Korrektur

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Shallow

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Ich weine ihm keine Träne nach. Maria ruft an, ich gehe nicht ran. Sie lässt nicht locker und schreibt: „Treffen wir uns dort?“ Ich antworte nicht.
Über dreißig Arbeiten stapeln sich auf dem Schreibtisch. Borchert, das Brot. Schon wieder. Die Schüler gehen in der Pause zum Bäcker gegenüber. Coffee to go und belegte Brötchen. Ich habe sie auf diese Arbeit vorbereitet. So gut ich kann. Drei Arbeiten sind korrigiert, dreimal Desaster. Ich habe mir die Klausuren der guten Schüler rausgesucht. Soll man nicht machen. Danach wird es nur schlimmer.
„Melde dich doch mal, Beerdigung ist um 14.00 Uhr!“, schreibt Maria.
Ich weiß, wann die Beerdigung ist. Die schwarze Hose, Bluse und der anthrazitfarbene Mantel liegen auf dem Bett. Seit gestern schon. Ich habe einen neuen Schirm gekauft, das Wetter ist unbeständig.
„Ich werde Maria nicht verlassen“, hast du gesagt. Wegen der Kinder.
Die sind groß. Verstehen Borchert nicht. Sind woanders. Beim Bäcker gegenüber oder wer weiß wo. Leben ihr Leben. Wir haben weitergemacht. Mein Fehler. Du hast es ihr nie gesagt. Ich muss korrigieren.
 
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Frodomir

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Hallo Shallow,

ein starker Text in meinen Augen. Da ich mich im Lehrerberuf ein bisschen auskenne, kann ich überdies sehr gut nachvollziehen, weshalb man sich die guten Klausuren zuerst anschauen will - aber die schlechten bleiben dann trotzdem noch übrig :oops:

Ansonsten deutet dein Text sehr viel an, gerade genug, um beim Lesen hineingezogen zu werden. Die Atmosphäre klingt nach einem größtenteils gelebten Leben, das nicht mehr viel Hoffnung bereit hält. Aber der letzte Satz - der ist es! Schön, diese Doppeldeutigkeit. Die Klausuren natürlich, aber eben auch das Leben. Noch ist es nicht zu spät, noch ist Zeit - zum Wiedergutmachen.

Kleine Korrektur auch meinerseits: Nach Maria in der Mitte des Textes fehlt noch der Punkt.

Gern gelesen!

Viele Grüße
Frodomir
 

Anders Tell

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Deine verdichtete Erzählweise finde ich sehr gelungen. Den Borchert-Text als Projektionsfläche anzubieten ideal gewählt. Die komprimierten Vignetten (wie der neue Regenschirm) handwerklich gut installiert. Die Tragik der Entfremdung ist hier wie im Text von Borchert nicht alleingültig.
Sie hat schon korrigiert. Obwohl alles bereit liegt, wird sie nicht zur Beerdigung gehen. Einfach weitermachen war ihr Fehler, den sie jetzt beheben wird.
 

Shallow

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Hallo @Frodomir,

vielen Dank für deine Zeilen, es freut mich außerordentlich, dass er dich angesprochen hat. (Der Punkt ist gesetzt, sehr aufmerksam!) Ansonsten beschreibst du meine Intention sehr genau. Dass man sich die guten Arbeiten zuerst greift, wird offenbar sehr unterschiedlich gehandhabt, es gibt regelmäßig Diskussionen darüber im Bekanntenkreis (ich selber bin kein Lehrer).

Deine aufmunternde Kritik schätze ich sehr, einen entspannten Abend wünscht

Shallow
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Anders Tell,

auch an dich geht mein Dank für Kritik und Sterne. Der Anstoß für "Das Brot" kam tatsächlich aufgrund deiner Erwähnung (von Borchert) in einer anderen Rezension. Ansonsten wird die Ich-Erzählerin in meiner Gedankenwelt tatsächlich nicht auf die Beerdigung gehen, aber das wollte ich bewusst offen lassen. Sehr klar gesehen, vielen Dank für deine Zeit und einen schönen Abend wünscht

Shallow
 

Shallow

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Hallo @anbas,

deine Worte habe ich natürlich mit großer Freude gelesen! Vielen Dank für dein Lob und Sterne! Wir lesen uns!

Besten Gruß

Shallow
 

jon

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Die üblichere Redewendung heißt "keine Träne nachweinen". Das passt auch rhythmisch besser.

Ansonsten: Top!
 



 
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