Kopfkino

ahorn

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Marc, Mitte zwanzig, ist total verknallt in die gleichaltrige Tina, traut sich aber nicht, ihr sein Herz zu öffnen, ihr seine Zuneigung, Liebe zu gestehen. Bei einem Gefecht mit dem Türsteher des Szeneclubs Roxy lernt er Mariana, die mit Tina den Club betreten will, kennen. Er verliebt sich sofort in die für ihn exotische Frau. Allerdings vermasselt er es mit beiden bereits in der ersten Nacht.
Sich seinem Schicksal ergeben, die Frauen in seinem Herz vergraben, trifft er Monate später Tina und witterte eine zweite Chance.


Kopfkino
Hätte, hätte, Fahrradkette

Nancy und Jo

Tina schnappte sich die Fernbedienung, schaltete den Fernseher ab, als wäre sie die Königin der Kiste. Anstatt ihre Tat zu rechtfertigen, sah Marc ihr zu, wie sie ihre Füße auf den Sofatisch, der vor ihr stand, ablegte, ihre Beine überkreuzte und die Fernbindung zusammen mit ihrem Smartphone beiseitelegte.
„Total unrealistisch“, zischelte sie, während sie sich an seine Seite schmiegte.
„Na ja, ich fand es genauso an den Haaren herbeigezogen, dass dieser Kommissar, den Täter nur aufgrund eines verschwommenen Fotos erkannt hatte.“
„Nee, das meine ich nicht, fand ich eher genial. Was ich meine ist, dass dieser Jo für seine Freundin Nancy Kerle ausgesucht hat, damit sie mit diesen schläft.“
Weil er kein Vergnügen darin sah, ihr den gesamten Film nachzuerzählen, ihr nicht sagen wollte, welchen Beruf dieser Jo, diese Nancy, nachgegangen waren, versuchte er es ins Lächerliche zu ziehen. Denn hätte sie nicht andauernd auf ihr Smartphone gehämmert, hätte sie es geschnallt.
„Stimmt. Wenn er zumindest Videos gedreht oder dabei zugesehen hätte, aber …“
„Kopfkino“, fiepte ihn Tina, wie ein Schulmädchen entgegen, welches, aufgefordert von ihrem Lehrer, erstmalig eine Antwort parat hat.
„Kopfkino?“
„Locker! Marc, hast du einen anderen Film gesehen? Er war eifersüchtig, hat seine Wut nicht an den Kerlen abgelassen, sondern an denen, die er ermorden sollte. Dieses ist aber nicht das, was mir aufgefallen ist, mir aufstieß.“
„Was dann?“
„Wenn ich diese Nancy wäre, hatte ich mir meine Liebhaber ausgesucht und nicht mit diesen versifften Typen geschlafen, die mir mein Freund aufgezwungen hat, denn …“
„Vielleicht steht sie auf solche, wie du sagst, versiffte Typen.“
„Lass mich ausreden. Der Fehler! Stelle dir vor, du bist dieser Jo, wie ich mir vorstelle, diese Nancy zu sein. Frage, würdest du verrückt werden, weil du es bloß glaubst, ich triebe es mit ihnen, obwohl du mich zu diesen Kerlen fährst, mich ablieferst. Hä. Du sogar zuvor von mir verlangst, mich wie ein Paradepferd aufzutakeln. Zu allem Überfluss forderst du mich, vor der Tür dieser Versifften, auf, meinen Slip, meinen Büstenhalter auszuziehen? Anschließend knöpfst du meine Bluse, bis unterhalb meiner Brüste, auf, gibst mir Kondome und klingelst bei denen. Was tue ich dort?“
Ihre Erzählung amüsierte ihn, dabei wunderte er sich darüber – nein – er zweifelte, ob sie es begriffen oder die Bruchstücke des Filmes, die sie mitbekommen hatte, bei ihr zu einem neuen Werk verschmolzen waren. Am brillantesten empfand er ihre Szene mit dem Büstenhalter. Wenngleich er ein Mann war, versuchte er sich krampfhaft vorzustellen so ein Ding auszuziehen. Es gelang ihm nicht. Die Bluse störte. „Deren versiffte Bude auf Vordermann bringen.“
Tina kicherte. „Genau das würde ich machen. Ha, Ha. Die im Film suggerierten aber, dass er durch seine Fantasie, ich könnte es tun, verrückt wird. Das funktioniert bloß, wenn du nicht weißt, ob, wann oder mit wem ich schlafe.“

Marc kratzte sich am Ohr, fragte sich nochmals, wie viel sie vom Film mitbekommen hatte, hielt es allerdings für nicht zielführend, sie zu informieren. Darum schmetterte ihr, ein kurzes, knappes „Frauenlogik“ entgegen. Das passte immer.
„Psychologie!“
Er zeigte ihr einen Vogel. „Weil du drei Semester Psychologie studiert hast, weißt du das?“
„Nenne es Menschenkenntnis. Stelle dir vor, ich würde just, eben, es mit einem treiben, würdest du deshalb verrückt werden.“
Er konnte ihr zwar nicht folgen, trotzdem verlockten ihn ihre Brüste. Er langte zu.
„Lass das“, harschte sie ihn an, während sie seine Finger wegstieß. „Ich verlange eine Antwort.“
„Woher soll ich das wissen?“
„Kannst du dir das wirklich nicht vorstellen? Es ist ganz easy. Es ist Sex, pure Lust, wie essen und trinken, dafür benötige ich nicht einmal einen Typen. Das kann ich selbst. Mit einem Mann ist es schlicht bequemer. Weißt du, dazuliegen, sich zu entspannen, während er sich abmüht. Himmlisch. Ich lenke, ich führe, ihn, gebe Hilfestellung, nicht mehr, bis es ihm glückt, er es schafft, mich zum Höhepunkt zu treiben. Grandios. Leider wuppen das die wenigsten. Trotzdem hat es nichts mit echten Gefühlen zu schaffen. Dagegen, wenn einer mich liebkost. Ich seine Zärtlichkeit mit innigen Küssen bedanke, er sich an mich schmiegt, ich seinen derben Duft inhaliere, dann … wow. Schließlich verschmelzen wir miteinander, ich werde eins mit ihm. Ich gebe mich ihm hin, lasse mich fallen. Das sind wahre Gefühle.“
Er gab sich alle Mühe, sie zu verstehen, aber er war kein Gefühlsmensch wie sie, eher der Typ Fakten, ein Mann eben.
„Marc, du bist Typus blau. Du bist nicht in der Lage deine eigenen Gefühle zu zeigen, wie willst du dann, die Gefühle andere interpretieren.“
„Was, ich kenne nicht meine eigenen Gefühle?“
„Wenn du sie erkennen würdest, würdest du sie zeigen.“
„Was redest du für einen Bullshit?“
Sie erhob ihre Stimme. „Du bist ein Vollidiot.“
„Und du eine Gefühlsdusselerin“, warf er ihr kraftvoller als zuvor an Kopf.
„Affenarsch“, wetterte sie.
„Nervensäge.“
Langsam kam er in Pfad, obwohl er keinen Zorn, keinen Groll, gegenüber ihr empfand, machte es ihm Spaß, mit ihr zu streiten. Der Eigennutz trieb, die Versöhnung entschädigte ihn.
„Vollpfosten“, schrie sie.
„Schlampe.“
Die Schlampe war sicher übertrieben, ihm herausgerutscht, aber ihm fiel auf die Schnelle kein anderes Schimpfwort ein. Zumindest nahm sie es nicht als kränkend an, ihm krumm, sonst wäre sie aufgesprungen.

Sie ergriff seine Hand, legte sie auf ihren Bussen und flüsterte: „Wir testen es.“
„Meinst du, wenn wir miteinander schlafen“, er schmunzelte, „dann … also …“
„Sicher nicht! Es würde nichts bringen. Außerdem habe ich zurzeit keine Lust und“ sie drohte, „denke an unser Abkommen.“
Er verdrehte die Augen. „Ich denke an nicht anderes.“ Den Kopf zur Seite neigend, druckste er: „Ausnahmeregelung?“
„Obendrein bin ich besetzt. Nein, ich schlafe zuerst mit einem, sodass du es siehst“, sie blinzelte ihm zu, „eventuell magst du dabei etwas mitnehmen, lernen, und an einem späteren Tag, einer darauffolgenden Nacht, gehe ich alleine aus. Dann wirst du sehen, ob du Gefühle, Instinkt, hast und wenn, ob du sie zeigen kannst“, sie kicherte, „Jo.“

Marc verkniff sich ein Grinsen. Egal, was sie in den letzten Wochen anstellten, ob es verrückt, durchgeknallt oder banal war, sah sie gern auf ihn herab und versuchte, ihn zu belehren. Gewiss, sie war anderthalb Jahre älter. Allerdings, was spielte das für eine Rolle, wenn … er wischte den Gedanken beiseite.
„Du spinnst. Du kannst nicht irgendeinen Macker abschleppen, mit dem vögeln, stöhnen, grunzen, damit du weißt, dass ich Gefühle habe. Die habe ich.“
Tina zog ihren Kopf zurück, schüttelte ihn. „Kann? Kann ich.“ Er sah, wie sie zuerst ihr, weit über ihre Schultern fallendes, welliges, fast lockiges rehbraunes Haar zurückwarf, anschließend ihren Kopf senkte und sich mit der Rechten an den Schritt fasste. „Ich bin eine Frau. Seit wann stöhne, grunze ich?“
Er knetete ihre Brust. „Geht schon in Ordnung, macht mich an, jedenfalls wenn du …“
„Spanner.“ Sie klopfte auf ihre Nase. „Umso besser. Obendrein denke ich nicht an irgendjemand. Ich habe einen im Auge.“

Sie hatte es nicht einmal ausgesprochen, da schnappte sie sich ihr Smartphone und entsperrte es.
„Wen willst du anrufen?“
„Sascha“, hörte er sie und als sie weitersprach, erkannte er, dass sie nicht auf seine Frage geantwortet hatte, „was hältst du davon, wenn wir uns mal wieder sehen … zum Tanzen … gern … ja … wo … Roxy … gern … auch … morgen … nächsten Freitag … nee, ich komme hin.“



Verlaufen
Marc hatte es verdrängt, weggeschoben. Weder Tina noch er sprach das Thema, als lag ein Tabu darüber, die Woche über an. Sie gingen zur Arbeit, machten den Haushalt, kauften ein, sahen Fernsehen, wenn es an der Zeit war, zur Nachtruhe überzugehen, vergnügten sie sich in ihrem Bett, wie es Ehepaare pflegten. Eben eine ganz normale Woche.

Am Freitag nach der Tagesschau zog er sich, wie jeden Freitag, seine Joggingklamotten über. Er erinnerte sich nicht mehr daran, ob er mit Absicht eine längere Route gewählt, oder die laue Frühlingsnacht ihn dazu getrieben hatte, jedenfalls kam er später als sonst zu Hause an.
Tina stand im Bad vor dem Waschtischspiegel, einzig mit einem schwarzen, mit Spitze besetzten Slip bekleidet und malte ihr Gesicht an.
„Wo warst du denn? Los, gehe dich duschen“, schrie sie den Spiegel an.
Ihre Tonlage gab ihm zu verstehen, dass sie säuerlich auf ihn war. Trotzdem verlangte sein Ego von ihm, sie weiter zu reizen.
„Möchtest du heute ausgehen?“
„Hast du Alzheimer?“, warf sie ihrem Spiegelbild entgegen, während sie in aller Ruhe, ihre Wimpern, mit der dazugehörigen Zange, formte. „Wir wollen heute Abend tanzen gehen, obwohl, ob du ist mir schnuppe. Dann werde ich, wie du sagst und wir verabredet haben, mit Sascha in die Kiste springen.“
„Wir?“
„Na denn, du eben.“
Er schluckte, malte sich eine absurde Szene. „Ich?“
„Es war deine Idee.“
Der Spuk in seinem Gehirn ergriff seine Stimme, sodass er in Stottern fiel. „Niemals.“
„Natürlich, du hast von mir verlangt, mich von einem flachlegen zu lassen.“
Der widerliche Gedanke, der ihn heimgesucht hatte, verschwand. „Ich?“
„Jetzt werde nicht einsilbig, zeige endlich deine Gefühle. Nicht einmal Freude kannst du zeigen.“
Irgendwie verdrehte sie die Tatsachen.
Sie setzte den Pinsel ihres Lidschattens an und zischte: „Schlampe.“
Dieses eine Wort saß. Sie hatte es weder verdrängt noch vergessen, sondern für einen passenden Augenblick aufgehoben, an dem sie es ihm aufs Butterbrot schmieren wollte.
„Wie hat dieser Jo Nancy genannt, wenn er sie zu den Kerlen brachte?“
Er ahnte, dass sie keine Antwort von ihm verlangte, trotzdem war ihm bewusst, weshalb ihm dieses Wort über die Lippen gerutscht war. Ihr es allerdings zu erklären, sich zu entschuldigen, war – er kannte sie dafür langsam zu genau – in dieser Lage kontraproduktiv. Denn nicht aus dem Fakt für sich, dass sie davon ausging, er hätte sie genötigt, quoll ihre Wut, sondern schlichtweg aus seiner Verspätung. Es gab Szenen im Leben eines Manns, in dem Angriff eher zum Resultat führte als Verteidigung.

„Du hast dich mit Sascha verabredet.“
„Weshalb wohl. Denkst du, ich vögel mit einem Typen, den du mir aussuchst. Bin ich derart dämlich wie diese Nancy, bestimmt nicht. Sascha ist zwar ein Kotzbrocken und ich kann ihn nicht ausstehen, aber allemal besser als irgendein Dahergelaufener. Allein, wenn ich mir vorstelle, welche Mühe es mir macht, ihn, nachdem, was damals vorgefallen war, dazu zu bringen …“ Den Rest nuschelte sie in ihren Lippenstift. „Jetzt gehe endlich duschen, sonst nehme ich dich nicht mit.“
Ihr letzter Satz ließ ihn aufatmen. Sie hatte nicht vor, sich an Sascha heranzuwerfen, spielte mit ihm, wollte einzig wissen, wie er reagierte. Ihn seiner in ihm ruhenden, anerzogenen, männlichen Arroganz, nahm er das Spiel an.
Er stellte sich an ihren Rücken, küsste ihren Hals und strich über ihre Schulter. „Dann ist es eine Art Wette.“
„Was für eine Wette? Wettest du darauf, dass ich es nicht schaffe ihn ins Bett zu locken. Was denkst du für einen Quatsch? Ich bin eine Frau. Es wird für mich zwar nicht einfach, aber diese Wette habe ich bereits gewonnen. Ich würde es eher Plan, Bestreben nennen. Okay, dein Ding.“
Es gab Fakten, die waren sogar für ihn plausibel.
„Naiv bin ich nicht. Ich meine die Sache mit den Gefühlen.“
Sie wandte sich zu ihm um und er lechzte nach ihren Brüsten. „Stimmt, da war ja etwas? Habe ich gleichfalls gewonnen. Du kannst deine Gefühle nicht zeigen, sie nicht in Worte fassen. Wenn ich zuerst vor deinen Augen mit einem“, sie unterbrach, spitze ihre Lippen, „mit Sascha schlafe, ein, zwei Wochen später mich hübsch mache, mich sexy, aufreizend, begehrlich, kleide, ich dir einen Kuss auf die Lippen presse, dir sage, dass wir uns erst am nächsten Morgen wiedersehen, danach wird es sich zeigen. Denn du weißt nicht, ob, oder gar, wem ich hingebe. Du dir anschließend eingestehen, dass Liebe mit Empathie etwas anders ist. Dann habe ich gewonnen. Kopfkino.“
Er hielt ihr die Rechte entgegen. Wie naiv sie war, glaubte, nahm sie wahrlich an, dass er Sex und Liebe nicht auseinanderhalten konnte, unfähig dazu war? „Wette gilt. Aber zu jeder Wette gehört ein Einsatz.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Bitte, suche dir etwas aus.“
Er strich über ihre Brustwarzen. „Wenn ich gewinne, dann kann ich mir jede Frau aussuchen, die ich will.“
Dabei nahm er das ‚jede‘ wortwörtlich, denn er hatte sie bereits. Sie stand vor ihm.
Sie zwinkerte ihm zu. „Okay, von mir aus. Tue dir keinen Zwang an, aber für mich gilt dasselbe.“



Macho

„Die nächste Wasserrechnung blechst du?“
„Wieso?“
„Quatsch nicht so viel, komm lieber her.“
Dabei brauchte sie Marc nicht einmal mit ‚lieber‘ aufzufordern. Immerhin war er nackt und sie quasi sparsam bekleidet, wenngleich der Rock ihres silbernes, mit Pailletten verziertes Kleid gerade ihren Slip verbarg. Er schwenkte seinen Blick zum Bett, betrachtete das schwarze, mit Spitze besetzte Stück Stoff, das auf diesen lag und schlussfolgerte: wenn sie einen anhätte. Ob sie vorn genauso freizügig gekleidet war, vermochte er nicht zu sehen, denn er starrte auf ihren nackten Rücken. Allein ein überkreuzt gespanntes Band schien ihr Kleid zu halten.
„Glotz nicht, komm schon!“
„Ja, ja“, stammelte er, während er an sie herantrat.
„Mach mal zu!“
Er erfasste den Zipper des Reißverschlusses. „Ist doch zu.“
„Blödmann, nicht den Rock, den habe ich selbst zu bekommen.“ Sie fasste seitlich an ihr Kleid, hielt ihm zwei Bänder entgegen, die in der Farbe des Kleides gehalten waren. „Oben!“
Amüsiert darüber, dass Freuen sich andauernd irgendwelche exotischen Fummel kauften, dann nicht in der Lage waren, sich ohne fremde Hilfe anzukleiden, nahm er die Bänder entgegen. „Wie?“
„Wie? Hast du nie einen Büstenhalter geschlossen?“
Sacht seine Schultern hebend, sah er an sich herab. „Habe ich Titten?“
„Bei einer Frau natürlich du Dössbaddel.“
„Ich halte es eher mit ausziehen …“, den Rest verkniff er sich, dafür hakte er die Öse ein.
„Fester“, schrie sie, „oder soll ich die Hälfte bereits auf dem Weg zum Rosy verlieren.“
Er hakte nach, bis sie zufrieden war.

Sie wandte sie sich um, richtete, formte, dabei ihr Dekolleté. Indes spürte er, bei diesem imposanten Anblick, wie ihm das Blut in ein Teil seines Körpers schoss, in dem es, jedenfalls in diesem Moment, fehl am Platze war. Ein Umstand, den Tina ihm mit dem Wort „Männer“ bewies. Wie viele Männer – dieses gestand er sich ein – stand er auf pralle Brüste, wenngleich Tinas nicht extrem, sondern schlicht über dem Durchschnitt angesiedelt waren. Dieser für ihn verlockende Umstand war zwar nicht der Natur, sondern der Medizin geschuldet, ihm jedoch wumpe. Dabei verfluchte Tina in ruhigen Stunden ihren Entschluss, was er nicht verstand. Sie erklärte es ihm knapp, dass ihre drei Kilogramm Vorlast ihren Rücken alles andere als guttäten. Ob sie beileibe 3 Kilogramm vor sich hertrug, oder mehr oder weniger, bekam er durch seine Hebeversuche nicht heraus und auf die Küchenwaage wollte Tina sie nicht legen.
„Und?“
Die Augenbrauen zusammengezogen, zog er den Kopf zurück.
„Wie sehe ich aus?“
„Knapp.“
Sie senkte ihren Kopf und er wusste, was sie betrachtete. „Knapp. Ich würde es eher als unterdurchschnittlich bezeichnen.“
Wenngleich er sein erigiertes Glied eher zum Durchschnitt zählte, begriff er, dass er schlicht das falsche gesagt hatte. Er wiegelte ab und stammelte: „Echt der Brüller, scharf, sexy, wow“, er dachte an Nancy und Jo aus dem Krimi, schielte kurz zum Bett, „aber wolltest du nicht tanzen gehen.“
„Tanzen?“ Ob sie seine Anspielung begriffen oder weiterhin mit ihm spielte, versagte ihm.
„Höre zu. Ich sage es dir zum letzten Mal. Ich will mit Sascha in die Kiste springen. Endlich mal wieder richtig, gevögelt, durchgeknallt werden und du weißt, worauf der steht?“
Erschrocken über ihre klaren Worte, riss er die Augen auf. Er kannte Sascha, seine Vorlieben, stellte sich sogleich vor, wie sie das Roxy erreichten. Tina auf ihn zu schwänzelte, er seinen Arm um sie legte und sie fragte: zu dir oder zu mir, worauf sie ihm, zu dir natürlich, schmachtete.
„Du willst mit ihm ins Bett?“
„Wenn du es möchtest, von mir verlangst? Ich hätte nicht dagegen. Ich weiß bloß, nicht, ob er dir etwas bringt oder ob er es als amüsant empfindet.“ Er sah, wie sie ihre Lippen zu einem Schmunzeln verzog. „Los, zieh dir etwas über oder willst du nackt ins Roxy?“
Er liebte sie. Er liebte ihre direkte Art und ahnte, worauf sie hinauswollte. Ihm ein Geschenk bereiten, auf welches er wartete, es von ihr ersehnte.

Irgendwie kam er sich komisch vor. Da saß er vor dem Lenkrad seines Wagens und fuhr Tina, als ginge sie dem Gewerbe dieser Nancy nach, zu einem Date. Er sah kurz zu ihr hinüber, von ihrem Outfit her, passte es. Es verzückte ihn sogar. Immerhin hatte er sie so, wie sich im Moment gab, kennenlernt.
Sie war sexy, vulgär, er scharf auf sie und der Grund, weshalb er sich der Clique angeschlossen hatte. Dabei hatte er null Chance bei ihr. Sie war eine Zehn, er eine Vier, ein Versager eben, jedenfalls was Frauen betraf.
Dabei gab sie sich nur so, sie hatte andere Werte, innere Werte. Okay, er war nicht der Grund. Sie wollte, nein, sie führte ein anderes Leben. Sicher, auch sie gingen tanzen, hatten ihren Spaß, aber ihre aufreizenden Kleider hatte sie abgelegt. Genauso, er linste in den Fußraum vor ihr, musterte ihre silbernen Sandaletten, wie ihre sexy, hochhackigen, einem Mann den Kopf verdrehenden Schuhe. Zumindest konnte sie in derart Schuhwerk noch laufen, wenngleich er sich weiterhin darüber wunderte, wie es Frauen überhaupt gelang, damit ohne zu stürzen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Meist trug sie Turnschuh und Hosen, obwohl diese sich derart eng an ihr weibliches, prachtvolles Becken schmiegten, dass sie für ihn mehr Sexepil ausstrahlte als in einem Minirock.
Als könne er damit seine Gedanken unterstreichen, legte er seine Rechte auf das Knie ihres linken Beins, welches auf dem rechten ruhte.
„Lass das“, harschte sie ihn an, während sie seine Hand wegstieß, „konzentriere dich auf den Verkehr.“ Sie nahm ihr linkes Beim hinab, spreizte ihre Beine, hielt sich an ihrem Gurt fest und schrie: „Pass auf!“
Er wich dem Fußgänger aus, schaute sie erneut an, erblickte einen roten, mit Spitze besetzten Slip. Ob es aus Verlegenheit war, weil er fast den alten Mann überfahren hätte, oder schlicht das Wort ‚Verkehr‘ ihn reizte, wollte, konnte, er nicht wissen, weil sein Mund schneller war als seine Gedanken.
„Hast du eigentlich Kondome dabei?“
„Was soll ich damit?“
„Na, ja?“
„Gott Marc, ich habe schon zigtausend Mal mit ihm gepennt, da kommt es auf ein mehr oder weniger nicht an.“
Weil es nicht die Antwort war, die er erwartet hatte, runzelte er die Stirn und hörte ihr weiter zu.
„Jetzt bist du süß. Du machst dich um mich Sorgen, wenn du nicht mein Make-up verwischen würdest, würde ich dich glatt küssen. Aber ich kann dich beruhigen, Sascha war seiner Perle hundertprozentig treu.“
Die Aussage war einerseits für ihn unlogisch, anderseits beruhigte sie ihn. Wenn Sascha dermaßen tickte, hätte Tina keine Chance bei ihm. Dabei hatte er ein anderes Bild von ihm. Sascha verschmähte keine Frau, befummelte sie, küsste sie. Er grübelte: hieß dieses gleich, dass er mit ihnen das Bett teilte. Sogar von seinen Perlen verlangte er dieses, so weit Marc dieses von denen aus der Clique sowie Tina erfahren hatte und sie musste es wissen.
Nicht, dass seine Freundin mit jemandem herummachen durfte, da schritt er dazwischen. Auftakeln mussten sie sich, alles zeigen, was sie hatten, herumtänzeln, die Männer anmachen, bis einer sabberte und sie berührte. Dann schritt Sascha ein, zeigte diesem, wer das Alphatier war.
„Dann wirst du keinen Stich bei ihm haben“, schlussfolgerte er.
„Wieso?“
„Wenn er in festen Händen ist?“
„Ich sagte war.“
„Er hat sich getrennt?“
„Nein.“
„Jetzt wirst du einsilbig.“
„Er weiß es noch nicht, dass er sich heute Nacht von ihr trennen wird. Sascha entscheidet, wer seine Perle ist, wem er treu ist. Das ist mein Problem, meine Arbeit. Ich muss ihm aufzeigen, dass ich zu haben bin, er freien Stich bei mir hat. Freiwild. Rumfummeln tut er an jeder, aber seinen Lümmel steckt er bloß in eine, die Single ist. Eine, die in festen Händen ist, nagelt er nicht durch. Ehrenkodex, wenn du verstehst. Obwohl ich eher glaube, dass er Komplexe hat. Dabei kann es ihm als Mann total egal sein, ob sie kurz zuvor ein anderen bestiegen hat.“
Er verkniff sich sein Lachen. Sie spielte wunderbar. Mit welchem Pathos sie vortrug. Jeder Fremde hätte geglaubt, es wäre ihr Ernst. Aber er wusste, dass sie ihn foppte, nahm trotzdem ihren letzten Satz auf und sann darüber nach. Hatte er ein Problem damit, mit ihr intim zu sein, wenn ein paar Wimpernschläge zuvor ein anderer, vielleicht sogar, ohne sein Glied zu verhüllen … er hatte keine Antwort. Jedenfalls würde er nicht seinen Kopf zwischen ihre Schenkel versenken und … den Brechreiz, den er empfand, unterdrückte er.
„Dann willst du doch mehr mit ihm als nur ein Quickie?“
„Mal sehen, was die Nacht bringt.“ Sie öffnete ihre Handtasche, zerrte einen Slip hervor. „Ausgerüstete bin ich.“
„Ein Geschenk für danach?“
Sie zog eine Augenbraue hinauf. „Nee, nach dem Duschen ziehe ich mir immer frische Unterwäsche an. Das weißt du.“
Sie war köstlich und er liebte, begehrte sie. Wie gerne hätte er gestoppt, wäre über sie hergefallen. Aber in seinem Wagen? Wer hatte daran Freude, viel zu eng und ungemütlich. Immerhin wartete auf sie ihr Bett.



Bullshit

„Wir hätten ins Parkhaus fahren sollen?“
„Wie kommst du auf diesen Bullshit?“
Marc wies nach vorn. „Na ja, parken nur für Kunden.“
„Mann, bist du beknackt. Der Supermarkt hat eben dichtgemacht und da steht mit Parkscheibe zwei Stunden, dann ist es knapp vor eins. Denkst, da kommt einer, um zu kontrollieren. Wenn, dann ist das alle mal billiger als das Parkhaus. Das macht Sascha stets und der hat was im Kopf, weiß, wie er am günstigsten von weg kommt.“
Marc zupfte an seiner Nase, irgendwie hatte das Kleid ihr Gehirn aufgeweicht. Okay, als er sie das erste Mal im Rosy gesehen, die ersten Sätze mit ihr gewechselt hatte, ging er davon aus, dass sie nicht nur blond war, sondern gleichfalls tickte. Obwohl? Ausgetauscht hatten sie keine Sätze, sie schnatterte und er stammelte, denn sie war eine Zehn, er eine Vier.
„Wir hätten, mit dem Wagen nach Billstedt, dann mit der U2, fahren können.“
„Können, kann man. Du tickst nicht rund.“ Sie zupfte an ihrem Kleid. „Abgesehen davon, dass du eine Ewigkeit unterwegs bist, suche ich mir weiterhin die Macker aus, die mich besabbern, begrapschen, flachlegen. Weißt, auf besoffene Penner stehe ich nicht.“

In dem Augenblick, als er die Parkscheibe ablegte, stieg sie aus. Dabei schwang sie keck den Riemen ihrer Handtasche auf ihre Schulter und stöckelte davon. Er setzte sich seine Brille ab, verwahrte sie im Handschuhfach. Denn er hatte keinen Bock darauf, sie beim Tanzen zu verlieren, weil irgendein Depp ihn anstieß. Dafür hatte er zu viel für sie hingeblättert. Außerdem war er nicht derart blind, dass er gegen einen Pfeiler lief. Hätte Tina nicht dermaßen gedrängelt, hätte er sich seine Kontaktlinsen aufgesetzt, aber wie sagte man: Hätte, hätte Fahrradkette. Er verließ seinen Wagen, schloss ab, eilte ihr hinterher.
„Ey Alter, habe ich Klebstoff am Arsch oder warum dackelst du mir hinterher?“, schnauzte sie ihn an, ohne sich ihm zuzuwenden.
Entsetzt von ihren Worten, versperrte er ihr den Weg, sah zu ihr hinauf, während zwei Mädels, tief ihn ein Gespräch verwickelt, auf ihn zu schlenderten.
„Schieb Leine. Bloß, weil du mich mitgenommen hast, heiß das lange nicht, dass du mich flachlegen darfst. Ich habe dir verklickert, dass ich mich mit meinem Freund treffe.“
Nachdem die Mädels ihn passiert hatten, neigte sich Tina vor und flüsterte ihm „Marc, immer schön Abstand halten“ zu. Anschließen schob sie ihn beiseite und folgte, dabei aufreizend, mit ihrem Hintern wackelnd, den beiden.

Verdattert blieb er stehen. Er konnte sich aus ihrem Verhalten kein Reim machen. Hatte sie von vornherein vor, sich mit Sascha zu treffen, um mit ihm zu schlafen? Wollte sie ihm, mit der berühmten Brechstange klarmachen, dass sie nichts mit ihm anfangen wollte, ihn abschieben, bevor es richtig begann? Wozu das Ganze? Hatte sie nicht die Chuzpe ihm direkt ins Gesicht zu sagen, dass er sich verflüchtigen, aus ihrem Leben verschwinden sollte? Er liebte sie. Er liebte sie wie nie einen Menschen zuvor. Nein. Sie verlangte nach etwas. Aber was? Er schob seine trübsinnigen Gedanken fort, folgte ihr.
Abstand vor ihr wahrend, erreichte er den grell erleuchteten Vorplatz des Roxys, die Schlange vor dem Eingang wie je elend lang. Seine Knie erweichten ihm, denn er hatte sich vorgenommen, nie wieder diesen Schuppen zu betreten.
Zuerst in Schockstarre, nahm er mit seinem Blick wieder die Verfolgung auf, sah wie Tina einer der beiden Mädels, die abseits der Schlange stehen blieben, auf die Schulter tippte.
Er pirschte sich an, stelle sich in eine Gruppe, die neben den Dreien wartete, schielte zu ihnen hinüber und lauschte.
„Tina, du? Lange nicht mehr gesehen“, hörte er das Mädel, dem Tina auf die Schulter getippt hatte. „Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt.“
Er musterte sie, sah, wie sie ihr langes, glattes blondes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, hinter ihr Ohr klemmte, und bewunderte sie. In ihrem schwarzen Minikleid, welches kaum mehr von ihrem Körper verhüllte wie Tinas, sah sie zum Anbeißen aus.
Tina griff in ihr Haar. „Sonja, ich habe mich aufgepimpt.“
„Steht dir“, lobte Sonja, schlang ihre Arme um Tinas Taille, worauf sie ihr es gleichtat, und berührte mit ihren Lippen Tinas Wangen, wie es Frauen vorführten, wenn sie sich begrüßten. Ihren linken Arm weiterhin um deren Taille glitt Tinas Hand über das Sonjas Gesäß.
„Ich habe mich’ne Zeit lang in anderen Clubs umgesehen, aber nichts geht übers Roxy.“
„Du hast wohl keinen abgekommen?“
„Quatsch, seit wann fackle ich lang, habe ein Date.“
„Mit wem?“
„Sascha.“
„Nee glaube ich nicht, der ist doch mit …“
„Lass die Schlampe.“
„Aber …“
„Vergiss es. Okay, es war mein Fehler, mich von Sascha zu trennen, aber es gibt keinen Besseren, der dich so richtig durchknallt. Du bist weiterhin solo.“
„Hey, ich bin nicht wie du, dass ich mich an irgendeinen Typen fest binde. Ich will meinen Spaß. Na ja, war in den letzten Wochen erfolglos, aber ich fühle, heut geht was ab.“
„Siehst, das ist der Vorteil, wenn man einen Festen hat.“
„Kommt, lasst uns rein“, hörte Marc die Dritte eher schüchtern, flüsternd.

Sie war zwar gleichfalls aufreizend gekleidet, jedoch in einer Art eher zurückhaltend. Sie hatte eine eng anliegende Hotpants an. Dazu trug sie eine Netzstrumpfhose, und ein bauchfreies Top, mit dem sie ihre Brüste präsentierte, ohne, dass es auf ihn aufdringlich wirkte. Einzig ihre kurzen schwarzen Haare, die für ihn eher zu einem Mann passten, gefielen ihm nicht.
Die drei Frauen schlenderten an der Schlange vorbei, betraten, nachdem Tina dem Türsteher über seinen Bart gestrichen hatte, ohne jegliche Kontrolle das Roxy. Stammgäste eben, außerdem alle weiblich.

Das Roxy war zwar kein typischer Anbackerclub, dem weit gefällt. Allerdings hatte niemand etwas dagegen, wenn eine Frau ihn allein betrat, dann mit einem Mann verließ. An und für sich war es ein Club für das reifere Publikum, die nicht auf Techno standen, sondern lieber nach Musik tanzen, nach der seine Eltern das Tanzbein schwangen. Für die Mitte dreißigjährigen eben und nicht für die Mitte Zwanziger wie er. Vom Alter her konnte er sich eher mit den Frauen verbünden, zumindest mit denen, die nicht mit einem Partner erschienen. Das Einzige, was ihm zum Roxy zog, war, dass niemand außer Alkohol Drogen anbot, es gesittet, ruhig, abging. Es war sogar möglich, in den Sitzecken zu verweilen, sich zu unterhalten, ohne zu schreien.

Er reite sich in die Schlange ein, worauf in ein Zwei-Meter-Hüne sogleich anmachte, ihm mit geballter Faust kundgab, er solle sich hintanstellen.
Die Reihe entlangschlängelnd, überlegte er, ob er sich überhaupt hinten anstellen sollte. Dabei hatte das Wort ‚hintanstellen‘ für ihn auf einmal eine weitere Bedeutung. War es mit Tina nicht gelaufen? Es waren nicht die Worte für sich, die er aus ihrem Mund gehört, sondern wie sie diese zu der im schwarzen Minikleid gekleidete Sonja gesprochen hatte. Es war die Klarheit, die Überzeugung, in ihrer Stimme, die ihm die Absurdität seiner Gefühle aufzeigte. Er war ein Zwerg, ein Schlappschwanz, kein Mann, den sich Tina an ihre Seite wünschte.



Abfuhr

Je näher Marc dem Türsteher kam, desto mehr erweichten ihm die Knie. Er erkannte ihn, es war das Schwein, der Grund dafür, weshalb er dem Roxy, der Clique, den Rücken zugewandt hatte. Ihm schwanden die Sinne und er war an derselben Stelle wie damals.

„Du kommst nicht rein.“
„Igor, drücke ein Auge zu.“
„Tina, du kannst durch, aber wenn ich sage, kommt nicht rein, dann kommt nicht rein, bekomme Ärger.“
Der Name Tina elektrisierte ihn. Er schaute auf, sah ihr langes, bis über ihre Taille rankendes, glattes blondes Haar, ihren knackigen Hintern, der knapp vom Saum ihres Kleids bedeckt war. Verlegen blickte er weg, erfasste die Frau, die neben ihr stand. Schüchtern, wortlos. Er musterte ihren Minirock, der als Rock zu erkennen war, ihr Oberteil. Ihr Top, das einerseits ihre Schultern, ihre Arme bis zu ihren Ellenbogen, bedeckte, anderseits, obwohl er bloß auf ihren Rücken starrte, ihm ihre zarte, schlanke Taille präsentierte. Er sah, wie sie ihren Kopf nach vorn neigte, wodurch ihre krausen, schwarzen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte, zu wippen begannen. Sie überkreuzte ihre langen, für ihn verführerischen, haselnussbraunen Beine, dessen Farbe eine weiße Netzstrumpfhose unterstrich.
„Wenn ich sage, kommt nicht rein, dann kommt nicht rein“, hörte er erneut Igor.
Tina legte ihren Arm um die Taille der Anderen. „Igor!“
„Deswegen.“
„Igor!“, donnerte Tina.
„Kommt nicht rein.“
Marc spürte, wie Wut in ihm aufkeimte. Er konnte diese Typen nicht ausstehen. Was konnte sie dafür, dass sie eine andere Hautfarbe hatte? War sie nicht gleichfalls ein Mensch wie all die anderen? In diesem Augenblick wünschte er sich, dass ihm seine Eltern Russisch beigebracht, ihm anstatt zum Reiten, zu einem Kampfsport angemeldet hätten. Egal, er musste ihr beistehen. Er nahm all seinen Mut zusammen, ging auf Igor zu, streckte sich, sah zu ihm hinauf, verzog, so gut es ihm möglich war, grimmig sein Gesicht und knurrte eher, als dass er es aussprach: „Gib’s Probleme?“
„Zwerg, mach Kopf zu.“
Es war eher unwillkürlich als mit Absicht. Jedenfalls ballte er eine Faust, streckte den Arm so weit, bis diese beinahe Igors Kinn erreichte und schrie ihm: „Alle Menschen sind gleich, du … du elendiger Rassist“ entgegen.
Ob es das Wort ‚Rassist‘ oder seine Faust es gewesen war, vermochte er nicht zu verifizierten, jedenfalls spürte er im nächsten Moment einen Aufschlag an der linken Schläfe, bevor ein stechender Schmerz ihm die Sinne raubte.

„Ausweis!“, donnerte Igors Stimme.
Marc griff ans Gesäß, zückte seine Brieftasche, zerrte seinen Ausweis heraus, reichte ihn Igor.
„Kommst mit bekannt vor!“
„Erste Mal hier.“
„Knete!“
Er übergab ihm den Geldschein, dachte dabei, dass eine Aushilfskraft in einem Supermarkt dafür sicher einen ganzen Tag schuften musste und drängelte sich an Igor vorbei, während ein zweiter Türsteher ihm einen Stempel auf den Handrücken presste.
„Hey Zwerg“, vernahm er erneut Igors Stimme, „hast nicht was vergessen?“
Marc erstarrt, wandte sich, als wäre er in einen Film, der in Zeitlupe gezeigt wird, um.
„Deine Bons.“
Den Schreck weiter in seinen Gliedern spürend, übernahm er mit zittrigen Fingern die Getränkegutscheine. Einen für ein Bier und einen für ein Glas Champagner, jedenfalls stand dieses drauf, obwohl es bloß billiger Schaumwein war. Anders als bei den Flaschen, die Sascha orderte.
Igor spreizte seinen Mittelfinger, seinen Ringfinger ab und hielt diese an sein Gesicht. „Ich habe dich im Visier, wenn’s Ärger machst, fliegst, klar!“
„Klar“ stotterte Marc und wandte sich ab, schlich durch den finsteren Gang, der ins Innere führte. Bevor sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnten, hörte er bereits Robin Gibbs quietschende Stimme.

Das Roxy hatte sich kein Deut geändert. Warum auch, dachte er sich. Die bunten Lichter flackerten wie eh und je. Die Discokugel drehte sich über der Tanzfläche, warf ihre Blitze in den Saal. Frauen wie Männer schwangen unter ihr ihre Hüften, Gruppen saßen auf den ausladenden Sofas, unterhielten sich, stellten ihr Getränke auf den kniehohen Tischen ab oder nahmen sie von denselben. Abseits amüsierten sich Paare, erkunden Männer die Brüste, die Beine ihrer Partnerinnen, egal ob diese nur für eine Nacht oder auf Dauer es waren.
Sein Herz blieb ihm stehen. Er erblickte eine Frau in einem silbernen Kleid. Viel sah er von ihr nicht, bloß, dass ein Typ halb auf ihr lag und seine Hand einen Teil von ihr erkundete, den ein Mann mit Anstand in der Öffentlichkeit normalerweise nicht beglücken sollte. Jedenfalls schien es ihr Vergnügen zu bereiten, denn sie presste seinen Kopf fest an ihre Brust. Kam er zu spät? War der Drops für ihn bereits gelutscht. Sie hatte es ihm eindeutig gesteckt, was sie wollte, wonach es ihr verlangte. Was hatte sie ihm im Badezimmer gesagt: „Wir wollen heute Abend tanzen gehen, obwohl, ob du, ist mir schnuppe - jetzt gehe endlich duschen, sonst nehme ich dich nicht mit.“

Verzettelt hatte er sich, glaubte er wirklich daran, dass eine Frau wie Tina etwas für ihn empfinden konnte. Wie dumm, wie weltfremd war er? Er buchte den Eintritt als Lehrgeld ab und wandte sich zum Gehen. Er blickte zum Abschied zur Bar, um sich endgültig vom Roxy zu verabschieden, da sah er eine Frau in einem silbernen Minikleid, das nicht allein durch eine Art Gummiband an ihrem Oberkörper gehalten wurde. Er blickte ein weiteres Mal zu dem Paar, erkannte sein Irrtum. Das Kleid der Frau, die in diesem Augenblick ihre Beine spreizte und auf den Schoß des Mannes kletterte, war am Rücken geschlossen. Nachdem sie ihr Gesäß gehoben, gesengt hatte, sie ihre Lippen, auf die des Mannes presste, ihre Hüfte im Takt der Musik schwang, hoffte er für sie, dass niemand sie entdeckte. Sogar im Roxy gab es Grenze, die ein Paar nicht überschreiten durfte.
Während er bemerkte, dass sein Blut in eine Region schoss, in der es zurzeit nicht zu suchen hatte, wandte er sich erneut Tina zu. Sie stöckelte an der Bar entlang, steuerte deren rückseitigen Teil an. Er folgte ihr, dabei Abstand wahrend. Nachdem er die Bar umrundet hatte, erspähte er Sascha. Er saß auf einem Barhocker, betrachtete, dermaßen sah es für ihn aus, sein Glas. Tina tippte ihm auf die Schulter, worauf er sich umwandte, sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihm, als wäre er ein Mädel, auf die Wangen küsste.

Marc Position an der Bar war nicht die Beste. Zwar konnte er die beiden beobachten, sofern ihm dieses seine Kurzsichtigkeit erlaubte, jedoch vermochten sie ihn gleichfalls zu erspähen. Daher entschied er, sich einen verdeckten Beobachtungspunkt zu suchen. Er ging weiter, schlängelte sich an Gästen, die auf ihr Getränk warteten, vorbei, bis er den rückwärtigen Bereich des Rockys erreichte. Dort befand sich auch der Stammtisch der Clique. Mit künstlichen Pflanzen verzierte Stellwänden, grenzen diesen Bezirk vom Rest des Roxys ab. Jeden Samstag traf sich dort die Clique und an den sonstigen Tagen, sofern das Roxy seine Türen geöffnet hatte, Gäste die Ruhe genossen, oder sich schlicht vom Rest abkapseln wollten.
Er sah hinüber, stellte fest, dass eine Horde Frauen, die kaum älter als er waren, einen Junggesellenabschied feierten, oder wie man es bei Frauen nannte, zumindest hatte eine der Frauen einen Brautschleier auf ihrem Kopf.
Was ihm allerdings eher entgegenkam, war, dass in dieser Ecke meist die Unentschlossenen, Schüchternen, herumlungerten. Daher fiel er nicht auf.
Tina saß neben Sascha, die Beine überschlagen, auf einem Barhocker und der Barkeeper übergab ihr ein Glas Champagner. Für Marc stand es fest, dass es welcher war, den niemand im Club wagte es, Frauen, die an Sascha Seite saßen, das gepanschte Zeug anzudrehen. Sonst passierte nichts. Sie unterhielten sich. Sie plauderten und Sascha strich über ihr Knie, aber das tat er bei jeder Frau. Zumindest bei denen, die es zuließen.



Heiße Schokolade

Marc stand gelangweilt zwischen den anderen Schlappschwänzen, die sich nicht trauten, eine Frau anzusprechen. Daher waren diese Luser weitaus älter als er, somit nach seiner Ansicht sicher erfahrender.
Er glotzte abwechselnd zu Tina, zu Sascha und wartete. Worauf wartete er? Wartete er darauf, dass Tina Sascha um den Hals fiel, ihre Zunge in seinen Rachen schob? Oder hoffte er darauf? Damit das Drama ein Ende hatte, er als Luser, sein Haupt gesengt, das Feld räumen musste. Weshalb quälte sie ihn? Wusste, ahnte sie überhaupt, dass er in ihrer Nähe stand? Bestimmt nicht. Er war ihr sicher egal.
Eine für ihn aufreizend, gar geile, Körperteile erregende, Schönheit, stellte sich neben Tina, erhob einen Arm. Es war nicht ihr knappes Kleid, ihre erotisch hohen Schuhe, die ihn in ihrem Bann schlugen, sondern ihre Haut. Ihre schokoladenbraune Haut schleudert ihn zu Boden.

Er öffnete die Augen, erblickte ein engelsgleiches Gesicht, makellos, zart, mit Grübchen. Treu, fast verschämt, schaute sie ihn an. Ob sie „mein Held“ gesagt, oder er es sich eingebildet hatte, spielte für ihn keine Rolle. Klick! Gab es Liebe auf den ersten Blick?
„Geht es dir gut?“, hörte er sie flüstern. Ihre Stimme klang erotisch. „Noch nie hat sich ein Mann für mich eingesetzt.“ Dabei kam es ihm vor, als sehe sie nicht ihn an, sondern, dieses verwunderte ihn, nachdem er ihren Blick verfolgt hatte, Igor. Igor, der, soweit er aus seiner Position wahrnahm, Ausweise kontrollierte, als ginge es ihm nichts an, am Arsch vorbei.
Marc fasste an seine Schläfe. „Alles gut.“ Dabei bemerkte er, dass seine Brille nicht an dem Ort verweilte, an dem er sie zuletzt gespürt hatte.
„Ist das deine?“
Er erfasste seine Brille, streifte dabei ihre Finger, worauf sie lächelte und flüsterte: „Der Bügel ist kaputt.“
„Geht, nicht schlimm“, stammelte er, setzte sie, soweit sie hielt, auf die Nase.
„Wie kann ich das wiedergutmachen?“
„Heiße Schokolade.“
Gott, wie dämlich war er, dabei verabscheute er dieses Getränk. Ob ihr süßes Lächeln oder ihre Hautfarbe ihn dazu veranlasst hatte, verdrängte er, nachdem sie „gerne“ geantwortet, sie ihm ihre Hand gereicht hatte.
„Minu, komm, lass den Luser liegen, wie dumm kann man sein und sich mit Igor anlegen“, hörte er Tina schnarren, während er aufstand und ihren Namen mit dem seinen verknüpfte: Minu und Marc.
„Wir können ihn nicht liegenlassen.“
Tina verschränkte die Arme: „Jetzt wirst du sentimental.“
„Höre nicht auf sie, sie tut nur so. Eigentlich ist sie nett.“ Minu streichelte Tinas Oberarm. „Darf ich dir vorstellen, Tina.“
Er streckte seinen Arm vor. „Marc“, stotterte er, worauf Minu ihren Kopf neigte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Schöner Name, gefällt mir“, blies sie eher, als dass sie es sprach, in sein Ohr. Ihre erotische Stimme schwebte durch seinen Kopf und stimulierte ein Areal, das sonst bei ihm pralle Brüste ansprach. Die besaß sie nicht. Er ignorierte es in ihrem Fall, sah darüber hinweg.
„Toll“ hörte er Tina.
In diesem Augenblick fiel es ihm erst auf, obwohl sie in derselben Clique waren, nahm sie ihn nicht wahr. Er war eine Null, ein Nichts, unbedeutend. Dabei schlug sein Herz, wenn er sie sah, lechzte nach ihr. Weder Minus Lächeln noch ihr Kuss hatten das geändert, nur dass sein Herz inzwischen für zwei schlug.
„Tina, zu tanzen ist mir die Lust vergangen und heiße Schokolade wäre genau das richtige“, flüsterte Minu Tina zu, gerade in einer Lautstärke, dass er es verstand, worauf Tina erneut die Augen verdrehte. Sein neues Herzblatt wandte sich ihm zu. „Wo?“
Er starrte sie an. „Die haben auch leckere Haselnussschnitten.“ Der Satz hatte nicht einmal vollständig seinen Mund verlassen, als er sich auf die Unterlippe biss. Wie doof war er? „Und anders Gebäck“, schob er hastig hinterher.
Sie lächelte. „Ich liebe Haselnuss. Die knacken so schön.“
Tina seufzte. „Okay, Minu, weil du es bist. Wo ist der Laden mit der heißen Schokolade, mit den Haselnussschnitten.“
„Schanzenviertel.“
„Vergiss es Kleiner.“ Tina zupfte am Saum ihres Kleids. „Ich fahr’ doch nicht mit den Öffis“, sie hob ein Bein, streckte ihm ihren Fuß entgegen, „und mit den Tretern gehe ich bestimmt nicht zu Fuß.“
„Ich bin mit meinen Wagen hier.“
Minu zerrte an Tinas Arm und bettelte: „Bitte.“
„Wo steht deine Karre?“
„Im Parkhaus.“
„Bist wohl Krösus, aber da dackel ich jetzt nicht hin.“
„Ich hole euch ab.“ Marc ging ein paar Schritte, wandte sich um. „Ich beeile mich.“
Er eilte davon, damit sie sich nicht anderweitig entschieden.

Ein Typ rempelte ihn an, zog ihn aus seiner Erinnerung. Er sah auf. Die Schönheit war verschwunden und Tina stand vor Sascha, ihre Hände an seinen Hals, und schwang im Takt der Musik ihre Hüfte. Sie presste ihm einen Kuss auf den Mund, löste sich von ihm, wandte sich ab, worauf er ihr einen Klaps auf den Hintern gab.
Es war für ihn kein außergewöhnlicher Anblick, dass Tina ihn küsste. Zu oft hatte er es gesehen, dabei Sascha mit Neid bewundert. Als Sascha ihn die Clique aufnahm, war Tina seine Perle. Er versuchte wegzuschauen, wenn Sascha sie küsste, an ihre Brüste griff oder unter ihren Rock grabschte. Es schmerzte ihn, dennoch schaute er hin, stellte sich vor, sie läge in seinen Armen. Wenn sie tanzen ging, schlich er ihr hinterher, wie in diesem Moment, diesem Augenblick. Er wandte sich kurz zu Sascha um, sah - nein, er wusste es – wie er sein Mundspray aus der Hosentasche nahm, inhalierte. Für ihn stand der Verlauf der Nacht fest: anbaggern, flachlegen. Vielleicht sann er nach, wie es am gescheitesten anstellte.
Marc grübelte, ob er mit erhobenem Haupt zu ihm schreiten sollte, ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfte und ihm wie John Wayne oder einem andern von diesen Draufgängern „Kerl, macht dir keine Gedanken, geh gleich zur Sache, die Schnalle will dich“ entgegenschleudern sollte. Er kniff. Nicht einmal das traute er sich, dafür schlich er Tina hinterher, sah, wie sie auf der Tanzfläche ihre Arme streckte, ihre Hüften schwang und geifernde Typen, sich um sie scharrten.



Anmache

Marc musste wegsehen. Er konnte es just in dem Moment nicht ertragen, wie die Kerle näher an Tina herumtanzten. Sie genoss es scheinbar, begehrt zu werden. Und er? Er hatte keinen Mumm, auf die Tanzfläche zu gehen, sich an sie heranzumachen, denn ihre Reaktion stand für ihn fest.
„Zieh Leine, du Pisser“, hörte er sie, ohne dass sie es aussprach. Wie auch, sie war viel zu weit weg. Dafür spürte er Igors Pranke an seinen Kragen, seine donnernde Stimme: „Habe dir gesagt, ich habe dich im Visier.“
Dabei war Sascha an allen Schuld. Quatsch! Weshalb gab er jemanden die Schuld, der keine hatte? Sascha ging einfach seinen Trieben nach, dachte bestimmt nicht einmal darüber nach, welche Konsequenzen daraus sich zogen. Nein. Er selbst war es, der alles angestoßen hatte. Wäre er nicht auf die blöde Idee gekommen, nach dem Training die Rudermaschine zu entern, dann hätte er ihn sicher nie getroffen, nie ein Wort mit ihm gewechselt.

„Bist wohl schwul, was?“
Marc kniff ein Auge zu und wandte sich dem Muskelpaket zu, der auf einer Hantelbank lag und das Gewicht stemmte.
„Nee.“
„Warum hobst du dann mit den Weibern rum?“
„Woher weißt du das?“
„Hab’s durchs Fenster gesehen.“
Marc deute zum Fitnessraum. „Hey, da stand nur für Frauen.“
„Und?“
„Weshalb stellt man ein Schild auf, damit nicht irgendwelche geifernde Kerle sich ihre Nase an der Scheibe platt drücken oder putz du sie dann.“
„Glaubst du, ich laufe außen herum, um auf den Pott zu gehen, nur weil so’ne Emanze ein Schild abstellt. Bist wohl’ne Transe, was?“
„Weder das eine noch das andere.“
Er wäre für ihn der Augenblick gewesen, aufzustehen und dieser Dumpfbacke den Rücken zu kehren. Verstehen konnte er es sowieso nicht. Was ihn getreten hatte, es ihm plausibel zu machen, wusste er nicht mehr. Vielleicht schämte er sich.
„Hör mal. Was siehst du, wenn du deine Hantel stemmst.“
Marc sah, wie er die Stirn runzelte, sein Gesicht der Hantel zuwandte. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Was sehe ich? Weswegen hast du durchs Fenster geglotzt?“
„Geil. Titten und Ärsche.“
„Bingo. Du bist ja ein echter Blitzmerker.“
Spätestens in dieser Sekunde, wäre für ihn die Zeit gekommen, den Typen zu verlassen.
„Kann man da mitmachen?“
Marc kicherte. „Bist du eine Frau?“
„Sehe ich so aus?“
„Siehst, Pech gehabt.“
„Bist doch’ne Transe.“
„Sehe ich so aus?“
„Was weiß ich, wie du den Laden verlässt?“
„Zu Fuß.“
Der Typ lachte, schnarrte: „Witzbold“, und streckte ihm seine Hand entgegen. „Sascha.“
„Marc.“
Ob es daran lag, dass Sascha es mit Humor auffasste oder daran, dass er jedem, der es hören wollte oder nicht, seine Genialität aufs Auge zudrücken, verdrängte er im Nachhinein. Jedenfalls öffnete er den Mund und spie ein knappes „Bier“ hinaus.
„Alkoholfrei.“
„Musst noch fahren.“
Sascha zuckte. „Nee.“

Marc schob seinen Hintern auf einen der Barhocker, während Sascha neben ihm Platz nahm, zwei Alkoholfreie orderte, sodann sich ihm zuwandte. „Du bist nicht schwul, keine Transe, trotzdem glotze den Schnecken in den Ausschnitt.“
„Na ja, glotzen ist übertrieben. Er lässt sich eben nicht verhindern.“
„Und die Schnallen haben nichts dagegen?“
„Nee, außerdem bin ich ‚Honorary member‘.“
„Gibt’s das auch auf Deutsch?“
„Ehrenmitglied.“
Sascha lachte, schnappte sich sein Bier und überreichte Marc das zweite. „Mitglied ist gut, ohne kannst du sie ja schlecht beglücken.“
„Woran denkst du?“
Sascha zuckte zurück. „Bist doch schwul.“
„Jetzt höre mit diesem Bullshit auf. Die Mädels und ich sind Freunde.“ Er stieß seine Flasche gegen Saschas. „Gehst du mit Freunden in die Kiste?“



Staatsanwalt

Marc war derart in seiner Erinnerung versunken, dass er nicht bemerkt hatte, wie Tina die Tanzfläche verlassen hatte. Jedenfalls sah er sie nicht mehr. Er schaute sich um, erblickte sie, zumindest ihr Kleid, ihren entzückenden Rücken. Ein Typ umschlang ihren Körper, knete ihr Gesäß, leckte ungeniert ihren Hals, bis sie sich heraus wandte und ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund hämmerte. Sie umfasste seine Taille, während er einen Arm, als gehöre sie ihm, auf ihre Schultern legte, woraufhin beide gen Theke schlenderten.
Ob die Erleichterung, die Marc empfand, seine Enttäuschung vollständig besiegte oder bloß in den Hintergrund stelle, wusste er nicht. Natürlich war er darüber enttäuscht. Insgeheim hatte er gehofft, dass sie sich an ihn heranpirschte, umgarnte, auserwählte. Er war ein Luser, ein Nichts. Dennoch überwog die Erleichterung. Zumindest machte sie sich nicht an Sascha heran. Vielleicht hatte er ihr sogar einen Korb gegeben.
Marc betrachtet ihren Auserwählten. Er schätze ihn auf Mitte vierzig, trotzdem durchtrainiert. Ihr neuer Macker überragte sie um gut anderthalb Köpfe, steckte in einem feinen Zwirn und präsentierte seine strahlend weißen Zähne, als er sich flüchtig umwandte. Vom Anzug her schob er ihn in den Bereich Finanzen – Typ Ausbeuter – oder Ganove. Da Marc jedoch wusste, dass der erste Schein meist trog, revidierte er seine Annahme und stempelte ihn den Beruf Anwalt, Staatsanwalt auf.
Ein Staatsanwalt wäre genau der Richtige für Tina. „Beamte sind seriös, geben Halt“, murmelte er, „dazu gut aussehend.“ Einen besseren Fang konnte sie nicht aus dem Teich ziehen.

Tina schob ihren Stuhl näher an den Caféhaustisch heran. „Sie mag dich.“
Marc starrte Tina an. „Äh!“
„Hey, Minu ist eine Schnattertante, kriegt normalerweise ihr Maul nicht zu. Wenn sie still ist, dann hat das meist nur einen Grund. Also, wenn ich keinen Macker hätte, damit in festen Händen wäre … na ja, du bist schon ein guter Fisch.“
„Fisch?“
„Fang eben. Bist zwar schmächtig, aber du hast Manieren und sicherlich etwas unter dem Pony. Du bist sicher Anwalt“, sie klopfte auf den Tisch, „Staatsanwalt. Weißt du, Frauen stehen darauf. Beamte sind seriös, geben Halt.“
Machte sich Tina über ich ihn lustig, nahm sie ihn hoch. Er rutschte nervös mit dem Hintern über die Sitzfläche seines Stuhls. Hätte er Chancen bei ihr, wenn sie nicht mit diesem Sascha zusammen wäre? Wenngleich? Minu war schon ein heißer Feger. Dabei stand er eher auf breite Hüften und pralle Brüste, wie Tina sie ihr Eigen nannte. Minu war eine Gesamtkomposition: ihr Lächeln, ihre Gestik, ihre Mimik, zum Dahinschmelzen.
Marc senkte den Kopf. „Meinst du wirklich Minu … du weißt. Aber ich bin kein Staatsanwalt.“
„Was dann?“
„Administrator.“
„Hört sich nach etwas an. Wenn ich dir es sage, dann ist es so.“
„Weiß nicht.“
„Hey, ich bin eine Frau und als Frau weiß ich wohl, auf welch Typ wir stehen.“
„Ich meinte meinen Beruf.“
Tina winkte ab. „Unwichtig. Ich würde mir, wenn ich mir einen Mann aussuchen würde, einen Staatsanwalt angeln. Minu steht eher auf“, sie lächelte, „Administratoren.“
„Woher willst du das wissen? Du kennst sie gar nicht.“
Sie hüstelte. „Na ja, also.“
„Sie ist nur eine Freundin einer Kollegin.“ Oberlehrerhaft schwang er seinen Zeigefinger. „Hast du mir vorhin erzählt.“
„Das heißt nicht, dass wir heute das erste Mal zusammen ausgehen.“
Marc nickte, gab ihr damit recht. Was ging es ihm an, mit wem Tina oder Minu ausging. Außerdem hatte Minu bestimmt einen Freund. Eine derartige Traumfrau war nicht allein.
„Minus Freund wird bestimmt etwas dagegen haben, wenn … na ja … du weißt.“
„Nee, sie ist seit Kurzem solo.“
Er wurde hellhörig. „Solo?“
„Igor war bis vor Kurzem ihr Stecher. Es gab Zoff. Der als Kumpel ist in Ordnung, aber mehr …“
Die Augen geschlossen, knetete Marc sein Kinn. „Igor? Kumpel?“
„Zum Saufen und so, aber mehr … weißt du, Minu war gerade bei ihm eingezogen, da kommt sie nach Hause und er vögelt eine andere. Was macht er, fragt sie, ob sie nicht mitmachen wolle. Den Schwanz hätte ich ihm abgeschnitten.“
Er schluckte. „Was hat sie getan?“
„Ist gegangen. Hat bei mir angeklopft.“

Tina streckte sich. „Sie kommt vom Klo. Kein Wort zu ihr. Ich habe dir nichts gesteckt, anbaggern musst du sie selbst.
Minu ging an ihm vorbei, stellte sich an Tinas Rücken und massierte deren Nacken.
Marc fasste Mut. „Minu, noch eine Nussecke, ein Kakao?“
„Danke“, flüsterte sie, „aber ich bin müde.“ Sie lehnte sich vor. Ihre Hände glitten über Tinas Brust, bis ihr Kinn deren Haar berührte. „Lass uns fahren.“
Tina wandte ihren Kopf. „Mit dem Bus?“
„Wie sonst?“
„Um diese Uhrzeit?“
Die Situation erfassend, richtete sich Marc auf. „Ich kann euch fahren.“
Sich wieder ihm zuwendend, blinzelte Tina ihn an. „Würdest du das machen?“
An alles hätte er gedacht, als er am späten Abend sein Heim verlassen hatte, jedoch nicht, dass Tina ihn verkuppeln würde. Sollte er diese Einladung annehmen? Was passierte, wenn er einen Fehler machte? Minu doch nicht bereit war oder weitaus schlimmer, sie von ihm verlangte im Auto mit ihm … Nein. Er musste es riskieren, immerhin hatte er es ihnen bereits angeboten.

Marc schaute Tina hinterher, sah, wie sie ihren Kopf an die Schulter ihres Auserwählten, ihres Mannes, legte. Sein Auftrag war erfüllt. Er hatte gelernt, dazugelernt. Sie hatte ihm gezeigt, wie trivial es war. Schlicht alle Bedenken über Bord werfen und heran an den Speck. Nicht zaudern. Er freute sich für sie. Sie hatte einen Mann für die Nacht, vielleicht sogar fürs Leben gefunden und, er amüsierte sich, Sascha war es nicht.



ENDE
Hätte, hätte, Fahrradkette
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 15299

Gast
lieber ahorn, ich fand es etwas schwierig, der geschichte zu folgen. entweder ist sie wirklich kompliziert oder uns ist was entscheidendes entgangen.
 

ahorn

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Hallo Susi M. Paul,

KOPFKINO eben. :cool:
Spaß beiseite. Eigentlich war die Szene bloß eine Charakterstudie für zwei Protagonisten, die ich in einem meiner anderen Texte benötige. Aber ihr teilweises schwachsinniges Gelaber hat mich dazu bewogen, es online zu stellen, da irgendwie jeder der beiden in seiner Welt verharrt. Nicht nur dieses. Ich habe sogar ein paar Kapitel weitergesponnen – ein wenig klarer geschrieben, damit der Leser weiß, wer sie sind, was sie genauer denken, hoffen, verlangen. Mal sehen, wie die Lust, meine Zeit es zulässt. :eek:

Gruß
Ahorn
 
G

Gelöschtes Mitglied 15299

Gast
aha, dann harren wir mal der dinge, die da noch kommen sollen. in dem sinne, wie du es erklärst, hat es schon was für sich. lg
 

ahorn

Mitglied
Hallo Susi M. Paul,

habe mich durchdrungen, meinen Bregen gequetscht, nach einer Zeit der Korrektur geht es weiter. :eek:

Gruß Ahorn
 

ahorn

Mitglied
Neues Kapitel Schokolade eingefügt

Susi M. Paul, ich bedauere es, dass ihr gegangen seid. Eure romantischen Texte werden nicht nur mir, sondern, da spreche ich bestimmt auch den anderen aus dem Herzen, uns fehlen.

Liebe Grüße
Ahorn
 



 
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