Krieg

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Ofterdingen

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Träumte ich? Mir war, als stände ich auf einem Hochplateau, vor mir ein breites Tal, in dem Soldaten aufeinander schossen. Ich konnte nicht ausmachen, wer da gegen wen kämpfte und warum. Hatte womöglich eine der Konfliktparteien mit mir zu tun, waren sie Freunde oder würden die Soldaten von jeder der beiden Seiten auf mich losgehen, sobald sie die anderen da unten im Tal erledigt hatten?

Ich wusste, sie würden heraufkommen, schaute mich nach einem Versteck um, es gab aber weder Baum noch Strauch, nur einen riesigen Haufen abgeschnittener Kohlblätter. Sollte ich mich darunter verkriechen, wenn sie kämen mit Mordlust im Blick? Weglaufen konnte ich nicht, denn ich trug eine Art Schottenrock, der an meinen Oberschenkeln festgeklebt war und meine Bewegungsfreiheit übel einschränkte.

An mir hing dieser Klebstoff, der zwar alles höllisch gut festhielt, aber nie zu Ende trocknete. Als ich nun unter die Kohlblätter kroch, blieben diese an mir hängen und ich kam mir vor wie eine Gestalt des italienischen Malers Arcimboldo, der Menschen malte, welche aus Gemüse bestanden.

Wie lange würde es dauern, bis die Soldateska auf meine Anhöhe vorrückte? Wie lange würde ich in meinem Blätterkleid ausharren müssen ohne Wasser und Nahrung? Zum Glück sah ich eine große Plastikflasche herumliegen und gleich sprang ich hinaus, griff nach ihr und füllte sie in einem nahebei vorüberfließenden Bach. Dann eilte ich zurück in mein Versteck. Verhungern würde ich dort nicht. Kohlblätter hatten ja einen gewissen Nährwert.

Ich wusste, dass es Affen gab, die ausschließlich von Früchten lebten und selbst große Tiere wie Pferde und Rinder fraßen nichts als Gras und das reichte ihnen. Warum also sollten mir Kohlblätter nicht genügen, wenigstens für die Zeit, in der ich mich verstecken musste?

Dann kamen die Soldaten. Ich hörte, wie sie einander schmutzige Witze erzählten und fluchten, weil es auf der Hochebene nichts gab, keine Häuser, in die sie eindringen und wo sie plündern, Männer massakrieren, Mädchen und Frauen vergewaltigen konnten. Da dachte ich, die bleiben nicht lange, die ziehen weiter.

Doch sie gingen nicht, schossen auf Fische im Bach und einer der Kerle erschreckte mich, als er aus einer Laune heraus einen Schuss auf meinen Kohlblätterhaufen abfeuerte. Er traf mich nicht, aber ich wusste jetzt überdeutlich, dass ich in Gefahr war. Mein Gedärm begann mich zu drängen, doch es war schwierig, unter den angeklebten Blättern meine Hose auszuziehen. Und ich musste sie ausziehen, schaffte es schließlich, aber eigentlich nur halb, beschmutzte mich und fürchtete überdies, dass der Gestank mich verriete. Wer stinkt, macht auf unangenehme Weise auf sich aufmerksam.

Ich konnte nur hoffen, dass die Soldaten sich schon seit Tagen nicht gewaschen und irgendwelches Stinkezeug gegessen hatten, Knoblauch zum Beispiel. Von ihnen kamen tatsächlich üble Gerüche zu mir herüber und ich begann schon, aufzuatmen, als einer dieser langen, dünnen Männer, die immer Ärger machen, an meinen Kohlblätterhaufen herantrat und sagte: „Was stinkt denn hier so?“ – „Was denn“, rief da ein anderer.“Das wirst du selber sein. Hast du dir nicht erst neulich mal wieder vor Angst in die Hosen geschissen?“ Jetzt lachten alle und der Dünne verzog sich.

Das war knapp, dachte ich. Wenn die doch nur bald weiterzögen!

Sie zogen nicht weiter und ich wachte nicht auf und es war alles bloß ein schlimmer Traum. Ich wachte auf und es war Krieg.
 
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petrasmiles

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Lieber Ofterdingen,

eingelungener Versuch, das Unfassbare für sich fassbar zu machen.
Besonders eindrücklich diese Phasenverschiebung bei der Betrachtung der Soldaten - eben noch stehen sie im Gefecht und tun, was Soldaten so tun, was den Krieg ausmacht, den man ohne sie nicht führen kann, und dann werden sie zur 'Soldateska', die nicht mehr in staatlich ausgewiesenen Freund/Feind/Schemata 'funktionieren', sondern für alle und alles zur Gefahr werden.
Ein eindrücklicher Anti-Kriegs-Text, wie man ihn kaum besser machen kann.

Liebe Grüße
Petra
 
Auch ich finde es formal ausgezeichnet, ganz unabhängig von jeder möglichen aktuellen Interpretation. Es hat für mich ausgesprochenen Traumcharakter. Falls es nicht tatsächlich auf einem Traum beruht, so ist es im Ablauf und in div. Details einem solchen gut nachempfunden. Beispiele: das seltsame und festgeklebte Beinkleid, die Hochebene mit nur einem Haufen Kohlblätter, die Sorge um Essen und Trinken (nächtliches Durstgefühl), eine bedrohliche Situation, der man ganz passiv ausgeliefert ist, das Bedürfnis nach Verrichten der Notdurft und dadurch ausgelöste Komplikationen und Erörterungen ... Alles traumtypisch. Die letzten zwei Sätze leiten dann über zur Tagesrealität und könnten einen anregen, Parallelen zwischen Traum und Wirklichkeit herauszufinden. Das will ich aber hier und jetzt nicht tun - ich verweigere mich dem für diesmal.

Kollegial freundliche Grüße an Ofterdingen
Arno Abendschön
 

Val Sidal

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ein weiterer beeindruckender Text von dir, lieber Ofterdingen.

Dass du mit der Passage 100% glücklich bist, wage ich zu bezweifeln:
– „Was denn“, rief da ein anderer.“Das wirst du selber sein. Hast du dir nicht erst neulich mal wieder vor Angst in die Hosen geschissen?“ Jetzt lachten alle und der Dünne verzog sich.
-- mMn hier fällt der Text aus dem Bild ... Die Direkte Rede platzt mit fremden Stimmen und fremden Stimmungen hinein ... Sehen und Hören kommen sich in die Quere ...
Freilich -- Geschmackssache.
 
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