*Kulturelle Zuneigung*

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Benni Beilke

Mitglied
'Voll der nette Taxifahrer',
denke ich mir in meinem Kopf, während wir durch den Verkehr rollierend gen Harlaching unterwegs sind. Er fährt geschmeidig, scheinbar ein Profi, jugendlicher Mittfünfziger mit Hang zu afro-amerikanischen Klängen würde ich sagen. In seinem Spotify-Playlist-Auto-Radio singt Peter Tosh 'I am that I am'.

Dementsprechend muss mich auch nicht lange umschauen, bis mir seine wahrlich sehr gutaussehenden langen blonden Dreadlocks ins Auge fallen. Gibt ja viele Diskussionen gerade, deswegen stell ich halt einfach mal eine These in den Taxi-Innenraum:

"Du bekommst doch momentan bestimmt viele Kommentare, weil Du Dich als hellhäutiger Mensch traust, Dreadlocks zu tragen!"

Er ist nicht milde, aber nett in seiner Antwort:

"Mein Lieber, da liegst Du falsch. Weder habe ich bisher Vorwürfe bekommen, noch habe ich das Gefühl, dass Dreadlocks ein Problem sein könnten. Im Gegenteil: Dreimal war ich auf Jamaika und jedes Mal wurde ich für meine Dreadlocks gefeiert. Die Rastafaris vor Ort waren stolz darauf. Nicht skeptisch. Ich hatte immer mehr Freunde als Du Dir vorstellen kannst."

Kurze skeptische Nachfrage von mir:

"Naja, aber ich mein, Blackfacing ist ja auch nicht so toll, oder? Wenn sich weiße Menschen das Gesicht schwarz anmalen, um als Heiliger Dritter König aufzutreten, zum Beispiel. Das ist doch kulturelle Aneignung und das ist doch einfach nicht ..."

Er unterbricht mich:

"Schau mal! Ohne kulturelle Aneignung gäbe es keinen deutschen Reggae. Keinen deutschen Rap, keinen German Rock'n'Roll. Eigentlich nur Helene Fischer und Andrea Berg.
Wir müssten jedem Deutschen, der Falafel verkauft, die Lizenz entziehen, jedem deutschen Feuerschlucker das orientalische Schlucken verbieten und so weiter und so weiter. Was ich mit meinen Dreadlocks mache, ist kulturelle Zuneigung. Ich liebe die Kultur und sie liebt mich und ich zeige ihr den gebührenden Respekt. Ich werde inkludiert, weil ich mich öffne. Was Du mit Deinen Aussagen machst, ist Grenzen ziehen. Befrei Dich davon."

Er schaltet das Taxameter aus, obwohl wir gerade erst in meine Straße einfahren. Dafür bin ich ihm sehr dankbar (spart mir 60 Cent), aber gleichzeitig hat er mir auch unterstellt, dass ich so voller geistigen Grenzen sei. Um ihm zu widersprechen, gebe ich ihm viel Trinkgeld (60 Cent).

Ich muss das richtigstellen:

"Tut mir leid, dass ich jetzt so geklungen habe, als ob ich Probleme mit Deinen Dreadlocks hätte. Mich hat eher Deine Innensicht interessiert."

"Meine Innensicht ist einfach: Es gibt nur sehr wenige Menschen, die es wirklich böse meinen. Alle anderen suchen nach Zuneigung."

Er schiebt sich 3 dicke blonde Dreadlocks aus den Augen hinters Ohr. Ich steige aus.

"Tschüss mit Ö!"

"Ciao Kaffee."

Kulturelle Zuneigung ❤
 

Tula

Mitglied
Hallo Benni
Ohne 'kulturelle Aneignung' wäre gesellschaftliche Entwicklung nur in völliger Abschottung (also nicht) denkbar. Es gäbe keinerlei Integration, die ja eigentlich von allen gewünscht ist.
Anzug mit Schlips und Hemd: welche Kultur hat das erfunden? Sollten wir diplomatische Vertreter aus Afrika und anderen Erdtteilen erklären, dass sie sich bitteschön an die traditionelle Anzugsordnung ihrer Kultur zu halten haben, anstatt sich 'unsere' ungefragt anzueignen? Sollte der Papst nicht jetzt vielleicht alle seine Kirchen außerhalb Europas schließen, weil sie ja doch mehr oder weniger das Resultat einer "aufgezwungenen kulturellen Aneignung" darstellen? Der Vergleich hinkt ganz und gar nicht. Wie reden hier von derselben historischen Epoche, in der Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen wochenlang unter Deck zubringen mussten. Die Dreadlocks haben genau darin ihren Usprung.

Fazit: Die Diskussion um kulturelle Aneignung ist nicht nur widersprüchlich. Sie ist mehr als das.

LG
Tula
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo Benni,

und "Zack", ist der Daumen wieder in der Wunde - und das so lockerfluffig, dass es die "Aneignungsapostel" eigentlich fast körperlich spüren müssten.
Ich gebe unumwunden zu, dass mich die Geistesverfehlungen unserer - ähm, nein - der heutigen Zeit oft fassungslos hinterlassen.
Immer wieder und immer lauter schreit es in meinem Kopf "IDIOKRATIE".

Und ich fürchte, dass es nicht mehr bis 2530 dauern wird, bis der Film wahr wird.
1984 haben wir schon, aber was nun kommt, treibt mir die kalten Schauer über den Rücken.

Beste Grüße,
Steffen
 

onivido

Mitglied
Hallo Benni, da hier noch niemand genoergelt hat, uebernehme ich das mal.
" denke ich mir in meinem Kopf, ". Ist es moeglich mit etwas anderem zu denken , als dem Kopf? Ich muss zugeben, dass ich das schon etliche Male versucht habe. Die Ergebnisse moechte ich hier nicht beschreiben.
Beste Gruesse///Onivido
 

onivido

Mitglied
Kulturelle Aneignung ist wohl einer der duemmsten Begriffe, die zur Zeit Mode sind.
Ich habe mal gelesen, dass ein Roman eines (oder einer , ich weiss nicht mehr) nigerianischen Schriftstellers nicht von einer Weissen uebersetzt werden durfte, weil das ein typischer Fall von kultureller Aneinung sei. Das heisst der Roman darf nicht uebersetzt werden, weil ein Uebersetzer dessen Muttersprache Igbo ist,sich doch nicht das Englische aneignen soll. Ueberhaupt sollte niemand eine Fremdsprache sprechen.
 

aliceg

Mitglied
" denke ich mir in meinem Kopf, "
Onivido,
klingt es vielleicht origineller 'denkt mein Kopf', falls Benni nicht in Banalsprache verfallen möchte? :cool:

Benni, meistens mag ich deine Formulierungen, das spezielle macht ja deinen eigenen Stil aus. :D
Ueberhaupt sollte niemand eine Fremdsprache sprechen.
ja, so könnten manche dumme Vorgegebenheiten zukünftig ausufern - zum Glück ist das noch keine gesetzliche Vorschrift, kann aber noch werden. Dann müsste aber zuvor eine Volkszustimmung stattfinden, denke ich.

lg aliceg
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Benni,
das ist ein interessanter Text, der sich flüssig ließt. Von der Aussage her stimme ich zu und bairisch gesungener Reggae ist vielleicht das beste Beispiel, wie Kulturen sich befruchten können. Für mich als Ossie ist sowas doppelt exotisch und damit um so spannender.
Literarisch sehe ich mein intuitives "Jenau so isses" aber tatsächlich nicht als Stärke des Textes. Er ist damit für meinen Geschmack zu nahe an einen Aufsatz gerückt. Der Text scheint vor allem Vehikel für eine Argumentation zu sein. Man ließt die gut strukturierte Argumente des Taxifahrers und das Erzählen scheint um diese herum dekoriert.
Der Text ist gut geschrieben, die drei aus der Stirn gewischten Locken am Schluss sitzen passgenau. Aber er könnte meiner Meinung nach besser sein, wenn zb der Erzähler mehr als nur Stichwortgeber für den Vortrag des Taxifahrers wäre.

Viele Grüße
lietzensee
 

Benni Beilke

Mitglied
Hallo Benni, da hier noch niemand genoergelt hat, uebernehme ich das mal.
" denke ich mir in meinem Kopf, ". Ist es moeglich mit etwas anderem zu denken , als dem Kopf? Ich muss zugeben, dass ich das schon etliche Male versucht habe. Die Ergebnisse moechte ich hier nicht beschreiben.
Beste Gruesse///Onivido
Vielen Dank für Dein Feedback.
Hmmm, ich mag halt gerne weiße Schimmmel. Weiß nicht, ob das bereits ein echter Fall für die Grammatik-Polizei ist ‍♂
 

Benni Beilke

Mitglied
Hallo Benni,
das ist ein interessanter Text, der sich flüssig ließt. Von der Aussage her stimme ich zu und bairisch gesungener Reggae ist vielleicht das beste Beispiel, wie Kulturen sich befruchten können. Für mich als Ossie ist sowas doppelt exotisch und damit um so spannender.
Literarisch sehe ich mein intuitives "Jenau so isses" aber tatsächlich nicht als Stärke des Textes. Er ist damit für meinen Geschmack zu nahe an einen Aufsatz gerückt. Der Text scheint vor allem Vehikel für eine Argumentation zu sein. Man ließt die gut strukturierte Argumente des Taxifahrers und das Erzählen scheint um diese herum dekoriert.
Der Text ist gut geschrieben, die drei aus der Stirn gewischten Locken am Schluss sitzen passgenau. Aber er könnte meiner Meinung nach besser sein, wenn zb der Erzähler mehr als nur Stichwortgeber für den Vortrag des Taxifahrers wäre.

Viele Grüße
lietzensee
Danke
 

Benni Beilke

Mitglied
Onivido,
klingt es vielleicht origineller 'denkt mein Kopf', falls Benni nicht in Banalsprache verfallen möchte? :cool:

Benni, meistens mag ich deine Formulierungen, das spezielle macht ja deinen eigenen Stil aus. :D

ja, so könnten manche dumme Vorgegebenheiten zukünftig ausufern - zum Glück ist das noch keine gesetzliche Vorschrift, kann aber noch werden. Dann müsste aber zuvor eine Volkszustimmung stattfinden, denke ich.

lg aliceg
Danke, ich hätte es besser nicht sagen können
 

Benni Beilke

Mitglied
Hallo Benni
Ohne 'kulturelle Aneignung' wäre gesellschaftliche Entwicklung nur in völliger Abschottung (also nicht) denkbar. Es gäbe keinerlei Integration, die ja eigentlich von allen gewünscht ist.
Anzug mit Schlips und Hemd: welche Kultur hat das erfunden? Sollten wir diplomatische Vertreter aus Afrika und anderen Erdtteilen erklären, dass sie sich bitteschön an die traditionelle Anzugsordnung ihrer Kultur zu halten haben, anstatt sich 'unsere' ungefragt anzueignen? Sollte der Papst nicht jetzt vielleicht alle seine Kirchen außerhalb Europas schließen, weil sie ja doch mehr oder weniger das Resultat einer "aufgezwungenen kulturellen Aneignung" darstellen? Der Vergleich hinkt ganz und gar nicht. Wie reden hier von derselben historischen Epoche, in der Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen wochenlang unter Deck zubringen mussten. Die Dreadlocks haben genau darin ihren Usprung.

Fazit: Die Diskussion um kulturelle Aneignung ist nicht nur widersprüchlich. Sie ist mehr als das.

LG
Tula
Unterschreibe ich <3
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Benni Beilke,

das ist mir als Kurzgeschichte ein bisschen wenig und ich verschiebe den Text von daher zur Kurzprosa.

Viele Grüße

DS
 



 
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