Kratzer auf der Zeitspur

GerRey

Mitglied
Auf der Straße vor dem Bahnhof war plötzlich Dramatik, ausgelöst durch eine laute Männerstimme. Halb in der Kreuzung einer Nebengasse stand ein Bus der städtischen Verkehrsbetriebe. Der Fahrer war ausgestiegen, vor den Bus gerannt und hatte jemanden angeschrien, ohne näher zu treten, jemand, der sich irgendwo seitlich daneben befand, vom Bus verdeckt. Die ungewöhnliche Situation verwirrte die wenigen Passanten, die teilweise eben auf jenen Bus warteten. Was war das? Ein Unfall? Der Busfahrer wirkte aufgeregt, und was er schrie, war unverständlich. Jedenfalls stieg er, nachdem er sich durch das Schreien abgeregt hatte, wieder ein und fuhr den Bus ganz aus der Seitengasse in die Gasse neben den Bahnhof, wo er ein paar Meter weiter in der Station hielt. Als er aus der Seitengasse raus war, tauchte am Straßenrand jenes Auto auf, das er verdeckt hatte. Eine junge Frau sprang aus dem Kombi oberer Preisklasse, hielt ein Handy in der Hand, mit dem sie ein Foto von einem Ausschnitt der Seitenfront des Wagens machte … ein Kratzer im Lack, den sie auf Anhieb gleich beim Aussteigen neben der Fahrertür entdeckt hatte. Danach rannte sie sofort los, um die Ecke herum, weil sie zu glauben schien, dass der Bus in dieser Richtung davongefahren wäre. Aber er wartete noch in der Station. Also wechselte sie, ihre Schritte zögerlich verlangsamend, die Straßenseite und blieb kurz an der Rückseite des Busses stehen, um ein weiteres Foto zu machen: Das Kennzeichen! Dann lief sie weiter zum Fahrer nach vorne. Im Streit, der nun zwischen ihr und dem Busfahrer ausbrach, kam hervor, dass sie aus einer Parklücke am Straßenrand ausparken wollte, während der Bus zum Abbiegen die Seitengasse heruntergefahren kam und langsam an ihrem Auto vorbei rollte. Sie solle stehen bleiben, hatte der Fahrer des Busses gerufen, während er sich aus dem offenen Seitenfenster gelehnt und sich nach rückwärts gerichtet hatte - sie jedoch wäre weiter zurückgefahren. So hatte sie den Bus mit ihrem Fahrzeug gestreift, was sie jetzt, heftig atmend, abstritt.
Eine blonde junge Frau, mit einem Buben im Vorschulalter und einem weißen Pudel im Schlepptau, stieg nun in den mit offenen Türen auf seine Abfahrtszeit wartenden Bus. Es war Samstag, noch vor sieben Uhr morgens. Der Himmel war grau und das Wetter - fast schon zu herbstlich für Ende August. Im Bus saßen nur eine Handvoll Fahrgäste - alles Männer. Die Frau sah sich um und ihr Gesicht nahm plötzlich einen feindlichen Ausdruck an. Man hätte meinen können, einer der Männer (oder gar alle!?) hätte ihr ein weiteres (unliebsames?) Kind gemacht - so abschätzig hatte sich ihre Mimik verfinstert! Dann bugsierte sie den Hund und den Jungen auf einen Viererplatz im Vorderteil des Busses und setzte sich demonstrativ mit dem Rücken zu den vereinzelt sitzenden Männern hin - von denen sie wohl keiner von der Bettkante gestoßen hätte. Der Großteil von ihnen war auf dem Weg zu einer staubigen Baustellenarbeit, die schon viele Überstunden gefordert haben musste, wie man an ihren müden Gestalten vermuten konnte. Nur einer, der auf dem Weg nach Hause in sein Bett war, nahm sich gegenüber der Blonden mit der kalten Schulter gedanklich mehr heraus - aber ohne den Hund und das Kind darin unterzubringen. Er ließ seine Gedanken schweifen, kam darin zu einer erinnerten Autobushaltestelle, die dreißig Jahre weit zurücklag, wo er leicht angesäuselt, von einem Freundesbesuch kommend, eine Blondine angequatscht hatte, die mit ihrem Hund - ein weißes Etwas in passender Backrohr-Größe, wie er gespielt uncharmant die Frau be-witzelte -, die ebenfalls von einem Besuch zur Bushaltestelle gekommen war, mit ihm ein Gespräch begann, in dem sich herausstellte, dass sie Krankenschwester sei und jemanden wie ihn, der zuhören konnte, jetzt gut gebrauchen konnte - was schließlich in seinem Schlafzimmer geendet hatte, während ihr Hund, der vermeintliche Backrohr-Kandidat, im Wohnzimmer eingesperrt worden war und vor Kummer über den jähen Verlust seines Frauchens, das nebenan fremd menüte, mit seinen Pfoten den Lack von der Tür und dem Türstock kratzte, was - wie immer bei solchen Gelegenheiten - erst hinterher wichtig wurde, als er seiner damaligen Freundin zu erklären hatte, wie es zu den Lackschäden an Tür und Rahmen in ihrer Wohnung gekommen war … Peinlich!
Aber so sehnsuchtsvoll nach Abenteuer er auch hinüber schaute, blieb die Schulter vor ihm kalt, sodass er sich schon gar nicht mehr an das Gesicht der blonden Frau erinnern konnte - wie es war, bevor sie die Männergesellschaft im Bus gewahrt hatte.
Und der Streit zwischen der Autolenkerin und dem Busfahrer - der sich in seinem Gemüt wütend übersteigerte und behauptet hatte, dass ihr wohl der Hund, den sie hinten im Auto hielt, einen Kratzer in den Lack gemacht habe - vertagte sich ebenfalls alsbald angesichts regulär einzuhaltender Fahrpläne, sodass die Zeit ihre - der Zeiten - Spuren wieder zu verwischen begann, in dem sich alles, was sich hier in leichter Verfinsterung zusammengeballt hatte, wieder auflöste und abzog.
 

rainer Genuss

Mitglied
Hi, werter GerRey
Die Idee, der Auflösung oder der Bereinigung von Ereignissen durch den Zeitverlauf ist genial. Toller Einfall.
Leider geht es mir wie IDee, der endlos lang geschilderte Busunfall und die allesamt unselig darin verwickelten Charaktere lassen beim Lesen ein Gefühl aufkommen, als würdest du in einer Altpapiertonne nach der, versehentlich weggeworfenen Bauanleitung für den Lego Star Wars Todesstern wühlen.
aber die Idee der Verflüchtigung ist faszinierend.
LG rainer
 



 
Oben Unten