Hallo Ralf,
schon mit der ersten Strophe deutest du einen theologischen Konfliktstoff an: "Woher kommt das Böse in der Welt?" Ist es ein Gottgewolltes (nach seinem Bilde schuf er sie), eine stete Versuchung - durch die doppelzüngige Schlange symbolisiert - oder etwas, was die Hölle auf Erden bedeutet? Denn, folgt man den Heiligen Schriften, ist von der jenseitigen Hölle fast niemals die Rede, insgesamt überhaupt nur dreimal. Demnach befände sich die Hölle auf Erden, durch den Menschen selber geschaffen (u. a. Sartre), gäbe die einleuchtendste Antwort.
"Weil Gott gerecht ist, muss es eine Hölle geben. Weil Gott die Liebe ist, wird sie leer sein", sagt auch Friedrich Händel in seinem
Messias.
Und betrachtet man, was an Selbstzerstörung, ja, an Zerstörung des ganzen Planeten so vor sich geht, scheint dies zusätzlich zementiert.
Deuten wir die Heiligen Schriften in erster Linie als hochwertige, wunderbare Literatur (wie ich), als Mythen, als notwendiges Regularium, ändert das insgesamt wenig, weil sich die Vorstellungen der Völker ungemein ähneln, gerade, was die Genesis und nachfolgende Katastrophen anbelangt.
In deinem Titel stellt sich mir die Frage, ob Sünde (Zerstörung, Ausrottung etc.) mit Krankheit gleichzusetzen ist. Vermutlich nicht.
Andererseits sprichst du von Menschenleere, die auf verschiedene Weise zustandegekommen sein kann, auch durch Klimakatastrophen, die bislang noch die
allerschrecklichsten Folgen für den Erdball zeitigten.
Wenn alle Säulen zu Ruinen,
Wenn das Wort und die Stimme verweht,
wenn zum Schluß in den lichten Hainen
die große Menschenleere entsteht.
Dann bleibt wohl nur dieser eine Spruch,
und über den Gräbern, den Steinen
legt sich ein später Asterngeruch.
Was passiert also, wenn alles zerstört und die Menschheit ausgestorben ist? - Manche sehen das gar als Notwendigkeit ...
Dann sähen auch höhere Wesen
trunken von Nektar und süßem Wein:
der Stoff wäre reiner gewesen,
schlösse er nicht ihren Odem ein.
Und nüchtern und eins mit den Stelen,
- stellten sie dann ihr Versuchen ein?
Sieht die Gottheit dann ihren vermeintlichen Fehler ein (nach deinem Bilde ...)? Triumphieren die Engel, die vom Werk von Anfang an nicht so recht begeistert waren? Hämeln die höheren Wesen? Frohlockt der
gefallene Engel (der Staatsanwalt Gottes), der keineswegs in die Hölle, sondern "nur" auf die Erde gefallen war?
[Ach, ich liebe diese Mythen über alles; sie geben Stoff für ein ganzes Leben!).
Du hast das Augenscheinliche, die Zerrissenheit und den freundlich-milden Umgang mit diesen Dingen gut dargestellt.
Besonders gelungen erscheinen mir "die Stelen" in diesem Zusammenhang, überhaupt das Kontrastprogramm der zweiten Strophe (Mannaodem als "unreine" Beigabe) und näherst dich dem Thema doch mit Respekt.
Viele große Männer haben mit ihrem Gott gerungen.
Natürlich bleiben viele Fragen offen. Und es nagen Zweifel.
Nicht nur bei uns, sondern auch bei Rilke, mit dem ich schließen möchte:
Engel
Sie haben alle müde Münde
und helle Seelen ohne Saum.
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde)
geht ihnen manchmal durch den Traum.
Fast gleichen sie einander alle;
in Gottes Gärten schweigen sie,
wie viele, viele Intervalle
in seiner Macht und Melodie.
Nur wenn sie ihre Flügel breiten,
sind sie die Wecker eines Winds:
als ginge Gott mit seinen weiten
Bildhauerhänden durch die Seiten
im dunklen Buch des Anbeginns.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria, österreichischer Erzähler und Lyriker
Herzliche Grüße
Heidrun