froh darüber. Ich spürte, wie der Kerl meinen Haarschopf umfasste und daran zog; somit natürlich auch meinen Kopf zur Seite, dass der Hals blank da lag. Der Kerl leckte sich über die Lippen und verbarg den Kopf an meinem Hals. Wenige Sekunden vergingen und ich fühlte, wie etwas Spitzes in mein Fleisch drang; seine Zähne! Mein Körper erschlaffte in seinen Armen und mit einem Mal gaben auch meine Beine nach. Es war jedoch nicht das Gefühl des Todes, dass ich in diesem Moment spürte, sondern ein Verlangen … ein Verlangen nach mehr.

Ich hielt für einen Moment inne und atmete die Luft der Nacht tief in mich ein. Ich hörte Schritte und vielleicht auch Stimmen; man hatte wohl das tote Mädchen, das ich so achtlos auf dem Weg liegen gelassen habe, entdeckt. Mir war es so egal. Ich ging den Weg weiter entlang; ab und an begegneten mir Spaziergänger, die um 4 Uhr Nachts noch immer durch den Wald taumelten und so taten, als würden sie den Weg nach Hause nicht mehr finden. Ich verdrehte genervt die Augen und schnaubte resignierend. Ich hatte genügend Kraft aus dieser ‚kleinen’ Mahlzeit geschöpft, sodass ich in der Lage war, mehr als nur ein Opfer diese Nacht zu finden; aber ich war es leid, dass ständige Gekreische der Menschen zu hören, wenn sie auf die Knie fielen und dir alles anboten: Ihre Brieftasche, indem sich meistens zu wenig Geld befand, ihre Kleider, …aber nie boten sie dir das an, was du wirklich brauchtest: Nahrung.

Ich fühlte mich nicht gefangen, nein, eher befreit, als der Kerl endlich von mir abließ. Ich wusste nicht, warum, aber ich merkte, wie mein Puls immer langsamer wurde, genauso wie mein Herzschlag. Und dann war Schwärze … oder sah ich nur in die Augen des Kerls? Er löste eine Hand von mir, da ich mich kaum mehr wehrte, und schnitt mit seinem Fingernagel, der eher einer Klaue glich, in sein Handgelenk. Dunkles Blut tropfte hervor; ich nahm alles nur noch aus weiter Ferne wahr. Und, als er mir schließlich die offene Wunde an den Mund drückte, schluckte ich unbeholfen das Blut hinunter, das für mich wie ein Zaubertrank war, hauchte es mir doch Leben und Stärke ein. Er drückte das Handgelenk immer fester gegen meine Lippen, mit denen ich weiter gierig an der Wunde saugte. Ich sank in mir zusammen, als der Kerl mich losließ und einfach ging … seine Schritte führten von mir fort, dass konnte ich noch hören … dann Stille.

Ich zog den Mantel enger um mich und trat schließlich aus dem Wald hervor. Der Lärmschwall, der mir plötzlich entgegenkam, war fast atemberaubend. Für einen Moment taumelte ich, meine Schritte waren unsicher, als ich wartete, bis sich mein Gefühlsaufruhr wieder beruhigt hatte. Ich hasste die Großstadt, trotz allem war ich hier. Ich wollte nicht wissen, wo ich war. Ich glaubte, es war Paris. Welch Ironie, nicht wahr? Hauptsache war doch, dass ich meine Nahrung bekam. Und diese gab es hier in Massen, wie ich feststellen musste, als ich meinen Blick über die Straßen schweifen ließ. Diese Stadt schien wirklich nie zu schlafen. Die Turmuhr hatte soeben halb 5 geschlagen und die Straße war wirklich überfüllt. Ich wollte nicht wissen, was hier am Tage los war, wenn ich in meinem spärlichen Zimmer war und schlief.

Man sagte, dass, wenn ein Mensch dem Tode näher war, als jeglichen anderem, so würde er keine Furcht mehr zeigen. Doch bei mir war es wohl eine Ausnahme, denn, als ich wieder erwachte, zitterte ich am ganzen Körper. Es war eine Ekstase gewesen, in der ich mich vor wenige Zeit befunden habe und ich konnte jetzt schon die Auswirkungen an meinem Körper spüren. Ich merkte die Kälte plötzlich so sehr auf der Haut, als wäre der Wind mein Element. Ich stützte mich mit einer Hand an der rauen Hauswand ab, um wieder auf die Beine zu kommen. Ehrlich gesagt … ich brauchte mindestens 10 Versuche, um meine wackeligen Beine unter Kontrolle zu kriegen und auch nur ein bis zwei Schritte zu laufen. Von diesem Tag an glich mein Leben eher einem Traum, den ich in ferner Kindheit begonnen habe zu träumen, und ihn heute noch immer lebte.

Ich überquerte die Straße, als kein Auto zu sehen war; ich war sicherlich nicht so lebensmüde, als dass ich, wie manche Menschen, die in ihrem alltäglichen Leben zuviel „Berufstress“ hatte, über die Straße zu laufen, wenn Autos mit 120 km/h über diese brausten. Ich musste schmunzeln; das war etwas, was die Menschen uns, den Wesen der Dunkelheit, den Jägern der Nacht, gleichrangig machten: Die Gleichgültigkeit, ob Leben oder Tod. Ich hielt kurz inne, als meine Gedanken wieder kreisten. Heute war wohl die Nacht der Erinnerungen; ich scherte mich nicht um den Dreck, der in der Vergangenheit geschehen war. Doch heute war ein besonderer Tag, so merkte ich, und zuckte leicht zusammen, als eine Frau an mir vorbeieilte, deren langes, schwarzes Haar im Wind, gleich einem seidenen Tuch, wehte.

Langes, schwarzes Haar … Der betörende Duft von ihrem Rosenparfum. Ich sah auf und streckte ihr die Hände entgegen, die sie fast dankbar annahm. Michelle war ihr Name und sie war wirklich der erste Mensch, den ich zu lieben und achten lehrte. Mensch? Ich? Lieben und achten? Nur Michelle. Wir lernten uns kennen, als die Zeit es für richtig erachtete. Mein Leben war damals langweilig gewesen, bis ich sie, rein zufällig natürlich, von der Straße auflas und mit zu mir nach Hause nahm. Ich sah natürlich eine Beute in ihr, nicht mehr und auch nicht weniger. Doch, umso länger sie mir gegenüber saß, umso mehr wurde mir bewusst, dass sich tief in mir etwas regte … etwas, dass, bei der Wandlung von Mensch in Vampir, gestorben sein müsste. Meine Hände fanden, wie selbstverständlich, von ihren Händen den Weg zu ihren Wangen. „Ich liebe Dich.“ Diese drei Worte realisierte ich erst, nachdem ich sie ausgesprochen hatte und Michelle still vor mir verharrte. Es wurde mir schon bewusst, dass ich dieses Gefühl ihr gegenüber empfand, als ich das erste Mal in ihre wunderschönen, tiefgründigen blauen Augen sah, doch wollte ich es unterdrücken. Doch es ging nicht. Ich erlag meinen Gefühlen und war unwürdig, dass zu sein, was ich war.

Ich wandte den Kopf leicht zur Seite, sodass ich der Frau, die nunmehr weit entfernt war, da sie eher lief als ging, betrachten konnte. Nein. Das war eindeutig nicht Michelle. Doch dieses schwarze, lange Haar … Ich schüttelte den Kopf, wie als wollte ich die Erinnerung an die schlanke Frau vertreiben, die mich, wenn ich tagsüber am schlafen war, in meinen Träumen heimsuchte. Sie plagte mich immer und immer wieder bis ich vor Qualen nicht mehr schlafen kann und aus dem Schlaf erwache. Ich hasse es. Doch, ich liebe sie, auch wenn die Zeit ihr Opfer nahm.

Ich wusste, dass Michelle das Gleiche für mich empfand. Und doch schreckte ich im ersten Moment zurück, als sie, ungläubig blinzelnd, zu mir sah. Es war anders. Ich war bisher vielen Frauen begegnet; und viele lebten nicht mehr nach unserer ersten und letzten Begegnung. Doch Michelle … sie war so zerbrechlich, so … menschlich. Zuerst fürchtete ich mich vor meinen eigenen Gedanken, aber dann umfassten meine Hände wieder zitternd die Ihren. Sie drückte meine ganz sanft und ich wusste, in diesem Augenblick, dass ich keine andere mehr haben wollte. Ich liebte sie einfach. Ich drückte sie zurück auf das Bett und meine Lippen fanden, wie eine Selbstverständlichkeit, die ihren. Sie waren so weich und zart, dass meine Hände, die ich neben ihr auf der weichen Matratze abstützte, fast versagten und unter meinem Gewicht einzuknicken drohten. Das schlimmste war: sie wollte es genauso wie ich, ließ alles mit sich machen, selbst, als ich ihr die Kleidung abstreifte.

Ich massierte mir leicht die Schläfen, als ich den Kopf wieder von der davon eilenden Frau abgewandte hatte. Mein Schädel drohte jeden Moment zu bersten; solche Schmerzen waren für mich unbekannt, vielleicht war ich deshalb so überrascht, als ich diese spürte und sie mich zurücktaumeln ließ, bis ich die Hand an eine raue Mauer lehnen konnte, die mir Halt bot. Halt vor etwas, dass ich nicht verhindern konnte und dass nun, unvermeidbar, über mich hereinbrach.
 

Greenlia

Mitglied
Wo ist Part II?

Ailtta Senerva!

Sehr schön, diese Gegenüberstellung von der Vergangenheit und dem Jetzt des Vampirs.
Am Stil habe ich auch nichts Wesentliches zu meckern.
Nur das Ende ist offen. Aber da es ja ein "Part I" ist, wird wohl mehr kommen...
Ja, wo ist die Fortsetzung eigentlich? Noch nicht geschrieben, oder wie?
Bitte stelle sie doch bald in die Leselupe, ja? Ich würde mich freuen.
 

Senerva

Mitglied
Die Fortsetzung hab ich so gut wie geschrieben .. das Problem ist, dass es nicht "wirklich" eine Fortsetzung ist, da das Ende recht .. nunja .. kurz geworden ist .. *an kopf kratzt*

Sobald ich sie überarbeitet habe, poste ich sie ..

Aber danke für das Lob!
 



 
Oben Unten