Kriegsopfer

Kriegsopfer


Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.
(Martin Luther King)

Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges.
(Unbekannt



Für Nastja brachte der Valentinstag jedes Jahr den ersten Hauch des Frühlings. Das war ihr persönliches Empfinden. „Love was in the air“ und sorgte für einen guten Umsatz in den Blumen- und Geschenkeläden. Die Gelder flossen in diese Läden hinein und Unmengen an holländischen Tulpen und Plüschtieren mit Herzchen aus den Läden hinaus. Auch wenn das Datum nicht zwangsläufig für jeden einen Feiertag bedeutete, ließ man sich irgendwie von den Verliebten mitreißen. In romantischer Stimmung fühlte sich die Welt unabhängig vom Wetter einfach ein wenig wärmer an.

Im Februar 2022 spürte Nastja anstelle der Liebe eher Spannung in der Luft. Das Gefühl des Heranrückens einer Katastrophe war allgegenwärtig. Die Hoffnung, das bevorstehende Desaster abwenden zu können, schwand von Tag zu Tag.

„Mein Mann glaubt dem amerikanischen Nachrichtendienst, dass der Krieg für Putin eine beschlossene Sache ist. Ich erhoffe aber immer noch ein Wunder.“ Artem, der alte Kumpel von Nastja war online. Er lebte seit Jahren in Amerika. Nastja wollte wissen, was man auf der anderen Seite der Erdkugel so denkt. Artem nahm ihr die letzte Hoffnung: „Das stimmt leider, Nastja. Hier kommt das Gleiche in den lokalen Nachrichten. Putin hat bereits den Angriffsbefehl gegeben. Dafür gibt es anonyme Aussagen involvierter Personen.“ „Scheiße!“, die Reaktion von Nastja war treffend, wenn auch etwas ordinär.

„Es gibt ein Szenario, Nastja“, fuhr Artem fort, „eins des angeblichen Angriffs seitens der Ukraine auf die Donezker – und Luhansker Volksrepubliken. Söldner der Gruppe Wagner inszenieren den Überfall und Beschuss seitens der Ukraine. Die Separatisten erwidern mit Gegenbeschuss. Die männliche

Bevölkerung wird mobilisiert. Frauen und Kinder werden nach Russland evakuiert. Putin schickt ‚friedenstiftende‘ Truppen und greift aus der Luft an. Das Ziel ist, die Ukraine zum Frieden zu zwingen.

Das Szenario erinnerte Nastja stark an den angeblichen Überfall Polens auf Deutschland im Sommer 1939. Lediglich der Gedanke daran, dass die Welt vor einer gleichwertigen Tragödie stehen könnte, machte ihr Angst. Nastja bekam Gänsehaut. Alle ihre Glieder schmerzten.

Artem war immer noch online. „Sind diese Informationen in Amerika frei zugänglich?“, wunderte sich Nastja. „Auch ungewöhnlich...“

„Nein, hier heißt es: ‚Putin wird einen Anlass suchen und finden‘. Alles ist allen bereits klar.“ Die meisten Informationen hatte Artem von seinen Freunden, freiwilligen Journalisten, die sich in der Lage in der unter russischem Einfluss stehenden Ostukraine bestens auskannten.

Nastjas Hoffnung auf einen nur mäßigen Appetit von Putin schwand: „Und will er nur den Osten der Ukraine haben? Plus die Zuwege zur Krim? Oder wird er bis nach Kiew marschieren?“

Putin wollte offensichtlich viel mehr. Putin wollte alles.

Es war schon weit nach Mitternacht. Nastja befürchtete, dass ihr Mann bald aufstehen und nach ihr suchen würde. Sie machte sich auf den Weg ins Bad. Beunruhigende Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Ihr 80-jähriger Vater sagte, dass er alt genug wäre und dort bliebe, wo er war. Die Schwester wird mit ihren Jungs, Mann Taras und Sohn Maks, bleiben wollen. Die Männer werden das Land im Kriegszustand nicht verlassen dürfen. Im schlimmsten Fall würde ihre Schwester alleine zu Nastja nach Deutschland fliehen. Nastja vermochte sich diesen schlimmsten Fall überhaupt nicht vorzustellen.

Der amerikanische Nachrichtendienst gab das geplante Datum der russischen Invasion in die Ukraine, den 16. Februar bekannt. Die Amerikaner, große Angeber, mochten gern mit ihren Superfähigkeiten übertreiben. Die Welt wurde in Hollywood mindestens drei Mal täglich gerettet. Man musste ihnen jedoch Tribut zollen. Auch in der Realität verfügten sie auf jeden Fall über das nötige Wissen und Können für die Rolle eines ‚Weltpolizisten‘.

Nastja glaubte nicht, dass die Amerikaner sich mit dem Datum vertan hätten. Alles ging nach einem Plan. Nach wessen Plan, wird die Menschheit frühestens 20 Jahre nach der Verjährung des Verbleibs in den Archiven erfahren. Die offizielle Stellungnahme Russlands war deutlich wie nie zuvor: „Kriege in Europa beginnen üblicherweise nicht an einem Mittwoch.“ Der bevorstehende Krieg wurde gar nicht abgestritten. Der D-Day folgte sozusagen.

Als Nastja noch klein war, war das Telefonieren mit Bild zwar schon möglich, jedoch nur in Fantasy-Filmen. Das Tempo des technischen Fortschritts beeindruckte. In den letzten 100 Jahren geschah viel mehr als in den 1000 Jahren davor. Obwohl - den alten Römern würde Nastja auch noch zutrauen, zu ihrer Zeit schon mit Video gechattet zu haben. Man staunte, was sie damals alles schon besessen und gekonnt hatten. Man brauchte inmitten römischer Ruinen nur unter die Füße zu schauen. Die Kanalisation war schon da gewesen. Die Bodenheizung hatte funktioniert. Alle Achtung!

Nastja telefonierte mit ihrem ukrainischen Zuhause, ihrer Schwester und ihrem Vater, üblicherweise mit Bild. Das beugte der Sehnsucht vor. Sie sahen sich regelmäßig. Ihre Schwester und sie plauderten alle zwei Wochen, quasi gemütlich mit einem Käffchen am Küchentisch sitzend, über Gott und die Welt. In der zweiten Februar-Hälfte wurden die Zeitabstände immer kürzer. Noch öfter griff Nastja zu ihrem Smartphone und schrieb los.

„Huhu, schläfst du nicht?“, probierte Nastja ihr Glück in der Nacht auf den 21. Februar um 1 Uhr 30. Dem grünen ‚Lämpchen‘ zufolge müsste ihre Schwester Ina online gewesen sein.

Die Antwort kam erst am Morgen: „Ich konnte lange nicht einschlafen, habe aber deine Nachricht nicht gesehen. Alles Mögliche geht mir durch den Kopf. Roman und Natascha beklagen ihre Lage im Donbas. Sie wurden zur Evakuierung aufgefordert. Sie weigern sich, irgendwohin zu fahren. Sie bleiben erstmal zu Hause. Ich will sie gleich anrufen.“

„Na denn“, antwortete Nastja und wollte noch wissen, bevor sie den Chat verließ: „Wird dort heftig geschossen?“

„Nein, es wird momentan nicht geschossen. Der Angriff seitens der Ukraine wurde aber schon am letzten Freitag angekündigt. Deshalb wird die Bevölkerung evakuiert.“

Für Nastja war das nicht überraschend: „Das russische Szenario ist in Aktion.“

Ina schrieb weiter: „In die Ukraine dürfen die Leute von da nicht ausreisen.“ Das klang nach wie vor total abstoßend. Sie befanden sich in der Ukraine. Die Abspaltung der Gebiete von der Ukraine fand in der Welt nie Anerkennung. „Zum Kotzen, ne!“, Nastja fand keine schöneren Worte.

„Ja, voll krass!“, Inas Wortwahl war auch nicht wählerisch. „Die Leute werden nach Rostow gebracht. Die Einheimischen wollen sie nicht aufnehmen und verweisen auf die unterbesiedelte Region Magadan im tiefsten Norden Russlands.“ Auf Inas Zunge wälzten sich verständlicherweise nur Schimpfwörter. „Die Ortschaften mit der unkooperativen Bevölkerung können die Separatisten jede Zeit unter Beschuss nehmen. So war es mit Schirokino. Das Dorf wurde komplett ausgelöscht. Das ist nicht weit von dem Ort entfernt, wo Natascha und Roman wohnen, 15 Minuten zu Fuß. Niemand weiß, was die Separatisten im Sinn führen. Sie sind dort die herrschende Macht aktuell.“

„Und im Fall mit Schirokino wurde selbstverständlich die ‚Handschrift‘ der Ukraine gesehen.“ Nastja bezweifelte diese Propaganda nicht.

„Na klar, was denn sonst?“, antwortete Ina voller Sarkasmus.

Nastja hatte Kopfkino aus den Filmen über den 2. Weltkrieg. Die Menschenmassen waren ständig in Bewegung. In erster Linie Frauen mit Kindern und ältere Leute bei Wind und Wetter mit kleinen Köfferchen, die sie selbst im Stande waren, zu tragen. Viel konnte darein nicht gepasst haben. Die Dokumente und das Nötigste an Klamotten.

„Ina, packt ihr vielleicht auch einen Notkoffer zusammen? Vorsichtshalber. Dann habt ihr alles Notwendigste griffbereit.“ Nastja wollte nicht glauben, dass es soweit war, darüber nachzudenken.

Jedoch so schnell konnte es gehen. Bei Inas Schwager Roman und seiner Frau Natascha war die instabile Lage schon lange die Realität. Natascha kam aus dem Donbas. Sie wohnten und arbeiteten auch mal ein paar Jahre in Kyjiw. Zum Teil weilten sie im Norden der Ukraine bei Romans Mutter. Natascha fühlte sich immer von ihrem Zuhause angezogen. Ihr Sohn und ihr Mann folgten ihr. So landeten sie wieder im Donbas. Und dort herrschte seit 8 Jahren Krieg, seitdem die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen worden waren. Dort kehrte die Ruhe nie wieder ein.

„Na, hast du sie erreicht?“, wollte Nastja ein paar Stunden später wissen. „Was gibt es Neues im Donbas?“

Ina klang besorgt: „Jetzt ist es dort wieder mal ruhig. Die ganze Nacht wurde aber geschossen. Natascha fühlt sich schlecht. Ich glaube, dass sie einen Nervenzusammenbruch erleidet.“

„Und wie geht es Roman? Unterliegt er der Mobilmachung?“

„Er ist im Donbas nicht gemeldet. Solange die Häuser nicht durchsucht werden, bleibt er verschont. Sie sitzen bis auf weiteres zu Hause und spielen Gesellschaftsspiele.“

Ina erzählte noch kurz, dass es ihrem Vater auch soweit gut ginge. Mehr gab es nicht zu berichten. Ina war auf der Arbeit und hatte zu tun. Die Schwestern verabschiedeten sich. Drei Tage später begann der Krieg.

Die Welt erfuhr, dass der passende Tag für verbrecherische Pläne, für den Beginn eines Vernichtungskrieges gegen das Nachbarland und ehemalige Brudervolk ein Donnerstag, der 24.02.2022 war. Der Feind nahm die ukrainischen Militäreinheiten im Osten des Landes unter heftigen Beschuss und unternahm zur gleichen Zeit Raketenangriffe auf Militärstützpunkte und Flughäfen in verschiedenen Regionen in der gesamten Ukraine. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Faschismus wünschte der wahnsinnig gewordene Diktator Putin, das ukrainische Volk zu versklaven. Die Ukrainer in der ganzen Welt rückten angesichts des unglaublichen Unrechtes zusammen und bangten um die Existenz ihrer Nation als solche. Aber in erster Linie ging es um das Leben eines jeden Einzelnen. Nastja stand unter Schock. Für sie begannen mit dem Krieg die schlaflosen Nächte während der Raketenangriffe zusammen mit ihren Lieben.

An jenem Donnerstag begann Nastja ihren Chat mit Ina am frühen Morgen ohne Begrüßung mit der damals noch sehr ungewöhnlichen, schockierenden Frage: „Gab es Explosionen bei euch?“ Die Frage war rhetorisch. Es gab sie. Der Draht nach Kyjiw zu ihrer Schwester ist seit dem Moment zu einem ‚roten Telefon für Gespräche der höchsten Wichtigkeitsstufe‘ geworden. Es war äußerst wichtig, dass die Gesprächspartnerin am anderen Ende sich meldete. Ob mit guten oder schlechten Nachrichten, war schon zweitrangig.

Ina meldete sich mit schlechten Nachrichten: „Die Maschinen der russischen Luftwaffe sind bereits in der Nähe von Kyjiw. Manche konnten abgeschossen werden. Manchenorts wird gekämpft. Sie feuern aus den Mehrfachraketenwerfern ‚Grad‘ auf unsere Militärstützpunkte.“

Nastja konnte es immer noch nicht fassen, dass sie sich über reale Geschehnisse unterhielten. Die Raketenwerfersysteme werden nicht ohne Grund ‚Grad‘ (russ. Hagel) genannt. Es hagelte Raketen ukraineweit.

„Mein Patensohn hat Aufnahmen im Vorort von Kyjiw gemacht. Ich schicke dir gleich eine davon.“ Nastjas Smartphone brummte. In wenigen Sekunden eröffnete sich vor Nastja ein Kriegsbild: Hubschrauber im Tiefflug, mehrere Feuerstellen, dunkle Rauchwolken. Nastja hätte am liebsten laut geschrien. Es nützte aber nichts. Eins war klar: das war erst der Anfang, es konnte nur schlimmer werden.

Putins ‚Spezialoperation‘ beeindruckte alle mit ihrem Ausmaß und Maßstab eines totalen Krieges. Und das gleich in den ersten Tagen. Am 25. Februar berichtete Ina, dass um 4 Uhr in der Früh etwas an ihnen vorbeiflog und im Stadtviertel Posnjaki im Süden Kyjiws explodierte. Sie hörten das. Später wurde über eine Explosion durch eine ballistische Rakete berichtet. Nastjas Kriegswortschatz erweiterte sich rasend schnell. Der Themenkreis der Gespräche schränkte sich im Gegenteil deutlich ein. In Iwankowo bei Kyjiw wurde gekämpft. In mehreren Orten um Kyjiw herum wurde gekämpft. Bald waren die Ortschaften Butscha und Irpin, von denen früher niemand etwas gewusst hatte, in aller Munde in der Welt. In Kyjiw landeten die feindlichen Fallschirmjäger.

Das war ein böser Traum, ein Albtraum. Nastja wollte ihre Schwester nicht ständig nerven. Das grüne Online-Zeichen galt als Orientierung. Wer online ging, konnte höchstwahrscheinlich nicht tot sein. Keine Garantie. Aber ein ziemlich sicheres Zeichen. In der modernen Welt ist zu den allgemein bekannten Lebenszeichen noch eins hinzugekommen: online sein.

Der Wahnsinnige plante Kyjiw innerhalb von drei Tagen einzunehmen. Sein Plan ging offensichtlich nicht auf. Nastja freute sich über jeden nächsten Morgen, der mit den Worten ihrer Schwester begann: „Wir haben die Nacht überstanden.“ Die Ukrainer machten sich Mut mit Späßchen und Witzchen.

Von einer Fallschirmjägerlandung im Kyjiwer Stadtviertel Trojeschtschyna hätte jeder Kyjiwer im Vorfeld abraten können. Schließlich war dort schon zu Friedenszeiten niemand gern nachts unterwegs. Oder man hatte ‚Mitgefühl‘ mit dem Kriegsstrategen Putin. Er vermochte es, die halbe Welt in Angst zu versetzen. Er konnte aber bei der Planung seiner ‚Spezialoperation‘ den beachtlichen Widerstand der Ukrainer sowie den entschlossenen Zusammenhalt Europas nicht einkalkulieren. Und schon gar nicht hätte er sich im Traum vorstellen können, von einem ‚Komiker‘ in die Zange genommen zu werden. Witze hin oder her, viele Städte der Ukraine, unter anderen Charkiw, Odessa, Mykolajiw, Cherson und Mariupol mussten verdammt leiden.

„Gestern stimmten Deutschland und Italien endlich dem Ausschluss Russlands vom Swift-System zu“, berichtete Ina. Alles erfolgte im Schildkrötentempo. Alle Entscheidungen bedurften viel Bedenkzeit. Vieles war verständlich, aber nicht alles akzeptabel. Die Zeit spielte gegen die Ukraine.

Deutschland war wieder einmal eine führende Macht in Europa, die dieses Mal am meisten zögerte. Es gab mehr als genug Anhänger Putins in der deutschen Gesellschaft. Es war unverständlich, zumindest für betroffene Ukrainer, warum ein Volk auf dem eigenen Territorium mit dem Aggressor nach dessen Regeln spielen sollte. Manche Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehung ging aufgrund der Meinungsverschiedenheiten in die Brüche. Im östlichen Teil Deutschlands war die Verbindung zu Russland traditionell ausgeprägt. Die ältere Generation sehnte sich zum Teil nach ihrem schönen Leben in der DDR. Die Jüngeren waren mit der Demokratie unzufrieden und befürworteten eine Diktatur. Sie wollten ihre eigene Erfahrung damit machen. Nastja konnte weder die ersten noch die anderen verstehen.

Nastja und ihr Mann bemühten sich, solche Diskussionen zu vermeiden. Nastja fühlte sich wohl in einer Demokratie und gönnte jedem seine Meinung. Jedoch ohne sie. Sie wollte von den Putin-Verstehern nicht gekränkt werden und verlangte von dem näheren Bekanntenkreis, Farbe zu bekennen. Sie handelte manches Mal wie ein Holzfäller.

„Wie kannst du mich in Frage stellen?“, reagierte eines Tages der Kumpel ihres Mannes Andreas seinerseits gekränkt. „Ich habe unter anderem einen vierstelligen Betrag für die ukrainische Armee überwiesen.“

„Gut, dass wir darüber gesprochen haben“, atmete Nastja erleichtert aus. Sie hatte Bedenken wegen seiner russischen Freundin. „Vielen herzlichen Dank dafür.“

Mit der Verwandtschaft ihres Mannes war es nicht so rosig. Das war Nastja, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Ob sich die Cousine ihres Mannes meldete und über so einen Schwachsinn wie zum Beispiel Begradigung (was immer das bedeutete) ihres Hundes Rex berichtete oder Nastja das Vergnügen erspart blieb, war schon wirklich gleich. Ihre Verwandtschaftsbeziehung in der Ukraine gewann die Oberhand. Ein Leben im Krieg grenzte an Nastjas Vorstellungskraft.

„Ina, bleibt ihr die ganze Zeit in der Wohnung?“, wollte Nastja wissen.

„Ja, heute verbrachten wir die Nacht fix und fertig, ‚gestiefelt und gespornt‘ im Flur. Es kam, Gott sei Dank, zu keiner Flucht aus der Wohnung.“

„Zum Schlafen kam es sicherlich auch nicht?“ Das war eher eine rhetorische Frage von Nastja.

„Um 3 Uhr in der Früh, nach den Explosionen um das Kyjiwer Heizkraftwerk ist es bei uns auch ruhig geworden. Was im Stadtzentrum los ist, können wir nicht hören. Wir müssen mal die Nachrichten schauen.“

„Es ist ein Wunder, dass Fernsehen und Internet immer noch funktionieren“, meinte Nastja.

Vom anderen Ende der Leitung kam: „Oh, es knallt und rumpelt wieder. Die Luftabwehr ist tätig.“

Das war der 3. Kriegstag. Um die vorher eingesickerten Saboteure herauszufiltern, wurde eine Ausgangssperre verhängt. Es gab genug Maulwürfe aus dem ehemaligen ‚Brudervolk‘. Aber jede Tarnung hat eine schwache Stelle. Oftmals ist es die Sprache. Das funktioniert immer. Das spätere Verbale wird offensichtlich in den ersten Lebenstagen schon gleich mit der Milch der Mutter unbewusst einsaugt und für immer einprägt. Die Ukrainer, auch die mit russischer Muttersprache, können mit dem landeseigenen Wortschatz frei hantieren. Ein Fremder hat erhebliche Schwierigkeiten mit der Aussprache. Als Sprachfalle fungierte die Bezeichnung der Brotsorte ‚Paljanyzja‘: sie diente als Passwort. Es musste sich nur richtig landestypisch anhören.

Beim Wort ‚Ausgangssperre‘ kam Nastja automatisch auf die Frage: „Habt ihr genug Vorräte an Lebensmitteln?“ Die positive Antwort ihrer Schwester wirkte beruhigend. Wie lange konnte ein Mensch die Anspannung ohne Schlaf aushalten? Drei Tage Krieg. Andauernde Luftangriffe, heulende Sirenen, überwiegend nachts.

„Hast du mit unserem Vater gesprochen?“, wollte Nastja wissen. „Wie sieht es in Schostka aus?“

„Unser Vater will diese Nacht angezogen bleiben. Wir stehen auch fluchtbereit im Flur. Wir sind so müde, dass wir im Stehen einschlafen.“ Vorerst gab es wenig Optimismus in Inas Worten.

In den Nachrichten kam, dass das Kyjiwer Kinderkrankenhaus ‚Ochmatdit‘ getroffen wurde. Ein Kind kam dabei ums Leben. Wieder ein Opfer zu viel. Die Lage in Kyjiw selbst und um die Stadt herum war mehr als instabil. Die Situation war brandgefährlich. Die Ukraine leistete mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln Widerstand. Die Ukrainer führten nach Möglichkeit auch einen psychologischen Krieg. Sie gaben eine Telefonhotline bekannt für die Mütter der russischen Soldaten, falls diejenigen sich nach ihren Söhnen erkundigen wollten. Das tat der Psyche der Ukrainer, für die die Welt gerade zusammenbrach, gut.

Die Vororte von Kyjiw wurden bombardiert. Eine Ölbasis brannte. Nastja konnte sich gar nicht in die Lage ihrer Schwester versetzen. „Versucht ihr irgendwie zumindest im Wechsel zu schlafen? Man fällt doch ohne Schlaf irgendwann einfach um.“

„Genau so wird es kommen“, bestätigte Ina die Befürchtungen ihrer Schwester. „Schon drei Nächte. Tagsüber ist es auch kaum ruhiger.“

Bei der Menge und Dauer der Alarme war es nicht denkbar, sich jedes Mal auf den Weg in einen der öffentlichen Schutzkeller zu begeben. Man müsste dort einfach bleiben, was viele Kiewer auch taten. Für Inas Familie war das keine Option. Unter anderem wollten sie die Wohnung nicht lange ohne Aufsicht lassen. Man machte sich Sorgen wegen Plünderungen. Inas Mann Taras bewaffnete sich sogar mit einer Pistole. Man wollte sich und seine Familie vor möglicher unkontrollierter Kriminalität in der Kriegszeit schützen. Freier Handel mit Waffen gehörte auch zu den neuen Realien.

„Unser Haus ist unterkellert. Den Keller hat niemand sonst benutzt. Er eignet sich als Schutzkeller“, berichtete Ina, nachdem sie das zusammen mit den anderen Hausbewohnern zur allgemeinen Erleichterung feststellen konnten. „Die Angst, in diesem Keller zugeschüttet zu werden, lässt einen aber nicht los.“

Für Nastja war es klar, sollte das Haus in Trümmern liegen, müsste ihre Verwandtschaft im Flur in ihrer Wohnung gesucht werden oder eher unter dessen Trümmern.

„Ist das der Keller mit den riesigen Kakerlaken?“, erinnerte sich Nastja.

„Ich habe sie schon lange nicht zu Gesicht bekommen“, antwortete Ina, als ob das beruhigen könnte.

„Und unser Vater? Wo ist sein Schutzkeller?“, wollte Nastja als nächstes wissen.

Hier hatte Ina etwas zu berichten: „Er packte neulich seinen Rasierer, Bier und Wodka in sein ‚Fluchtköfferchen‘, ging in seinen Schuppen, verbrachte dort eine halbe Stunde in der Erdmiete bei den Kartoffeln, kehrte in seine Wohnung zurück und ging ins Bett.“

„Ich hätte den Rasierer an seiner Stelle zu Hause gelassen.“ Das Verhalten ihres Vaters wunderte Nastja nicht.

„Unrasiert im Keller? Geht gar nicht!“ Die Schwestern verstanden sich ganz gut, ohne Frage. Ihr Humor hatte sie noch nicht ganz verlassen.

Spaß hin oder her, der Wahnsinn ging weiter. In den Vororten von Kyjiw wurde hart gekämpft. Der Flughafen Hostomel wurde eingenommen. Die Ukraine verlor ihr Flugzeug ‚Mrija‘ (ukr. Traum) Antonow An-225, das größte Frachtflugzeug der Welt. In Hostomel arbeitete vor dem Krieg Nastjas Schwager Taras. Dort waren seine Baumaschinen stehengeblieben. Der Ort, den Meldungen zur Folge, wurde weitestgehend zerstört. Taras trauerte schon langsam um seine teuren Geräte. Ina machte sich Sorgen um ihren Job. Die Lagerhallen der Firma, für die sie arbeitete, waren in Stojanka mittlerweile auch nicht sicher. Darüber hinaus wagte niemand die Prognose, ob Kyjiw in den nächsten Tagen Stand halten konnte.

„Dieser Bastard wird nicht loslassen. Er kann sich nicht geschlagen geben. Ina, es ist jetzt wichtig, am Leben zu bleiben und das vorzugsweise in der Ukraine.“

Ina stimmte Nastja zu.
„Ein Aufstand im Landesinneren könnte etwas bewirken“, meinte Nastja weiter. „Für einen wirksamen Aufstand gibt es in Russland immer noch zu wenig Klardenkende.“

Die vereinzelten Proteste wurden durch die russische Polizei schnell gestoppt. Nicht jeder war bereit, verhaftet zu werden, auch
wenn nur für 48 Stunden. Das war auch verständlich. Die russische Propaganda beeinflusste nach wie vor erfolgreich die Mehrheit der Bevölkerung. Auch die in den besetzten Gebieten. Inas Verwandtschaft im Donbas war leider Gottes keine Ausnahme. Sie wurden immer stärker von der Ukraine isoliert und ausreichend benebelt. Die Versuche von Taras, seinen Bruder dazu zu animieren, aufzuwachen und den realen Krieg wahrzunehmen, blieben aktuell erfolglos.

Eine riesenlange Kolonne der russischen Militärtechnik bewegte sich in Richtung Kyjiw. Die Satellitenbilder waren beängstigend.

„Ina, wir sehen die veröffentlichten Bilder von der Kolonne. Was hört man bei euch? Ich gehe davon aus, dass nicht nur wir die Kolonne sehen und dass es einen Gegenplan gibt“, meinte Nastja zu ihrer Schwester am 1. März, pünktlich zum Beginn des Frühlings, des ersten Kriegsfrühlings.

„Bei uns müssen sie es auch sehen. Ganz bestimmt. Wir wissen aber noch von nichts“, tat Ina kund. „Hier heulen die Sirenen jede Stunde.“

„Ich werde dein ‚grünes Facebook-Lämpchen‘ im Auge behalten.“ Damit verabschiedete sich Nastja an dem Tag.

Zwei Tage später heulten die Sirenen nonstop weiter. Ina und ihre Männer waren erschöpft. Sie kippten vor lauter Müdigkeit fast um. In der Stadtmitte von Kyjiw gab es heftige Explosionen. Die Taras-Schewtschenko-Universität wurde beschädigt.

Nastja war sich der Überflüssigkeit ihrer Worte bewusst, wiederholte sie jedoch trotzdem: „Ihr müsst versuchen, zu schlafen. Irgendwie, wechselt einander ab. Der Hurensohn setzt auf Erschöpfung. Er will euren Willen brechen. Wie ist es mit der Lebensmittelversorgung? Kyjiw kann eingekesselt werden.“

„Taras kauft von Zeit zu Zeit ein. Er kann nicht zu Hause sitzen. Er muss sehen, was los ist.“

„Ist alles erhältlich?“

„Mehl fehlt. Es gibt zu wenig Brot. Mit Gemüse sieht es auch nicht gut aus.“

Und so ging es immer weiter. Ein Tag war wie der andere. Sirenen gehörten mittlerweile zur alltäglichen Geräuschkulisse. Etwas war immer in der Luft unterwegs. Raketen oder Drohnen oder Beides. Der ganz normaler Kriegsalltag. Irgendwie gelang es Nastjas Schwester und ihren Jungs immer wieder ein wenig zu schlafen. Ihr Mann Taras hatte langsam die Nase voll und ging einfach ins Bett. Man gewöhnte sich allmählich an die Ausweglosigkeit. Man passte sich an den Krieg an. Es musste weiter gehen. Man brauchte den Schlaf.

„Ich saß bis 3 Uhr in der Früh vor dem Fernseher. Als der Alarm los ging, weckte ich Maks. Er schlief sitzend im Sessel wieder ein. Um 5 Uhr reichte es mir auch. Ich ging schlafen. Um 7 Uhr rief unser Vater an. Und die Routine begann von Neuem“, schilderte Ina den Stand der Dinge.

„Ihr missachtet den Krieg“, scherzte Nastja.

„Ja, heute machen wir Putztag. Taras hat schön eingekauft: drei Weißbrote und Fleisch. Während der Alarme sitzen Maks und ich im Flur, abseits von den Fenstern (wegen möglicher Glassplitter im Falle einer Explosion). Taras hockt die ersten 20 bis 30 Minuten mit uns zusammen. Dann erklärt er den Alarm selbst als beendet. Aktuell wissen wir nicht, was wo explodiert. Es wird nicht mehr sofort über Geschehnisse berichtet. Wir erfahren darüber später aus den Nachrichten.“

„Das mag auch richtig sein“, überlegte Nastja laut.

„Ja, kann sein“, schloss sich Ina der Überlegung an.

„Ansonsten wer weiß schon, was besser ist. Ina, haltet, so gut es möglich oder auch unmöglich ist, durch.“

Russische Truppen zogen nach und sammelten sich in Vororten von Kyjiw. Alle waren in Erwartung einer russischen Offensive. Als kleine Ermunterung schickte Nastja am 8 März ihre Grüße zum Frauentag an Frauen aus ihrem Bekanntenkreis mit dem Vermerk: „trotz alledem“. Die Sirenen heulten in der Ukraine Tag und Nacht weiter. Millionen Ukrainer waren auf der Flucht. Die unmittelbaren polnischen Nachbarn zeigten maximale Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit. Alle anderen EU-Länder waren auch bereit, unbürokratisch zu helfen.

Nastja musste an Artem denken. Sie hatte lange nichts aus Amerika gehört. Und als ob er ihre Gedanken lesen konnte, kam eine Nachricht von ihm.

„Wenn man vom Teufel…“, scherzte Nastja. „Wie geht´s? Wie steht´s? Was gibt es Neues?“

„Ich bin dabei, meine ukrainische Verwandtschaft in der Welt, wo immer gerade möglich, unterzubringen“, antwortete Artem.

Es ging wohl um die Verwandtschaft zweiten Grades. Seine Töchter, soviel sich Nastja erinnern konnte, sollten schon lange irgendwo in Europa ansässig geworden sein.

„Ich habe noch unzählige Cousinen und Cousins“, fuhr Artem fort. „Meine zwei Neffen jeweils mit Familie sind jetzt nicht weit von Łódź in Polen. Sie müssen morgen sogar schon zur Arbeit.“

Das war neu in der Asylpolitik, aber aus der Sicht von Nastja total richtig. Die ukrainischen Flüchtlinge bekamen sofort die Möglichkeit, zu arbeiten. Nastja konnte nie verstehen, warum Flüchtlinge, die in Deutschland oft jahrelang auf die Entscheidung über ihre Asylanträge warteten, finanziell auf dem Rücken Schultern des Staates lasten mussten. Gut, man unterschied zwischen Asylsuchenden und denjenigen, die vorübergehenden Schutz suchten. Egal, wie man es nannte. Nachdem man in Sicherheit angekommen war, konnte man auch gleich arbeiten, sozusagen seine Brötchen selbst verdienen.

„Eine frühere Schulkameradin und ihre Mutter konnte ich in einem polnischen Kloster unterbringen. Ein Cousin ist mit seiner Familie auf dem Weg zu seinem Bruder nach Kanada“, zählte Artem weiter auf.

Nastja musste an ihre Verwandtschaft denken, die leider nach wie vor keine Fluchtpläne schmiedete. Sie war froh, zumindest ständig mit ihrer Verwandtschaft in Kontakt zu bleiben. Ihre Freunde im Harz hatten schon seit mehreren Tagen keinerlei Nachrichten aus Mariupol von den Eltern der Frau. Die Lage in Mariupol war beängstigend ernst. Die Stadt war weitgehend zerstört worden. Es gab mittlerweile keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung. Ein grüner Korridor für die Zivilbevölkerung wurde vereinbart. Menschen versammelten sich an einem Ort und wurden beschossen. Man durfte mittlerweile niemandem mehr vertrauen. Krieg war Krieg. Nastja wusste nicht, ob die ukrainische Seite in diesem Krieg sauber spielte. Sie wusste aber, dass die russische andauernd unverschämte Lügen verbreitete.

In Schostka wurde es inzwischen auch unruhig. Eine Alarmanlage wurde an das Schulgebäude neben dem Haus ihres Vaters installiert. Die unmittelbare Nähe der laut heulenden Sirene jagte noch mehr Angst ein. Nastjas Vater folgte bei Luftangriffen artig seinen Nachbarn in den Keller. Die kleine Stadt im Nordosten der Ukraine hatte, leider Gottes, eine strategische Bedeutung. Der Stadt drohte die Einkesselung. Schostka wehrte und verteidigte sich heftig. Es gab Versorgungsprobleme. Nastjas Vater versäumte seit drei Wochen seine Medikamenteneinnahme.

Ina beschwerte sich bei Nastja: „Und was macht er? Er sitzt und schweigt. Maks telefonierte neulich mit seinem Opa und fragte ihn nach seinem Befinden. Er beklagte den Schwindel und dass er schon seit drei Wochen keine Medikamente hat.“

Nastja reagierte empört: „Über die Bierengpässe berichtete er dagegen unverzüglich. Na klar, es gibt halt wichtige und weniger wichtige Sachen im Leben.“

Die nötigen Medikamente wurden zwar nicht sofort und in einer anderen Abpackung jedoch, Gott sei Dank, in Kyjiw gefunden und auf gut Glück mit der Post nach Schostka geschickt. Die Zustellung stand vorerst in den Sternen. Kranksein in der Ukraine war aktuell äußerst ungünstig.

„Apropos krank…“, fiel Nastja ein. „Wir waren die Tage bei unseren Nachbarn Kaffee trinken. Die Nachbarin berichtete kurz danach, dass sie Corona positiv ist. Bei mir waren bis jetzt zwei einfache Selbsttests negativ.“

Am nächsten Tag lag Nastja flach mit starken Kopfschmerzen und konnte ihren Schädel kaum vom Kissen heben. Dann kam das Wochenende. Der dritte Selbsttest war wieder erfolgreich negativ. Der PCR-Test am Montag wies das Ct-Wert 13.63 auf. Nastja war Coronavirus SARS-CoV-2 RNA positiv und begab sich umgehend in häusliche Isolierung, die nicht weiter schlimm war, da die Krankheit nach 3-facher Impfung recht mild verlief.

Der März war in jenem Jahr sehr warm und viel zu trocken. Während sich alle an den sonnigen Tagen erfreuten und mit schönen, neuen Schühchen trockenen Fußes flanierten, war die Landwirtschaft im Nachteil. Und nicht nur sie.

„Ein Smog hängt über Kyjiw“, berichtete Ina.

„Die Ursache sind die Brände in den Vororten.“ Nastja wusste das aus der Presse.

„Ja, in den Vororten wird heftig gekämpft. Vielerorts gibt es Brände“, bestätigte Ina. „Der Regen fehlt. In Tschernobyl soll es auch gebrannt haben.“

„Um Gottes Willen. Das fehlte noch.“ Nastja weigerte sich, sich die möglichen Folgen vorzustellen. So viel Verstand müsste sogar der Russe besitzen.

Der erste Kriegsmonat ging zu Ende. Die Medikamente waren in Schostka noch nicht angekommen. Ina traute sich das erste Mal aus der Wohnung. Die Sonne schien. In den Pausen zwischen den Alarmen spielten Kinder in Sandkästen. Man bekam den Eindruck, dass es keinen Krieg gäbe. Die Sirenen, die nicht lange auf sich warten ließen, erinnerten alle sehr schnell an die Realität. Man bekam auch die Geräusche von Flugobjekten mit und war nah dran, sich vor lauter Angst einfach in die Hose zu machen. Umso entschiedener weigerten sich die Ukrainer aufzugeben, geschweige sich zu ergeben. Man lehnte es ab, die Errungenschaften der letzten, nicht einfachen dreißig Jahre zunichtemachen zu lassen.

Eines Abends verfiel Nastja in Erinnerungen. Sie spulte gedanklich ihr Leben zurück. Sie hatte 1989 ihren Schulabschluss gemacht und das Studiums an der Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität begonnen. Sie hatte den Sprung aus der Provinz in die Hauptstadt geschafft, war glücklich, ein bisschen verängstigt, aber trotzdem sehr gespannt auf ihr neues Erwachsenenleben.

„Ein Glückspilz war ich schon immer“, erzählte sie ihrem Mann Christian. „Ein wolkenloses Studentenleben hatte ich nicht lange. Schon ein Jahr später wurde alles kompliziert und schwer zu begreifen.“

„Und vor allem schwer etwas zu erwerben“, vermutete Chris.

„Ja, das alte Geld war nichts mehr wert“, fuhr Nastja fort. „Das neue gab es nicht. Der Geldersatz stellte einen sperrigen Papierstapel, Coupons, in der Handtasche dar. Der Vater meiner Studienkommilitonin war Kolchosvorsitzender. Er versorgte seine Tochter reichlich sowohl mit Coupons als auch mit Nahrung. Die Unmengen an Lebensmitteln konnte sie unmöglich alleine verzehren.“

„Die schlanke Linie war wohl nicht mehr aktuell“, lächelte Chris verschmitzt.

„Meine Mutter gab mir damals mit auf den Weg: ‚Kind, du musst gut essen‘. Man ist in einem Studentenwohnheim auf sich allein gestellt. Oder auch nicht, wie sich herausstellte“, musste Nastja lachen.

„Was nutzten die unzähligen Coupons? Es gab sowieso nichts zu kaufen“, schlussfolgerte logischerweise Chris.

„Genau“, bestätigte Nastja. „Eines Tages kam ich nach Hause und fand auf dem Tisch in unserem Zimmer einen Zettel vor: ‚Nastja, mein Schatz, ich stehe im Geschäft gegenüber in der Schlange. Es gibt Socken.‘ Ich war zwar auch ein Schatz. Mich hat er aber nicht gemeint. Egal, dachte ich. Socken konnte ich auch gut gebrauchen. Später zogen noch weitere Kolleginnen nach. So eine Wohngemeinschaft hatte auch gewisse Vorteile.“

Das Leben im Studentenwohnheim war fürs Lernen weniger geeignet. Es war schwierig, sich zu vereinsamen. Nastja teilte im ersten Studienjahr ein Zimmer mit fünf weiteren Mädels. Ab dem zweiten Jahr nur noch mit zwei. Eine Mitbewohnerin hatte einen Freund. Und so drängten sie sich schon wieder zu viert in einem nicht allzu großen Raum. Fürs Feiern war dagegen das Wohnheim immer gut. Man musste nicht mal eine Jacke anziehen, um von einer Party zur anderen zu pendeln. Der Lebensstil war gewöhnungsbedürftig. Nastja nannte diese Zeit ‚Lebensschule‘. Abgehärtet und erfahren zog sie jedoch nach dem Studiumabschluss unverzüglich in eine Mietwohnung.

„Weißt du, Chris“, erinnerte sich Nastja, „es ging dann irgendwie alles Schlag auf Schlag. Im Oktober 1990 gab es Proteste. Der Höhepunkt war der Hungerstreik der Studenten. Auf dem damaligen Platz der Oktoberrevolution und jetzigen Majdan (ukr. Platz, Platz der Unabhängigkeit in Kyjiw), wurden Zelte für die Streikenden aufgebaut. Für das bessere Leben in der unabhängigen Ukraine war ihnen der eigene Leib nicht zu schade. Meine Überlegung war: ‚Die Idee kann nicht ganz verkehrt sein, wenn junge Leute dafür ihre Gesundheit und womöglich auch ihr Leben aufs Spiel setzen.‘ Die Freiheit gab es nicht geschenkt.“

Es kam die Zeit des Umdenkens und der Umorientierung. Der Gedanke, nach dem Abschluss nicht mehr in eine Dorfschule abgeordnet zu werden, war für Nastja recht angenehm. Einen Agronomen als Mann konnte sie sich noch vorstellen. Wo die Liebe hinfällt sozusagen. Mit dem Deutschunterricht machte sie sich wenig Hoffnungen. Den brauchte damals schon wirklich kein Mensch auf dem Lande. „Das wäre in der Tat wie mit den Perlen vor den Säuen…“. Nastja entschuldigte sich gedanklich für diesen Vergleich bei allen, die sich angesprochen fühlen könnten. Die neueröffneten Möglichkeiten, darunter auch solche der freien Wahl, versprachen kein einfaches, dafür aber interessantes Leben. Nastja ließ nichts annähernd Akzeptables unversucht und freute sich über jeden Erfolg. Jeder Misserfolg machte sie nur stärker. Das Geld für die Miete konnte sie aufbringen. Der Rest war zweitrangig.

„Wie einfach war es damals, auf die Linie zu achten“, schmunzelte Nastja. Sie erzählte ihrem Mann spürbar bewegt weiter: „Wir mussten durch das wirtschaftliche Chaos. Die Inflation wütete. Mein Gehalt 1995 betrug stolze 10.000.000 Coupons. Unsere Portemonnaies waren proppenvoll. Die bunten Geldersatzscheine passten nur gefaltet in die standardisierten Geldbörsen hinein und machten sie unpraktisch dick. Ein Bekannter meines Vaters kürzte die Scheine. Er machte sie sozusagen Portemonnaie gerecht. Den Stapel durfte er aus dem Umlauf nehmen und in den Mülleimer legen. Das waren Zeiten!“ Nastja wurde immer emotionaler: „Der große Bruder Russland mischte sich überall ein. Er zog an den Fäden seiner Marionetten. Er machte die Ukraine vom ‚billigen‘ Gas abhängig und sicherte damit eine langfristige Stationierung seiner Flotte auf der Krim. Die Unabhängigkeit war irgendwie bedingt. Als die Sympathisanten Russlands an der Macht nicht mehr akzeptiert wurden, fing der Krieg an.“

„Und das war bereits 2014“, fügte Christian hinzu. „Ich weiß, Nastja. Mir brauchst du das nicht zu erklären.“

Der zweite Kriegsmonat ging zu Ende. An der Front gab es nichts Neues. Die Raketenangriffe erschütterten nicht nur den Ostteil der Ukraine und ihre Hauptstadt Kyjiw. In den Nachrichten berichtete man von Explosionen landesweit. Nastjas Vater bekam endlich seine Medikamente. Das war das Positive. Das Kriegsende war offensichtlich nicht absehbar. Das war das Negative. Der Präsident der Ukraine Selenskyj rief die Bevölkerung auf, da, wo es möglich war, wieder zur Arbeit zu gehen. Ina arbeitete zwei bis drei Stunden täglich im Homeoffice. „Die rote Linie der Metro steht noch. Um auf das rechte Ufer zu kommen, muss ich drei Mal umsteigen“, erklärte Ina. „Wenn ich zur Arbeit fahre, bin ich einen halben Tag nur in einer Richtung unterwegs.“

„Sind die Brücken über dem Dnipro offen?“, wollte Nastja wissen.
„Die Metro-Brücke ist noch vermint. Die Südbrücke käme dann für mich in Frage. Über die Brücken zu fahren, ist so eine Sache“, berichtete Ina. „Wenn der Raketenalarm los geht, halten die Busfahrer sofort an. Alle müssen aussteigen. Und dann stehst du auf der Brücke wie auf dem Präsentierteller den Raketen ausgeliefert.“

„Eine blöde Regelung. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Ich möchte aber auch nicht einfach so mitten auf einer Brücke abgesetzt werden. Dort gibt es verständlicherweise auch keinen Schutzkeller“, schrieb Nastja ihre Überlegungen.

„Während der Alarme bleiben alle Verkehrsmittel stehen. Die Tage machte Maks eine Odyssee durch“, fiel Ina ein. „Zweieinhalb Stunden an der Metrostation gewartet. Um 20 Uhr wurde mitgeteilt, dass kein Zug mehr fährt. Was tun? Zu Fuß losmarschieren? Um 22 Uhr beginnt die Ausgangssperre. Er wurde, Gott sei Dank, von Soldaten mitgenommen, die zufällig vorbeifuhren. Glück gehabt. Ansonsten bleibt nichts übrig. Man muss dann in einem öffentlichen Schutzkeller übernachten.“

„Du hast doch mal von den Leihfahrrädern erzählt“, erinnerte sich Nastja.

„Ja, die gibt es. Die bleiben aber nicht über Nacht stehen. Sie werden um 20 Uhr eingesammelt.“

„Auch das noch. Na, dann hat Maks echt Glück gehabt. Und wie ist es mit Ostern bei euch dieses Jahr? Wie ist die Stimmung?“, Nastja hatte ihre Zweifel in dieser Hinsicht.

„Unser Volk ist schwer zu brechen. Bomben fallen. Raketen fliegen. Ostern ist jedoch heilig und muss gefeiert werden!“, ironisierte Ina.

„Gibt es dann also Osterbrote und gefärbte Eier? Alles wie immer bei dir?“, fragte Nastja.

„Na klar“, antwortete Ina. „Heute ist es schon spät. Ich fotografiere sie für dich morgen.“

„Eine ruhige Nacht“, wünschte Nastja ihrer Schwester.

„Von Ruhe träumen wir nur. Die Sirenen heulen andauernd“, beschwerte sich Ina.

Am nächsten Tag, am 24. April, genau nach zwei Kriegsmonaten, war Christus auch in der orthodoxen Ukraine auferstanden.

Nastja und ihr Mann planten demnächst ihren Urlaub auf Kreta. Irgendwie hatte Nastja ein schlechtes Gewissen ihrer Schwester gegenüber. Eins war klar: auch wenn Nastja keinen Urlaub macht, ändert sich nichts am Kriegsverlauf. Egal wie idiotisch das klingen mag, stellte sie Ina die Frage: „Gibt es Urlaub im Krieg?“

Ina war verwirrt: „Wie meinst du das?“

„Na, man muss sich doch vom Krieg auch erholen können.“ Nastja spürte den Schwachsinn ihrer eigenen Worte.

„Meine Männer dürfen nicht ausreisen“, erinnerte Ina ihre Schwester an die Kriegsrealien.

„Und wie lange noch?“

„Bis zum Kriegsende.“

Die Weiterführung dieses Gesprächs war sinnlos. Im Grunde wollte Nastja nur ihren Urlaub entschuldigen. Sie fühlte sich unwohl dabei.

Der Krieg zog sich in die Länge. Die allgemeine Kriegsmüdigkeit war spürbar. Nastja merkte, dass ihre Gespräche mit der Schwester nicht mehr so emotional wie zum Kriegsbeginn waren. Die Alarme, der Beschuss, die Berichte von der Front und ähnliches waren allgegenwärtig und jedes Mal ein Gesprächsthema. Jeder hohe Besuch aus der EU oder Amerika wurde durch einen heftigen Raketenbeschuss begleitet. Man wusste mittlerweile nicht mehr, ob man sich über diese Besucher freuen sollte. Das wollte der Russe auch erreichen. Nastja merkte, dass ihre Schwester und sie immer mehr andere Gesprächsthemen suchten. Sie unterhielten sich über den letzten Urlaub von Nastja, die Zahnarzttermine, den Aufbau des noch vor dem Krieg gekauften Einbauschrankes bei Ina und über unerwünschte Gewichtszunahme.

Mehr als beunruhigend waren die Nachrichten über Kriegshandlungen und Brände auf dem Territorium des Kernkraftwerkes in Saporischschja. Man wollte hoffen, dass alle Parteien wussten, was sie taten. Die zunehmende Rhetorik über einen möglichen Einsatz von Atomwaffen bereitete allen große Sorgen, ließ sich aber erst einmal bezweifeln. Die beiden Kriegsparteien behaupteten, den Faschismus zu bekämpfen, benannten aber verschiedene Übeltäter. In Deutschland wurden die Menschen vom Überfluss an Kriegsberichtserstattung müde. Auch wenn der Krieg nur ca. 1.000 km entfernt war, war das sowieso nicht ihr Krieg. Es gab immer mehr Zweifel an der Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Waffenlieferung in die Ukraine.

Ende Mai wurde eine Liste der Erholungsparks in Kyjiw mit Betretungsverbot veröffentlicht. Um die 30 Flächen wurden vermint. Die Anzahl war erschreckend. Es blieb nur zu hoffen, dass die Lokalisierung und Entschärfung von Minen nicht den dort später spielenden Kindern überlassen wird.

Das Frühjahr brachte wie gewohnt Gewitter mit. Nichts war jedoch mehr wie gewohnt. „Ich hätte nie gedacht,“ schrieb eines Tages Ina, „dass ich vor einem Gewitter so viel Angst haben werde. Der Kopf nimmt den Blitz und Donner wahr. Der Instinkt schlägt Alarm und zwingt dich in die Schutzposition.“

Die zerstörten Vororte Kyjiws bedurften nach der Befreiung dringend Reparaturen. Inas Mann Taras hatte dadurch wieder Arbeit. Nastja ermunterte ihn von Zeit zu Zeit: „Warte mal ab. Deine Zeit kommt noch. Du musst für deinen großen Auftritt nach dem Krieg beim Wiederaufbau des Landes bereit sein.“

Es standen aber noch viele neue Zerstörungen bevor. Der Russe schaffte es nicht, die Ukraine zu besiegen, hatte aber vor, maximalen Schaden anzurichten. Es wurden noch unzählige Raketenangriffe auf die Infrastruktur der Ukraine im kommenden Winter geplant. Man bereitete sich auf einen harten Winter ohne Strom, Wasser und Heizung vor. Auch diesen Winter wird die Ukraine überstehen, im ständigen Wechsel zwischen Zerstörung und Instandsetzung der lebenswichtigen Versorgungsanlagen. Das aber erst im Winter. Im Krieg überwog eine andere Denkweise. Man lebte im Hier und Jetzt. Es war Sommer. Man tankte die Sonne, genoss die Wärme, hoffte auf das Beste und bereitete sich auf das Schlimmste vor.
 

jon

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Ich glaube, die Intension des Textes zu verstehen. Und die Nachzeichnung der Anfänge hat auch was. Aber …
Das Hauptproblem ist die fehlende Spannung. Die könnte z. B. durch mehr "sagen die vs. sagen die" entstehen (immerhin ist was von Verlust der Wahrheit vorab zu lesen) und setzt voraus, dass die Dialoge glaubhafter sind und der Eindruck des Informationen-Auflistens stark zurückgedrängt wird.
Ich räume gern ein, dass ein betont "trockener" Ton auch effektvoll sein könnte. Dann die Dialoge auflösen in "XY sagte, dass" oder so. Aber auch da muss mehr Spannung rein.
Man kennt das alles quasi schon - das gewisse Etwas, das mich im Text gehalten hätte, fehlt.
 



 
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