Krümel

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lietzensee

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Krümel​

Eine Ladentür quietschte im Wind und hinter den Schaufenstern brannte kein Licht. Die Straße machte Krümel Angst. Sie konnte sich umdrehen und zurücklaufen oder sie konnte sich in eine der Toreinfahrten schleichen. Doch schienen ihr diese Möglichkeiten nicht weniger gruselig. Alle Erwachsenen waren verschwunden. Wohin sie auch ging, sie würde Angst haben. Krümel weinte. Aber geweint hatte sie in den letzten Tagen so oft, dass auch das seine beruhigende Wirkung verloren hatte. Schließlich holte sie tief Luft und ging an der quietschenden Tür vorbei. Sie glaubte, dass die Mutter hier mit ihr einkaufen gegangen war. Sie konnte sich an volle Tüten erinnern und an einen dicken Mann, der mit zwei Displays in den Händen auf die Mutter einredete. Krümel hatte großen Hunger. Sie dachte an Pommes Frites und Vanillepudding mit Himbeeren. Vor einem der Schaufenster blieb sie stehen und schaute auf große Buchstaben, die sich noch nicht lesen konnte. Ob es hier Essen gab? Hinter dem Glas sah sie Dosen mit bunten Etiketten. Die zeigten Hühner und Farbpinsel. Krümel überlegte. Da hörte sie ein Rascheln. Etwas bewegte sich im Schatten zwischen den Mülltonnen und Krümel rannte weg.
Sie bog in eine Gasse ein und rannte, bis ihre Lunge stach. Wo waren die Erwachsenen? Hanne hatte ihr auf dem Spielplatz erzählt, dass alle Erwachsenen sich in Maschinen verwandeln würden. Ihr Onkel sei jetzt ein Kühlschrank und anstatt sie zu umarmen, wollte er sie in seinen kalten Bauch einschließen. Beim Erzählen hatte Hanne gelacht, weil Krümel geweint hatte. Die Hanne hielt sich für erwachsen, weil sie schon alleine eine Mikrowelle anstellen und ihren Dackel ausführen durfte. Immer drohte sie mit den spitzen Zähnen des Dackels. Sie wusste, dass Krümel große Angst vor Hunden hatte. Hanne war gemein. Doch seit ihrem Treffen auf dem Spielplatz hatte Krümel sie nicht mehr gesehen und jetzt hätte sie Hanne sehr gerne bei sich gehabt.
Als Krümel wieder Luft bekam, sah sie sich um. In dieser Straße war sie noch nie gewesen. An einer Ecke entdeckte sie ein gelbes Dreieck, über dem drei bunte Kugeln gemalt waren. Sie lief näher. Das war eine Eisdiele. Die Tür war aus den Angeln gehoben und stand neben dem Eingang. Mehrmals holte sie Luft und hörte auf die Stille in der Straße. Dann trat sie in den dunklen Raum. Zuerst spürte sie nur einen Luftzug. Dann gewöhnten ihre Augen sich an das Dunkel. Sie sah Bilder von Erdbeeren und Kirschen an der Wand. Neben der Theke stand ein Tisch und auf dem Tisch stand eine bunte Plastikdose. Sie trat näher und hob den Deckel. Darin war Eis! Gierig griff sie mit ihren Fingern hinein und stopfte sich die kalte Masse in den Mund. Es war Bananeneis. Sie ließ es glücklich auf ihrem Gaumen schmelzen, da hörte sie draußen etwas klimpern. Sie hielt inne. Ein Schatten bewegte sich vor dem Fenster und verschwand. Ihre Hände klebten. Für einen Moment fühlte Krümel sich schuldig. Dann aber siegte ihr Verlangen und sie stopfte den Rest der schmelzenden Eiscreme in sich hinein. Als sie vorsichtig wieder vor die Tür trat, musste sie sich übergeben. Die Mutter hatte ihr verboten, so viel Süßes zu naschen, nachdem sie mit Mia und Yasmin mal ein Gummibärchenwettessen gemacht hatte. Sie versuchte, sich in einer Pfütze zu waschen. Dann ging sie elend die Straße weiter.
Ob sie jemand gesehen hatte? Es war ja niemand da, der sie hätte sehen können. Alle Erwachsenen waren verschwunden. Das beruhigte sie, aber nicht ganz. Sie dachte lange nach, bis sie darauf kam, was komisch war. Wer hatte das Eis auf den Tisch gestellt, wenn es noch nicht geschmolzen war?
Die Straße würde sie wieder nachhause führen, das hoffe Krümel. Doch war sie nicht sicher. Noch unsicherer war sie, ob zuhause ihre Mutter warten würde. Viele Tage war sie allein zuhause gewesen und die Mutter hatte ihr nicht erlaubt, an Mikrowelle, Herd oder die Geschirrschublade zu gehen. Gestern hatte der Kühlschrank angefangen, nach verdorbenem Fleisch zu stinken. Es tat weh, über diese Sachen nachzudenken. Die Mutter musste ganz sicher wiederkommen. Auf dem Gehsteig sah Krümel einen kleinen Hasen liegen. Um das Tier bildete sich eine Pfütze aus Blut. Viele Reihen von Fenstern waren über der Straße zu sehen. Erst eine, dann noch eine und dann viele weitere. An der höchsten Fensterreihe versuchte sie ihren Blick festzuhalten, während sie an dem Hasen vorbeiging.
Die Straße führte nicht zu ihr nachhause. Nach langem Gehen erreichte sie einen Platz, auf dem sie vorher noch die gewesen war. Ein sehr hohes Haus stand in der Mitte. Zu dem Haus führten dicke Kabel. Sie lagen in unordentlichen Schlingen und drangen durch angelehnte Türen und Fensterschlitze ins Haus ein. Auf diesem Platz war sie noch nie gewesen. Aber gesehen hatte sie ihn trotzdem schon. Die Mutter und eine fremde Frau hatten sich darüber einen Film auf dem Wohnzimmerdisplay angesehen – und laut gestritten. Als Krümel näher kam, entdeckte sie im Schatten vor dem Haus einen Mann. Der war sehr groß und trug einen Helm, in dessen Visier sich der Platz spiegelte. Er regte sich nicht. Der Mann beugte den Oberkörper nach vorne und schien zu dösen. Seine Arme pendelten im Wind. Krümel hatte Angst, als sie vorsichtig näher trat. „Guten Tag“, sagte sie schließlich mit schlechtem Gewissen und der Mann hob seinen Kopf. Als das Visier sie ansah, lief Krümel davon.
Es war ja gemein. Mit Fremden durfte sie nicht sprechen. Das hatte die Mutter ihr verboten. Fremde waren nämlich gefährlich. Alleine durfte Krümel sich aber kein Essen machen. Sie war nämlich ein kleines Mädchen. Nun war die Mutter schon tagelang verschwunden. Krümel war allein und ihr Bauch tat weh vor Hunger. Eine Weile glaubte sie, dass sie weinen würde. Als aber keine Tränen kamen, dachte sie nach.
Sie könnte nach einer Schlange suchen. Das war das Beste, was ihr einfiel. Erst ging sie die Straße entlang. Dann bog sie in eine Seitengasse ein, weil sie Geräusche hörte, dann ging sie eine andere Straße entlang. Die Beine taten ihr weh vom vielen Gehen. Schließlich aber fand Krümel tatsächlich eine Schlange. Einkaufswagen standen zu seiner langen Reihe zusammengeschoben und in einem Wagen lag ein Display mit Kabeln. In einem anderen lagen Prospekte, die Schinken und Bananen zeigten. Hier musste es Essen geben, vielleicht sogar Dosenspagetti. Krümel rannte zu der großen Glastür, doch die öffnete sich nicht.
Ein Erwachsener hätte dafür sicher irgendeinen Schlüssel gehabt. So ein Mist! Krümel setzte sich auf den Boden, schloss die Augen und fühlte den Hunger in ihrem Bauch. Sie musste etwas tun. Aber was durfte sie den tun? Was konnte sie tun? Es war zum Schreien. Sie hörte ein Poltern. Etwas bewegte sich hinter den Wagen, aber zum Wegrennen war sie nun zu müde. Krallen wetzten über den Asphalt und plötzlich stand ein großer Hund vor ihr. Er hatte braune Flecken und gefährliche, gelbe Zähne. Sie sahen sich an. Er öffnete sein Maul. Von seinen Zähnen tropfte Speichel. Krümel weinte nicht und verwendete ihre letzte Kraft zum Nachdenken.
„Er hat Hunger", rief sie schließlich in die verlassene Straße. Der Hund spitzte die Ohren. Er hatte Hunger wie sie und auf einmal tat der große Hund mit den braunen Flecken Krümel leid. Auch Hunde mussten immer brav sein. Sie durften nur fressen, was man ihnen in den Napf warf. Nun war niemand mehr da, der einen Napf füllen konnte. Alle Erwachsenen waren verschwunden, die Mutter war weg, das Frauchen vom Hund war weg und alle Straßen waren verlassen. Überrascht merkte Krümel, wie wütend sie wurde. Sie rüttelte am Einkaufswagen mit dem schweren Display. Mit ihrer letzten Kraft begann sie zu rennen und rammte den Wagen so fest sie konnte gegen die Glastüre. Das Glas splitterte. Eine Sirene schlug Alarm. Aber Krümel achtete nicht darauf. Der Hund knurrte nur laut.
Krümel quetschte sich in den Laden, der nach fauligen Tomaten roch. Ein paar Minuten später kam sie mit Zwieback und einer Handvoll Würstchen wieder heraus. Der große Hund fraß gierig aus ihrer kleinen Hand. Sie saßen nebeneinander, stillten ihren Hunger und sahen zu, wie Abendlicht sich auf die Straße legte. In den größer werdenden Schatten schien sich etwas zu bewegen. Krümel streichelte die kräftige Schulter des Hundes. Sie mussten sich ein Versteck zum Schlafen suchen. Wenn sie sich beim Nachdenken anstrengte, würde ihr auch dafür etwas einfallen.
 

lietzensee

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Hallo Matula,
vielen Dank für die Bewertung und besonders für die Einschätzung. Das ist ein tolles Kompliment!

Vielen Dank auch für die anonyme Bewertung

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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