Kurzer theologischer Disput

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lietzensee

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Kurzer theologischer Disput​


"Guten Tag, ich bin der Priester. Ich werde versuchen, die Sache für dich so angenehm wie möglich zu machen."
"Du meinst, die Sache, bei der du mir die Brust mit einer Obsidian-Klinge aufschlitzt?"
"Ja."
"Na vielen Dank auch!"
"Hör mal, ich könnte mir für diesen Feiertag auch etwas Schöneres vorstellen, als hier im Tempel zu arbeiten, aber ..."
"... dann mach doch lieber was im Garten ..."
"... aber es gibt Dinge, die unser Gott von uns verlangt. Er akzeptiert keinen Ersatz, kein Blut von Hunden oder Lamas und keinen Rote Bete Saft. So steht es geschrieben. Lass mich kurz deine Fesseln prüfen. Wer sind wir Menschen denn, dass wir Gott einen Wunsch abschlagen dürften?"
"Warum lässt du dich dann nicht selbst opfern?"
"Als Priester opfere ich täglich! Ich schneide mich an pikanten Stellen, damit Blut fließt und Gott sich daran erfreut."
"Im Gegensatz zu mir wird dir aber nicht das Herz rausgeschnitten."
"Im Gegensatz zu dir habe ich mich auch nicht in einem Blumenkrieg gefangen nehmen lassen."
"Die Fessel links schnürt mir das Blut im Arm ab. ... Ja, so sitzt sie etwas besser, danke. Aber jedenfalls, Priester, habe ich gerade eine Glaubenskrise."
"Schau, mein Sohn, Gott gibt uns doch alles. Er gibt uns die Sonne, den Regen und die ganze Welt. Das hat er alles aus seinem eigenen Blut erschaffen und fordert nur angemessene Gegenleistung dafür. Quid pro quo, verstehst du? Ohne unser Blut würde nun mal Gott die Welt untergehen lassen. Wo liegen denn noch mal die Messer?"
"Nein, ich verstehe nicht. Woher wissen wir denn, dass es so ist, wie es in den alten Büchern steht? Könnten wir mit dem Herzrausschneiden nicht erst mal abwarten und gucken, was passiert?"
"Und riskieren, dass dann die Welt untergeht?"
"Aber das wissen wir doch nicht genau."
"Wir wissen es nicht, weil wir Gottes Wunsch bis jetzt jeden Tag befolgt haben. Und bis jetzt ist jeden Tag die Sonne aufgegangen, genau so, wie die Bücher es versprechen. Selbst wenn das Risiko klein wäre, der drohende Schaden ist dafür um so größer. Willst du den Tod aller Menschen verantworten, die Verwüstung aller Städte und das Ende der Welt, nur weil dich plötzlich religiöse Zweifel befallen, wenn du auf dem Opferstein liegst? Ich nehme an, solche Zweifel hattest du nicht, als du noch in deiner Heimatstadt gelebt hast und dort Leute von hier auf den Opferstein gebunden wurden. "
"Ich ... Über religiöse Fragen hatte ich selten nachgedacht. Was glaubst du, warum Gott mein blutendes Herz sehen will? Was erfreut ihn daran? Auh, das tut weh!"
"Es war nur ein Probeschnitt. Die Klinge ist jedenfalls scharf. Das ist das einzige, was ich noch für dich tun kann. Das und dir einen priesterlichen Rat geben: Versuche nicht, Gott zu verstehen. Der Ton kann nicht wissen, für welche Speisen der Töpfer den Teller formt. So, jetzt ist auch die Schale um Auffangen des Blutes bereit. Es kann losgehen und, ganz unter uns, manchmal glaube ich, dass gar nicht wir selbst handeln, sondern Gott handelt durch uns. Er lässt uns tun, was wir tun und sagen, was wir sagen. Er schreibt unsere Dialoge. Wer kann wissen, warum. Vielleicht hat er nichts Besseres zu tun oder will sich damit über irgendeine Frage im Klaren werden. Vielleicht ..."
"... ist er einfach ein Arschloch!"
"Selbst wenn, es wäre sinnlos, darüber nachzudenken. Der Glaube an Gott kommt aus dem Herzen. Dem kann der Verstand nicht mit logischen Abwägungen beikommen. Apropos Herz, halt jetzt ganz still!"


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Bitte beachtet, dieser Text ist von den alten Religionen der neuen Welt inspiriert. Er soll aber keine bestimmte Religion darstellen.
 
Hallo Litzensee,

genau getroffen, dieser theol. Disput. Gruselig, aber wahr. Genauso funktioniert sie, die theologische Rhetorik. Kurz und knackig dargestellt und exemplifiziert.

MfG
Binsenbrecher
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Binsenbrecher,
vielen Dank für deine Antwort. Es freut mich sehr, dass du mit dem Text was anfangen kannst. Ja, die "Gesprächssituation" ist gewollt gruselig. Mir geht es hier auch mehr um die Frage, als dass ich eine Antwort anbieten wollte. Könnte man wissen, dass die Welt nicht untergeht? Würde man es riskieren?

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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