Kopf hoch, Augen auf!

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klaatu

Mitglied
Kopf hoch, Augen auf!

Schließlich kam ich den Aufforderungen nach,
ging nach draußen und öffnete meine Augen.
Es war schwierig,
in einer immer weniger real wirkenden Welt
den Kopf oben zu halten.
Doch ich sah schnell, was sie meinten
und ich sah noch einiges mehr:

Zum Beispiel sah ich,
dass die Nachbarn von gegenüber
dabei waren, frische Gräber auszuheben.

Ich sah lachende Menschen,
die in einem Glashaus saßen
und Autoreifen abfackelten.

Ich sah einen Mann,
der seinen Kopf in eine Zeitung steckte
und sich dahinter in Luft auflöste.

Ich sah eine Frau
an einer Wasserflasche nippen,
die mehr kostete, als anderswo ein Menschenleben.

Ich sah Blinde,
die sich wie Hunde
um eine Brille prügelten.

Ich sah alte Geschlechter,
die langsam begannen
komisch zu riechen.

Ich sah Klügere nachgeben
und die Dümmeren
ihren Sieg feiern.

Ich sah Leute Mauern abtragen
und sich mit den Steinen
gegenseitig die Schädel einschlagen.

Ich sah Freude am Zerfall,
Absurdität zur Norm werden
und kaum jemanden, der sich wunderte.

Ich sah auf meine Uhr:
Es war Zeit nach Hause zu gehen
und meine Jogginghose zu umarmen
 

revilo

Mitglied
wow.....das gefällt mir...erinnert mich entfernt an Ginsbergs
"Howl" ...

Ich sah auf meine Uhr:
Es war Zeit nach Hause zu gehen
und meine Jogginghose zu umarmen


finde ich klasse.......LG revilo
 

klaatu

Mitglied
Hallo Revilo,

freut mich, dass es dir gefällt. Ich sollte wirklich mal "Howl" lesen, habe schon viel darüber gehört.

LG
k
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
wie originell: "die Welt ist schlecht" - noch nie was von gehört, muß ich mir merken

in einer immer weniger real wirkenden Welt
verstehe ich nicht - ist die Welt nicht selbst das Maß für Realität? und was ist denn "Wirkung" oder gar "real wirken" im Verhältnis zur Realität der Welt?
Ich kann mir vorstellen, daß ein Traum oder ein Bild "real wirkt".
Aber Du willst doch in die Welt hineinschauen, in die Realität, nicht in einen Traum, der "Realität" von sich nur behauptet oder so tut als ob ("Wirkung").
Und da sieht der Moralist dann so vieles, das ihm nicht gefällt, das er beurteilt, verurteilt, aburteilt, nur sich selbst sieht er nicht.
Ach, die ungereimte Fraktion ist so voll von diesen selbstgerechten Klagen - es gilt da schon als Genre, und der Heilige dieses Genres soll der arme Ginsberg sein - ...
jajajaja,

grusz, hansz
 

klaatu

Mitglied
@ mondnein

Wenn ich auf meine Art beschreibe was ich sehe, bin ich also ein "selbstgerechter Moralist"? Interessant.Und warum soll ich mich selbst beurteilen, verurteilen und aburteilen, in einem Text in dem es darum geht, was ich mit meinen Augen sehe, wenn ich vor die Tür gehe? Verstehe ich nicht.

Die Welt ist glaub ich schon lange nicht mehr das einzige Maß für Realität. Dafür gibt es einfach zu viele Welten mittlerweile.

LG
k
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, so ist es, wenn alles, was man "beschreibt", elend aussehen soll.

Das ist durchaus ganz normal, besonders in der Lyrik der letzten fünfzig Jahre.

Ist ja auch nicht schlecht gemacht, - nur eben normal, das Maß aller Dinge in der Lektoren- und ach weiß der Himmel was für einer Sicht.

Lyrik für revilo und tausend Reimlose.

Ich lese dann gleich lieber Ginsberg im Original. Der jammert nicht, der findet das großartig, wenns so richtig dreckig klingt. Und ist ekstatisch (im Unterschied zu dem versoffenen Bukowski, den ich auch nicht leiden kann).

Ekstasen liebe ich. Nur die.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Stimmt, Franke.
Das gibt diesem Lied hier einen wertvollen Maßstab.
Ich nehme mein Urteil zurück.

Und natürlich ist an die große Vorlage Dylans zu denken: den Prediger, der eine ganze Reihe von Versen mit der "Ich sah ..."-Anapher beginnen läßt, bevor er den berühmte Refrain singt "Nichts Neues unter der Sonne".
 

revilo

Mitglied
Moin, du solltest nicht nur, Du MUSST Ginsberg lesen......und dann am besten Jörg Fauser direkt hinterher.......
LG revilo
 

klaatu

Mitglied
@ revilo

Ja, so langsam glaub ich auch, dass ich ihn mal lesen muss. Von Fauser kenne ich zumindest ein oder zwei Kurzgeschichten. Zum Schreiben bin ich übrigens durch Songtexte gekommen u.a. durch die von Bob Dylan. Der Vergleich gefällt mir daher sehr.

LG an alle
k
 

revilo

Mitglied
Dylan mag ich nicht sonderlich, aber wenn er Dich zum Schreiben gebracht hat: Um so besser.....Fauser hat auch Sontexte geschrieben...für Achim Reichel und Veronca Fischer....

er ist oder besser gesagt war ein ganz Großer..steht für mich in einer Reihe mit Wondratschek....

PS.: Ich mag BUK...habe ca. 45 Bücher von ihm.......

LG revilo...
 

klaatu

Mitglied
@ revilo

Ja, Bukowski "liebe" ich auch. Das waren so die ersten Gedichte, die ich außerhalb der Schule las. Sein Geburtshaus ist nur ein paar hundert Meter von meiner Wohnung entfernt ;)
 

Tula

Mitglied
Hallo

Ich stimme unserem Freund mondnein insofern zu, dass in dieser Ecke wie auch anderswo der moralische Zeigefinger irgendwann langweilt, rein inhaltlich. Auf der ewigen Suche nach neuen Themen, bohrt man sich mit diesem halt gern in der Nase.

Ich finde die Bilder dennoch gelungen und das Werk insgesamt recht überzeugend, auch den Vergleich mit Nobelpreisträger Dylan.

Grüße
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
genauer:

itsa hard itsa hard itsa hard itsa hard itsa
hard hard hard hard hard hard hard hard hard
rain falling
 

revilo

Mitglied
[red]Andernach[/red]......

BUK lernte ich mit 17 durch meinen Vater kennen...er zeigte mir aus der Zeitung Welt ein Foto von BUK...eine Dame (ich will nicht sagen Schlampe)lehnte sich an ihn, er hatte ne Kippe im Maul, grinste dreckig und wedelte mit seiner Bierflasche.....unter dem Foto stand: Schon mal gelebt , Kleiner?....Ich raste in die Buchhandlung und kaufte meinen ersten BUK...... Ich las seine Gedichte.....und verfiel ihm.......

Lg revilo
 
A

Alberta

Gast
Auf mich wirkt dieser Text nicht wie "Betroffenheitsprosa/-lyrik". Um Klarsicht, Durchblick, die Wahrheit hinter den Erscheinungen zu ringen war und ist zu allen Zeiten Ausdruck künstlerischer Auseinandersetzung. Daher: Daumen hoch!

Meine Überlegung: Mehr Wirkung durch Kürzen erzielen.

Meine Assoziation (vielleicht kannst Du damit was anfangen, @klaatu):

In einer surreal wirkenden Welt
die Augen zu öffnen
für die Realität
war schwierig:

Ich sah,
dass Nachbarn gegenüber
frische Gräber aushoben.

Ich sah
lachende Menschen,
in einem Glashaus,
die Autoreifen abfackelten.

Ich sah
einen Mann,
der seinen Kopf hinter einer Zeitung versteckte
und sich in Luft auflöste.

Ich sah
eine Frau
an einer Wasserflasche nippen,
die mehr kostete, als ein Menschenleben.

Ich sah
Blinde,
die sich wie Hunde
um eine Brille prügelten.

Ich sah
Klügere nachgeben
und Dümmere
ihren Sieg feiern.

Ich sah
Menschen Mauern abtragen
und sich mit den Steinen
gegenseitig die Schädel einschlagen.

Ich sah
Freude am Zerfall,
Absurdität zur Norm werden
und kaum jemanden, der sich wunderte.

Ich sah
auf meine Uhr:
Zeit nach Hause zu gehen
und meine Jogginghose zu umarmen.
 

klaatu

Mitglied
Hallo Alberta!

Der Text hier gehört definitiv zu denen, die irgendwann mal bearbeitet werden. Alleine schon deshalb, weil mir die Form mittlerweile gar nicht mehr gefällt. Von daher sind deine Kürzungen sehr hilfreich!
Danke, dass du dich mit meinem Text befasst hast!

LG
k
 



 
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