Hallo Ubertas,
ich habe dein Gedicht bereits mehrfach gelesen, aber es fiel mir zunächst schwer, einen Zugang zu finden. Deshalb ließ ich es zunächst ruhen, aber nun fühle ich mich ihm besser gewappnet
Es handelt sich bei deinem Text meiner Wahrnehmung nach um ein Gedicht, welches eher zum Fühlen als zum Durchdenken einlädt, was aber nicht bedeutet, es hätte keine interne Logik, welche den Betrachter an die Hand nimmt.
Bei der Betrachtung ist mir zunächst die interessante "personelle" Gestaltung deines Textes aufgefallen, dargestellt durch verschiedene Pronomen bzw. Possessivartikel. Zur besseren Übersicht nehme ich mir einmal die Freiheit heraus, diese zu markieren:
es zog mich
in die stunde
deines sternenkranzes
du nahmst mich
aus den reihen
wie hände
sich aus staub
ein windstrich
ließ dich liegen
er brach
dein blaues leuchten
wie mich
in deinen grund
Durch diese Hervorhebungen fällt dem geneigten Leser sofort ins Auge, dass das Lyrische Ich sich nie in Subjektform verortet, sondern sich nur dreimal in der passiven Rolle eines Akkusativobjektes wiederfindet. Dadurch und durch die Wortwahl (
sternenkranz, staub, win, leuchten, grund) entsteht zwangläufig der Eindruck, dass das Lyrische Ich ein nicht aktiver Teil in einem größeren Gebilde ist, wobei es zwischen Gefährdung und Geborgenheit zu changieren scheint.
Dieser größere Kosmos ist auch rahmenbildend für das gesamte Gedicht - diese Rahmen sind übrigens ein Merkmal deiner Lyrik, welches mir immer wieder äußerst positiv auffällt). So beginnt der Text mit dem Personalpronomen
es - deutbar möglicherweise im Sinne Sigmund Freuds als Unbewusstes, Triebhaftes, teilweise gar Negatives. Aber das glaube ich bei deinem Gedicht nicht. Ich lese in deinem
es viel eher etwas im positiven Sinne Übergeordnetes, beschreibbar mit den Worten
ewig, universell, vielleicht auch
göttlich, wenn man das will. Für diese Interpretation spricht das Bild des
sternenkranzes, welcher das Haupt Marias zierend in der christlichen Ikonografie ein Symbol ihrer
immaculata conceptio, also ihrer unbefleckten Empfängnis ist. Dies deckt sich mit meiner Deutung, dass in deinem Gedicht eine übergeordnete Ebene angesprochen wird, denn diese Reinheit Marias verweist ja gerade darauf, dass wir es hier mit einer Person zu tun haben, welche zwar auf dem (Ab-)grund der Erde wandelt, zugleich aber über ihn erhaben ist.
Überdies sind
Sterne natürlich auch lokal zu verorten: nämlich über dem Irdischen, also im Himmlischen. Und genau in diesen Kosmos fühlt sich das Lyrische Ich in deinem Gedicht
gezogen.
Der von mir beobachteten Rahmen eröffnet sich also mit diesem übergeordneten Bild - und er schließt sich lokal gesehen im genauen Gegenteil:
in deinen grund. So bildet sich dein Gedicht also zwischen diesen zwei Polen ab und mir stellt sich die Frage: Was liegt dazwischen? Gibt es einen Fall aus dem kosmischen Gefüge, oder ist der
grund hier anders zu interpretieren?
Dieser Frage nachgehend fällt auf, dass nun die Person
du ins Spiel gebracht wird. So wird bereits der
sternenkranz mit der possessiven Form von
du versehen, was den Schluss nahelegt, dass die kosmische Übergeordnetheit vom Lyrischen Ich nicht wirklich der Geborgenheit des Universums gilt, sondern dass diese in eine andere, vollkommen irdische Person hineinprojiziert wird. Dies muss keineswegs negativ gemeint sein, sondern lässt darauf schließen, dass im Gedicht der Gedanke angelegt ist, dass die kosmische Ordnung (es ist schwer, dafür einen adäquaten Namen zu finden: ich könnte es auch
Sinn, Göttlichkeit oder
Liebe nennen) im Menschen selbst angelegt ist, vor allem in Form von Liebe.
Dabei geht das Lyrische Ich aber vollkommen in diesem anderen Menschen bzw. in der Liebe auf, gekennzeichnet wie schon gesagt durch die Passivität der Akkusativobjekte.
Außerdem muss es um die Verfasstheit des Lyrischen Ichs in seiner Vergangenheit vor der Aufnahme durch das
du schlecht gestanden haben, da es aus dem
Staub gehoben werden musste:
du nahmst mich
aus den reihen
wie hände
sich aus staub
Zudem könnte man diese Passage auch als eine Art Befreiung deuten, denn die
reihen sind Möglicherweise festgefahrene gesellschaftliche Strukturen, welche durch die neue Geborgenheit der Liebe aufgebrochen und damit endlich verlassen werden konnten. In diesem Abschnitt spiegelt sich auch wieder christliche Metaphorik wider, denn die Liebe fungiert hier wie ein göttlicher Akt, der aus Unbelebten Lebendiges macht und ihm seinen Atem einhaucht.
Dann kommt der Bruch im Gedicht, auch dargestellt durch eine grammatische Trennung zwischen Vers 7 und 8.
sich aus staub
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ein windstrich
ließ dich liegen
Zuerst hatte ich hier ein Enjambement oder ein Apokoinu erwartet, um diese Zeilen zu verbinden. Ja, als Leser wollte ich das sogar, denn es fällt mir nun schwer, zu akzeptieren, dass der so wertvoll konstruierte Kosmos mit dem Verlust oder gar dem Tod des
Dus auch dahinsterben soll. Aber tut er das wirklich? Wir schauen weiter.
ein windstrich
ließ dich liegen
er brach
dein blaues leuchten
wie mich
in deinen grund
Ja, würde ich sagen, er tut es im gewissen Maße. Wie bei
Romeo und Julia sehen wir hier im Gedicht die innigste Verbindung zweier Menschen - obwohl nicht ganz, denn hier ist es einseitiger, die ganze Himmlischkeit wird vom
Ich in ein
Du hineingelegt - und so ist es die logische Konsequenz des in meiner Interpretation Aufgezeigten, dass nun mit dem Vergehen des
Dus auch das
Ich kollateral mit zerbricht. Könnte man das Ende des Gedichtes auch anders, vielleicht positiver deuten? Vielleicht schon, würde ich sagen, aber das sei der Interpretationsvielfalt überlassen.
Liebe Ubertas, ich habe mich außerordentlich gern mit deinem Gedicht beschäftigt. Obwohl ich zunächst keinen Zugang finden konnte, hat mit dein Werk nun doch Zahlreiches offenbart und überdies eine tiefsinnige Lektüre ermöglicht. Vielen Dank dafür.
Liebe Grüße
Frodomir