Dichter Erdling
Mitglied
„Gleich ist Einlass“ informiere ich meine Begleiter.
Wartend stehen wir im Foyer des kleinen Kinos, in das sich meine Familie nur dann verirrt, wenn ich Geburtstag habe und zum Filmbrunch einlade. Da müssen sie dann informative Dokus oder Untertitel ertragen. Sie, die sie sich sonst nur für Blockbuster, das Marvel-Universum oder Krimis begeistern.
Ich sehe, extra für die Familienfeier hat sich meine Nichte Locken gedreht. Grad war sie noch ein Kind gewesen, dem ich Zöpfchen flocht, schon ist sie eine junge Frau mit Löwenmähne. Leicht genervt steht sie nun da, spielt mit ihren Acrylnägeln und wäre vermutlich lieber woanders.
Das ältere Ehepaar neben uns lächelt mir zu. Es ist so ein Lächeln, wie es zwischen Höhergebildeten oft hin und her geht um zu signalisieren, wie man freundlich neugierig ist auf alles im Leben und ich fühle mich fast schon geehrt, dass ich hier vielleicht ein bisschen dazugehöre. Er sieht aus wie ein Arzt im Ruhestand, sie wie eine alternde Lehrerin. Beide tragen sie gutsitzende Wollmäntel und karierte Schals, die bestimmt aus Kaschmir und teuer sind. Es ist ein ganz typisches Publikum für das feine Filmkunstkino, in dem ich mir oft schon den Horizont erweitern ließ.
Hinter mir, in meinem Rücken, höre ich die Eingangstür abrupt aufgehen und ich merke, der Mann, den ich für einen Arzt halte, wird blass. Er stupst seine Frau an und auch ihr fällt das Lächeln aus dem Gesicht. Vertraulich beugt sie sich zu mir herüber und fängt schon mal vorsorglich an, sich zu entschuldigen: „Entschuldigen Sie, aber dieser Mann“, sie deutet mit dem Finger in Richtung Tür, „wird vermutlich gleich einen Aufstand machen. Er hat mal für uns gearbeitet und es gab … naja, Probleme…“
Weiter kommt sie nicht, denn der Hereinkommende fängt schon an, laut zu werden.
„Hab ich euch erwischt!“, höre ich ihn herüberrufen. Sein Ton ist beängstigend kalt.
Ich drehe mich in Richtung Tür und bin erschlagen von dem Anblick, der mich erwartet. Nur in Unterhosen gekleidet steht dort ein teigiger Mitvierziger, um den Hals trägt er einen orangefarbenen Schal. Die weiße Feinrippwäsche an seinem Unterleib sieht fast wie eine Windel aus. So steht er da wie ein übergroßes Baby, dem man den Schnuller geklaut hat.
Unwillkürlich frage ich mich, was wohl vorgefallen sein mag zwischen dem gutgekleideten älteren Paar und diesem offensichtlich aufgebrachten, halbnackten Mann. Hatten die Chefs ihren Untergebenen schlecht behandelt, schlecht bezahlt, geprellt? Automatisch bin ich erst mal aufseiten des Schwächeren, also aufseiten desjenigen, der für die anderen arbeiten muss - auch wenn sein Anblick ehrlich grotesk ist.
Das Riesenbaby geht grinsend auf die alten Leutchen zu.
„Habt ihr geglaubt, dass ihr mir einfach so davonkommt? Dass ich euch nicht finde? Da habt ihr euch aber geschnitten, und ihr wisst ja, dass wir noch eine Rechnung offen haben…“
Der angesprochene Arzt-Typ versucht, besänftigend auf den Halbnackten einzureden. „Jetzt bleiben wir ruhig und reden über alles, in Ordnung? Aber nicht hier, nicht vor all den Leuten…“
„Vergiss es, geredet wurde genug! Das bringt nix bei euch, dafür ist es zu spät! Jetzt müssen Taten folgen!“ Den letzten Satz schreit er regelrecht heraus. „Oder sag bloß, ich bin dir peinlich? Ist es dir peinlich hier mit mir, so in aller Öffentlichkeit? Hab ich dich etwa blamiert? Ich dich? Blamiert?!“ – seine Stimme überschlägt sich - „Ich zeig dir, was blamiert bedeutet!“
Daraufhin reißt sich der Halbnackte den Schal vom Hals und fängt an, sich den orangefarbenen Stoff wie wild durch den Schritt zu ziehen. „Jaaa, schaut nur alle her! Soooo peinlich für den feinen Herrn! Ist gar nicht so fein, der gemeine Halsabschneider! Seine Alte übrigens auch nicht“ – der Blick des Gewindelten bohrt sich grimmig in besagte Frau, die beschämt auf den Boden schaut.
Nach diesem Ausbruch scheint den Windeltyp die Wut wieder zu verlassen. Er sackt zusammen und zuckt die Schultern, schimpft noch ein wenig, dann wendet er sich zum Gehen.
Einmal noch dreht er sich um, hebt anklagend den Zeigefinger und schüttelt den Kopf.
Einigermaßen ratlos bleiben wir alle zurück und wissen nicht so recht, was dieser Auftritt eigentlich sollte.
Ein Raunen geht durchs Foyer.
„Tut uns wirklich sehr leid, dass Sie das mit ansehen mussten“, richtet der Arzt-Typ das Wort schließlich an die Umstehenden. „Wie Sie vermutlich mitbekommen haben, handelt es sich bei diesem Herrn, den Sie soeben kennengelernt haben, um einen äußerst schwierigen Charakter. In der Vergangenheit hatten wir des Öfteren schon Probleme mit ihm. Ich hoffe, wir lassen uns von dem kleinen Zwischenfall nicht den Tag verderben…“
Seine Frau lächelt verständnisheischend herüber.
Später kommt jemand von der Kino-Leitung und fragt, ob alles okay ist.
„Das sind ja ziemlich Verrückte, die in deinem Kino herumlaufen“ flüstert mir Mutter zu. Meine Schwester hat bloß pikiert die Augenbrauen hochgezogen. Jetzt kann sie sich nochmal besser vorkommen als die Studierten, die hier ein und aus gehen.
„Sieh nur, der Saal wird geöffnet“ antworte ich. Die Wartenden fangen an, sich langsam nach ebenda aufzumachen.
„Und wenn der Wahnsinnige wiederkommt?“ fragt meine Schwester. Sie sieht vermutlich eine Chance, der Filmvorführung, auf die sie nicht grade scharf ist, zu entgehen.
„Blödsinn, der kommt nicht wieder!“ gebe ich mich zuversichtlich und versuche, meine Gruppe ebenfalls in den Kinosaal zu dirigieren. Wir sind so ziemlich die letzten, die noch unentschlossen dastehen.
Während wir uns auf den Saal zubewegen, fliegt schon wieder die Eingangstür auf. Ziemlich heftig diesmal.
Mir kommt vor, jetzt lächelt der Unterhosenmann noch ein bisschen irrer. Den Schal hat er nicht mehr um. Irgendwas hält er hinter seinem Rücken versteckt.
Blöderweise stehen wir schon wieder neben diesem Ehepaar, mit dem der Irre einen Wickel hat.
„Jetzt wird es ernst“ hebt der Halbnackte erneut an und geht direkt auf uns zu, „jetzt bringen wir es zu Ende, nicht wahr? Jetzt lassen wir Taten folgen… Also, wer will der Erste sein?“
Fragend schaut er in die Runde und holt die Pistole hinter seinem Rücken hervor. Dann geht alles blitzschnell.
„DU!“ sagt er, plötzlich wild entschlossen, und zielt aus nächster Nähe mit der Waffe auf den Kopf meiner Nichte. Kein bisschen zögert er. Drückt ab, es knallt sehr laut. Ich sehe, wie mein Mädchen, mein kleines Mädchen: umfällt. Sie, diese wunderschöne junge Frau, ich sehe sie, ihren Körper, ihren Kopf, sehe sie fallen, sehe ihre aufgefächerten Locken am Boden liegen. Es sind nur Sekunden, die alles verändern. Mein Mädchen regt sich nicht, nicht mehr.
Auch ich kann mich nicht bewegen, nicht mal schreien kann ich.
„Der Nächste, bitte!“ schallt es höhnisch aus dem Mann mit der Waffe.
Der Unterhosentyp verliert keine Zeit. Er scheint nun besorgniserregend ruhig und fackelt nicht lang.
Er grinst mich an, ja, MIR direkt ins Gesicht, und ehe ich mich versehe, hat er mich auch schon am Hinterkopf gepackt. Den Lauf der Pistole drückt er mir hart gegen die Schläfen.
Mir ist klar, dass er vermutlich einen nach dem anderen abknallen wird, jeden einzelnen in diesem Kino, wenn ihn nicht jemand aufhält. Jemand muss ihn doch aufhalten! - denk ich mir. Ich bin sowieso dran und habe nichts mehr zu verlieren, darum… Ich muss es versuchen.
Damit, dass ich mich wehre, hat der Halbnackte offenbar nicht gerechnet. Tatsächlich schaffe ich es, seine Hand zu packen, in der er die Pistole hält. Mit voller Kraft drehe ich den Lauf von mir weg, weg von meinem Kopf, keine Ahnung wohin, ich glaube, hinter mich.
Hinter mir steht der Rest meiner Familie. Wenn der Typ jetzt abdrückt, erwischt es einen von denen und ich bin schuld daran, diesen Gedanken habe ich noch. Aber der Irre drückt nicht ab, warum auch immer. Wir kämpfen, wir schreien, wir beide.
Ich merke, wie den Halbnackten schon wieder die Kraft verlässt. Gar nicht fest liegt die Waffe in seiner Hand, vielmehr schlaff scheint mir diese. Ich weiß nicht wie, ich bin nicht stark, aber es gelingt mir, dem Angreifer die Pistole zu entreißen wie im Film.
Jetzt haben wir die Rollen getauscht. Jetzt stehe ich da und ziele auf seinen Kopf.
Das Seltsame ist, der Unterhosentyp hört gar nicht auf zu grinsen.
Als wolle er sagen: „Traust dich ja doch nicht!“ oder „Du weißt ja gar nicht, wie man schießt“, da drücke ich ab. Es knallt sehr laut, die Kugel trifft ihn genau in die Stirn, da ist Blut, es ist sehr rot, ich sehe es.
Aber nicht fällt das Riesenbaby auf den Boden wie mein Mädchen. Nicht macht es irgendwelche Anstalten, k.o. zu gehen.
Der Irre grinst nur noch breiter, steht da wie ein Bock und dann spuckt er etwas wie einen Kirschkern in seine Hand. Es ist eine Patrone, die er mir triumphal präsentiert.
Sein Lachen wird laut und – ich fasse es nicht - auch meine Mutter, meine Schwester und all die anderen stimmen mit ein.
Nachdem sie vom Boden wieder aufgestanden ist, lacht meine Nichte ebenfalls. Dabei zupft sie sich ihre Locken zurecht.
Der Unterhosenmann will mich großmütig aufklären.
„War alles nur gespielt“ sagt er mir und glaubt wohl, dass ich ihm nach dieser Mitteilung erleichtert um den Hals falle.
Ich bin fassungslos, versteinert.
„Die ist nicht echt“ deutet er auf die die Waffe in meiner Hand. Und wirklich, auf einmal kommt mir das Teil viel zu leicht vor, wie ein Spielzeug eben.
Nur langsam realisiere ich, was da grad abgegangen ist.
Ich drehe mich zu den Leuten um, die mich allesamt nur verarscht haben und ich schwöre, wäre die Pistole in meiner Hand keine Attrappe, ich würde sie am liebsten alle erschießen, aber in echt jetzt.
Der Windeltyp redet, redet, doch ich höre seine Erklärungen nicht.
„Ich solle nicht allzu verärgert sein“ und so unsinnige Wortfetzen dringen an mein Ohr.
Mein Blick fällt auf die Überwachungskamera, die über uns hängt.
Es ist mir egal, ob das Ganze ein Gag für die „Versteckte Kamera“, fürs Internet oder sonst was war. Aufgezeichnet ist es allemal.
Immer noch ungläubig schaue ich in die Gesichter meiner Begleiter. „Ihr… ihr habt es alle gewusst…“ stammle ich. Meine Nichte, der langsam dämmert, dass sie zu weit gegangen sind, schaut mich schon nicht mehr an. „Du auch?“ frage ich ungläubig, vorwurfsvoll. Sie vergräbt die Hände in ihren Jeans. Mutter schweigt ebenfalls.
„Jetzt hab dich nicht so!“ sagt indes meine Schwester, die es immer ganz toll findet, in Komplizenschaft gegen mich zu gehen. „Ist ja nix passiert. Keiner ist gestorben…“ versucht sie zu bagatellisieren, aber in mir stirbt grade was.
Wie sie alle dastehen und mich anstarren, mich mustern, sie hatten mich schon die ganze Zeit über beobachtet, abgewartet. Sie wussten, was kommt.
„Ihr habt ja alle einen Kopfschuss!“ richte ich den Vorwurf zunächst ganz allgemein an die Anwesenden.
Der Windeltyp ist von Schuldbewusstsein noch sehr weit weg. Immer noch grinst und redet er, ich weiß nicht was. Ich schaue ihm ins Gesicht und spüre die heißen Tränen in mir aufsteigen. Es ist Wut, es sind hässliche Gefühle. Verraten, allein, erniedrigt, so fühle ich mich. Ich bin echt am Ende.
„Ist das etwa Spaß für Sie? Oder ist es ein Experiment? Ist es das, was Sie unter Wissenschaft verstehen? Oder soll das sowas wie Performance-Kunst gewesen sein?!“ Am liebsten würde ich ihm die lächerliche Feinripphose auch noch runterreißen. Meine Stimme überschlägt sich so ähnlich wie vorher beim Windeltyp selbst, als er noch in seiner Rolle war. Nun sieht er mich mit einer Langmut an, die mich rasend macht.
Die Gedanken fliegen gar zu schnell durch meinen Kopf, als dass ich die rechten Worte einfangen könnte. Das ärgert mich nur noch mehr. Ich möchte dem Kerl begreiflich machen, was er soeben angerichtet hat.
„Sie wissen ja gar nicht, was Sie da angerichtet haben! In mir! Ich meine, ich, ich bin diejenige, die Leute hierherbringt, die sonst nicht kommen würden… Ich bin die, die hier immer…“ Mist, die Stimme bricht mir weg.
„Und warum ich? Haben Sie mich ausgelost aber haben Sie sich Ihr Opfer bewusst ausgesucht? Jemanden, den Sie schön fertig machen können? Jemanden wie mich? Der nirgendwo richtig dazugehört? Der sowieso unsicher ist…“
Mir kommt vor, das Grinsen von dem Typ ist nicht mehr ganz so unverschämt hochgemut, dennoch beschwichtigt er weiter. Er hört nicht auf. Ich glaube nicht, dass er meine Fragen beantwortet. Bloß Blabla kommt aus seinem Mund. Meine Familie steht nur so da.
Und ich, ich will eigentlich nur noch weg.
Mir wird klar, dass genau dieser Moment jetzt der eigentlich interessante für diese Leute ist. Wie ich reagiere, nachdem ich die Verarsche erkannt habe: Darum geht es im Eigentlichen. Je mehr ich mich aufrege, je mehr ich in Rage gerate, umso informativer wird es für die Sadisten, die sich das hier ausgedacht haben. Ich bin hier nur das Objekt in einer Versuchsanordnung, es ist unmenschlich. Sie hören nicht, was ich sage; sie studieren vor allem mein Verhalten. Machen Häkchen hinter Kategorien wie „Lautstärke“, „Körpersprache“ oder zählen Kraftausdrücke, die mir eventuell entfleuchen.
„Eins sag ich Ihnen: Das war heute das letzte Mal, dass Sie mich gesehen haben. NIE WIEDER werde ich hierherkommen. NIEMALS WIEDER!!!“
Es ist mir bewusst, dass ich mittlerweile kreische wie eine Furie, aber ich kann nicht anders.
Der Windelmann will mich noch aufhalten, aber das schafft er nicht mehr. Ich schmeiße ihm die falsche Waffe vor die Füße und heule los, noch ehe ich aus der Tür draußen bin. Ich hätte ihm noch so vieles sagen wollen.
Wartend stehen wir im Foyer des kleinen Kinos, in das sich meine Familie nur dann verirrt, wenn ich Geburtstag habe und zum Filmbrunch einlade. Da müssen sie dann informative Dokus oder Untertitel ertragen. Sie, die sie sich sonst nur für Blockbuster, das Marvel-Universum oder Krimis begeistern.
Ich sehe, extra für die Familienfeier hat sich meine Nichte Locken gedreht. Grad war sie noch ein Kind gewesen, dem ich Zöpfchen flocht, schon ist sie eine junge Frau mit Löwenmähne. Leicht genervt steht sie nun da, spielt mit ihren Acrylnägeln und wäre vermutlich lieber woanders.
Das ältere Ehepaar neben uns lächelt mir zu. Es ist so ein Lächeln, wie es zwischen Höhergebildeten oft hin und her geht um zu signalisieren, wie man freundlich neugierig ist auf alles im Leben und ich fühle mich fast schon geehrt, dass ich hier vielleicht ein bisschen dazugehöre. Er sieht aus wie ein Arzt im Ruhestand, sie wie eine alternde Lehrerin. Beide tragen sie gutsitzende Wollmäntel und karierte Schals, die bestimmt aus Kaschmir und teuer sind. Es ist ein ganz typisches Publikum für das feine Filmkunstkino, in dem ich mir oft schon den Horizont erweitern ließ.
Hinter mir, in meinem Rücken, höre ich die Eingangstür abrupt aufgehen und ich merke, der Mann, den ich für einen Arzt halte, wird blass. Er stupst seine Frau an und auch ihr fällt das Lächeln aus dem Gesicht. Vertraulich beugt sie sich zu mir herüber und fängt schon mal vorsorglich an, sich zu entschuldigen: „Entschuldigen Sie, aber dieser Mann“, sie deutet mit dem Finger in Richtung Tür, „wird vermutlich gleich einen Aufstand machen. Er hat mal für uns gearbeitet und es gab … naja, Probleme…“
Weiter kommt sie nicht, denn der Hereinkommende fängt schon an, laut zu werden.
„Hab ich euch erwischt!“, höre ich ihn herüberrufen. Sein Ton ist beängstigend kalt.
Ich drehe mich in Richtung Tür und bin erschlagen von dem Anblick, der mich erwartet. Nur in Unterhosen gekleidet steht dort ein teigiger Mitvierziger, um den Hals trägt er einen orangefarbenen Schal. Die weiße Feinrippwäsche an seinem Unterleib sieht fast wie eine Windel aus. So steht er da wie ein übergroßes Baby, dem man den Schnuller geklaut hat.
Unwillkürlich frage ich mich, was wohl vorgefallen sein mag zwischen dem gutgekleideten älteren Paar und diesem offensichtlich aufgebrachten, halbnackten Mann. Hatten die Chefs ihren Untergebenen schlecht behandelt, schlecht bezahlt, geprellt? Automatisch bin ich erst mal aufseiten des Schwächeren, also aufseiten desjenigen, der für die anderen arbeiten muss - auch wenn sein Anblick ehrlich grotesk ist.
Das Riesenbaby geht grinsend auf die alten Leutchen zu.
„Habt ihr geglaubt, dass ihr mir einfach so davonkommt? Dass ich euch nicht finde? Da habt ihr euch aber geschnitten, und ihr wisst ja, dass wir noch eine Rechnung offen haben…“
Der angesprochene Arzt-Typ versucht, besänftigend auf den Halbnackten einzureden. „Jetzt bleiben wir ruhig und reden über alles, in Ordnung? Aber nicht hier, nicht vor all den Leuten…“
„Vergiss es, geredet wurde genug! Das bringt nix bei euch, dafür ist es zu spät! Jetzt müssen Taten folgen!“ Den letzten Satz schreit er regelrecht heraus. „Oder sag bloß, ich bin dir peinlich? Ist es dir peinlich hier mit mir, so in aller Öffentlichkeit? Hab ich dich etwa blamiert? Ich dich? Blamiert?!“ – seine Stimme überschlägt sich - „Ich zeig dir, was blamiert bedeutet!“
Daraufhin reißt sich der Halbnackte den Schal vom Hals und fängt an, sich den orangefarbenen Stoff wie wild durch den Schritt zu ziehen. „Jaaa, schaut nur alle her! Soooo peinlich für den feinen Herrn! Ist gar nicht so fein, der gemeine Halsabschneider! Seine Alte übrigens auch nicht“ – der Blick des Gewindelten bohrt sich grimmig in besagte Frau, die beschämt auf den Boden schaut.
Nach diesem Ausbruch scheint den Windeltyp die Wut wieder zu verlassen. Er sackt zusammen und zuckt die Schultern, schimpft noch ein wenig, dann wendet er sich zum Gehen.
Einmal noch dreht er sich um, hebt anklagend den Zeigefinger und schüttelt den Kopf.
Einigermaßen ratlos bleiben wir alle zurück und wissen nicht so recht, was dieser Auftritt eigentlich sollte.
Ein Raunen geht durchs Foyer.
„Tut uns wirklich sehr leid, dass Sie das mit ansehen mussten“, richtet der Arzt-Typ das Wort schließlich an die Umstehenden. „Wie Sie vermutlich mitbekommen haben, handelt es sich bei diesem Herrn, den Sie soeben kennengelernt haben, um einen äußerst schwierigen Charakter. In der Vergangenheit hatten wir des Öfteren schon Probleme mit ihm. Ich hoffe, wir lassen uns von dem kleinen Zwischenfall nicht den Tag verderben…“
Seine Frau lächelt verständnisheischend herüber.
Später kommt jemand von der Kino-Leitung und fragt, ob alles okay ist.
„Das sind ja ziemlich Verrückte, die in deinem Kino herumlaufen“ flüstert mir Mutter zu. Meine Schwester hat bloß pikiert die Augenbrauen hochgezogen. Jetzt kann sie sich nochmal besser vorkommen als die Studierten, die hier ein und aus gehen.
„Sieh nur, der Saal wird geöffnet“ antworte ich. Die Wartenden fangen an, sich langsam nach ebenda aufzumachen.
„Und wenn der Wahnsinnige wiederkommt?“ fragt meine Schwester. Sie sieht vermutlich eine Chance, der Filmvorführung, auf die sie nicht grade scharf ist, zu entgehen.
„Blödsinn, der kommt nicht wieder!“ gebe ich mich zuversichtlich und versuche, meine Gruppe ebenfalls in den Kinosaal zu dirigieren. Wir sind so ziemlich die letzten, die noch unentschlossen dastehen.
Während wir uns auf den Saal zubewegen, fliegt schon wieder die Eingangstür auf. Ziemlich heftig diesmal.
Mir kommt vor, jetzt lächelt der Unterhosenmann noch ein bisschen irrer. Den Schal hat er nicht mehr um. Irgendwas hält er hinter seinem Rücken versteckt.
Blöderweise stehen wir schon wieder neben diesem Ehepaar, mit dem der Irre einen Wickel hat.
„Jetzt wird es ernst“ hebt der Halbnackte erneut an und geht direkt auf uns zu, „jetzt bringen wir es zu Ende, nicht wahr? Jetzt lassen wir Taten folgen… Also, wer will der Erste sein?“
Fragend schaut er in die Runde und holt die Pistole hinter seinem Rücken hervor. Dann geht alles blitzschnell.
„DU!“ sagt er, plötzlich wild entschlossen, und zielt aus nächster Nähe mit der Waffe auf den Kopf meiner Nichte. Kein bisschen zögert er. Drückt ab, es knallt sehr laut. Ich sehe, wie mein Mädchen, mein kleines Mädchen: umfällt. Sie, diese wunderschöne junge Frau, ich sehe sie, ihren Körper, ihren Kopf, sehe sie fallen, sehe ihre aufgefächerten Locken am Boden liegen. Es sind nur Sekunden, die alles verändern. Mein Mädchen regt sich nicht, nicht mehr.
Auch ich kann mich nicht bewegen, nicht mal schreien kann ich.
„Der Nächste, bitte!“ schallt es höhnisch aus dem Mann mit der Waffe.
Der Unterhosentyp verliert keine Zeit. Er scheint nun besorgniserregend ruhig und fackelt nicht lang.
Er grinst mich an, ja, MIR direkt ins Gesicht, und ehe ich mich versehe, hat er mich auch schon am Hinterkopf gepackt. Den Lauf der Pistole drückt er mir hart gegen die Schläfen.
Mir ist klar, dass er vermutlich einen nach dem anderen abknallen wird, jeden einzelnen in diesem Kino, wenn ihn nicht jemand aufhält. Jemand muss ihn doch aufhalten! - denk ich mir. Ich bin sowieso dran und habe nichts mehr zu verlieren, darum… Ich muss es versuchen.
Damit, dass ich mich wehre, hat der Halbnackte offenbar nicht gerechnet. Tatsächlich schaffe ich es, seine Hand zu packen, in der er die Pistole hält. Mit voller Kraft drehe ich den Lauf von mir weg, weg von meinem Kopf, keine Ahnung wohin, ich glaube, hinter mich.
Hinter mir steht der Rest meiner Familie. Wenn der Typ jetzt abdrückt, erwischt es einen von denen und ich bin schuld daran, diesen Gedanken habe ich noch. Aber der Irre drückt nicht ab, warum auch immer. Wir kämpfen, wir schreien, wir beide.
Ich merke, wie den Halbnackten schon wieder die Kraft verlässt. Gar nicht fest liegt die Waffe in seiner Hand, vielmehr schlaff scheint mir diese. Ich weiß nicht wie, ich bin nicht stark, aber es gelingt mir, dem Angreifer die Pistole zu entreißen wie im Film.
Jetzt haben wir die Rollen getauscht. Jetzt stehe ich da und ziele auf seinen Kopf.
Das Seltsame ist, der Unterhosentyp hört gar nicht auf zu grinsen.
Als wolle er sagen: „Traust dich ja doch nicht!“ oder „Du weißt ja gar nicht, wie man schießt“, da drücke ich ab. Es knallt sehr laut, die Kugel trifft ihn genau in die Stirn, da ist Blut, es ist sehr rot, ich sehe es.
Aber nicht fällt das Riesenbaby auf den Boden wie mein Mädchen. Nicht macht es irgendwelche Anstalten, k.o. zu gehen.
Der Irre grinst nur noch breiter, steht da wie ein Bock und dann spuckt er etwas wie einen Kirschkern in seine Hand. Es ist eine Patrone, die er mir triumphal präsentiert.
Sein Lachen wird laut und – ich fasse es nicht - auch meine Mutter, meine Schwester und all die anderen stimmen mit ein.
Nachdem sie vom Boden wieder aufgestanden ist, lacht meine Nichte ebenfalls. Dabei zupft sie sich ihre Locken zurecht.
Der Unterhosenmann will mich großmütig aufklären.
„War alles nur gespielt“ sagt er mir und glaubt wohl, dass ich ihm nach dieser Mitteilung erleichtert um den Hals falle.
Ich bin fassungslos, versteinert.
„Die ist nicht echt“ deutet er auf die die Waffe in meiner Hand. Und wirklich, auf einmal kommt mir das Teil viel zu leicht vor, wie ein Spielzeug eben.
Nur langsam realisiere ich, was da grad abgegangen ist.
Ich drehe mich zu den Leuten um, die mich allesamt nur verarscht haben und ich schwöre, wäre die Pistole in meiner Hand keine Attrappe, ich würde sie am liebsten alle erschießen, aber in echt jetzt.
Der Windeltyp redet, redet, doch ich höre seine Erklärungen nicht.
„Ich solle nicht allzu verärgert sein“ und so unsinnige Wortfetzen dringen an mein Ohr.
Mein Blick fällt auf die Überwachungskamera, die über uns hängt.
Es ist mir egal, ob das Ganze ein Gag für die „Versteckte Kamera“, fürs Internet oder sonst was war. Aufgezeichnet ist es allemal.
Immer noch ungläubig schaue ich in die Gesichter meiner Begleiter. „Ihr… ihr habt es alle gewusst…“ stammle ich. Meine Nichte, der langsam dämmert, dass sie zu weit gegangen sind, schaut mich schon nicht mehr an. „Du auch?“ frage ich ungläubig, vorwurfsvoll. Sie vergräbt die Hände in ihren Jeans. Mutter schweigt ebenfalls.
„Jetzt hab dich nicht so!“ sagt indes meine Schwester, die es immer ganz toll findet, in Komplizenschaft gegen mich zu gehen. „Ist ja nix passiert. Keiner ist gestorben…“ versucht sie zu bagatellisieren, aber in mir stirbt grade was.
Wie sie alle dastehen und mich anstarren, mich mustern, sie hatten mich schon die ganze Zeit über beobachtet, abgewartet. Sie wussten, was kommt.
„Ihr habt ja alle einen Kopfschuss!“ richte ich den Vorwurf zunächst ganz allgemein an die Anwesenden.
Der Windeltyp ist von Schuldbewusstsein noch sehr weit weg. Immer noch grinst und redet er, ich weiß nicht was. Ich schaue ihm ins Gesicht und spüre die heißen Tränen in mir aufsteigen. Es ist Wut, es sind hässliche Gefühle. Verraten, allein, erniedrigt, so fühle ich mich. Ich bin echt am Ende.
„Ist das etwa Spaß für Sie? Oder ist es ein Experiment? Ist es das, was Sie unter Wissenschaft verstehen? Oder soll das sowas wie Performance-Kunst gewesen sein?!“ Am liebsten würde ich ihm die lächerliche Feinripphose auch noch runterreißen. Meine Stimme überschlägt sich so ähnlich wie vorher beim Windeltyp selbst, als er noch in seiner Rolle war. Nun sieht er mich mit einer Langmut an, die mich rasend macht.
Die Gedanken fliegen gar zu schnell durch meinen Kopf, als dass ich die rechten Worte einfangen könnte. Das ärgert mich nur noch mehr. Ich möchte dem Kerl begreiflich machen, was er soeben angerichtet hat.
„Sie wissen ja gar nicht, was Sie da angerichtet haben! In mir! Ich meine, ich, ich bin diejenige, die Leute hierherbringt, die sonst nicht kommen würden… Ich bin die, die hier immer…“ Mist, die Stimme bricht mir weg.
„Und warum ich? Haben Sie mich ausgelost aber haben Sie sich Ihr Opfer bewusst ausgesucht? Jemanden, den Sie schön fertig machen können? Jemanden wie mich? Der nirgendwo richtig dazugehört? Der sowieso unsicher ist…“
Mir kommt vor, das Grinsen von dem Typ ist nicht mehr ganz so unverschämt hochgemut, dennoch beschwichtigt er weiter. Er hört nicht auf. Ich glaube nicht, dass er meine Fragen beantwortet. Bloß Blabla kommt aus seinem Mund. Meine Familie steht nur so da.
Und ich, ich will eigentlich nur noch weg.
Mir wird klar, dass genau dieser Moment jetzt der eigentlich interessante für diese Leute ist. Wie ich reagiere, nachdem ich die Verarsche erkannt habe: Darum geht es im Eigentlichen. Je mehr ich mich aufrege, je mehr ich in Rage gerate, umso informativer wird es für die Sadisten, die sich das hier ausgedacht haben. Ich bin hier nur das Objekt in einer Versuchsanordnung, es ist unmenschlich. Sie hören nicht, was ich sage; sie studieren vor allem mein Verhalten. Machen Häkchen hinter Kategorien wie „Lautstärke“, „Körpersprache“ oder zählen Kraftausdrücke, die mir eventuell entfleuchen.
„Eins sag ich Ihnen: Das war heute das letzte Mal, dass Sie mich gesehen haben. NIE WIEDER werde ich hierherkommen. NIEMALS WIEDER!!!“
Es ist mir bewusst, dass ich mittlerweile kreische wie eine Furie, aber ich kann nicht anders.
Der Windelmann will mich noch aufhalten, aber das schafft er nicht mehr. Ich schmeiße ihm die falsche Waffe vor die Füße und heule los, noch ehe ich aus der Tür draußen bin. Ich hätte ihm noch so vieles sagen wollen.